VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 23.02.2010 - 6 A 1389/09.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 120] - asyl.net: M16712
https://www.asyl.net/rsdb/M16712
Leitsatz:

Im Iran kann bereits der Abfall vom moslemischen Glauben zur Verfolgungsgefahr führen, ohne dass es auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft ankommt (hier Zeugen Jehovas).

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Asylverfahren, Iran, Christen, Zeugen Jehovas, Qualifikationsrichtlinie, RL 2004/83/EG Art. 10, subjektive Nachfluchtgründe, Apostasie, Konvertiten,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Für die Frage, ob eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Gefahr einer erheblichen Verfolgung für Personen, die - wie die Klägerin - unverfolgt ihr Heimatland verlassen haben, besteht, wird es in der Regel darauf ankommen, ob sich der Schutzsuchende einer (Glaubens-) Gemeinschaft angeschlossen hat, für deren Mitglieder (bereits) eine Verfolgung im dargestellten Sinne erfolgt ist, beobachtet wurde oder als sicher erscheint. Dies ist bezüglich der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas bislang nicht ausreichend geklärt. Ob sie als christliche Glaubensgemeinschaft bezeichnet werden können, mag als streitig gewertet werden (vgl. zum Status und zur Geschichte der Religionsgemeinschaft: BVerfG, Urteil vom 19.12.2000 - 2 BvR 1500/07 -, BVerfGE 102. 370; BVerwG, Urteil vom 26.06.1997 - 7 C 11.96 -, BVerwGE 105, 117 und - nachgehend zur Zurückverweisung - vom 17.05.2001 - 7 C 1.01 -, NVwZ 2001, 924), ist hierbei indes nicht von Belang. Das Auswärtige Amt führt im Lagebericht Iran (vom 23.02.2009, S. 25) lediglich aus, die Zeugen Jehovas hätten im Iran etwa 1000 Anhänger, würden nicht öffentlich in Erscheinung treten und es lägen keine Informationen über staatliche Repressalien vor. Weitere aktuelle Dokumente über eine eventuelle Verfolgung von Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft als solcher oder ihrer Mitglieder und Anhänger im Iran liegen nicht vor.

Die Prognose, ob und unter welchen Umständen einem konvertierten Moslem im Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren drohen, kann indes nicht nur auf die Gruppe abstellen, deren sich der Flüchtlingsschutzsuchende angeschlossen hat, vielmehr sind zuvorderst bzw. auch individuelle Gefährdungen zu beachten. Nach dem dargestellten Verständnis der aktuellen Politik der Regierung Ahmadinejad und dem Inhalt der dem iranischen Gesetzgebungsorgan vorgelegten Gesetzesentwürfe zur Strafbarkeit des Glaubenswechsels ist jede Abwendung von dem "rechten Glauben" frevelhaft und strafwürdig, ohne dass es auf die konkrete Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft ankommt. In das Blickfeld der staatlichen Behörden geraten damit nicht nur missionierende Christen bzw. Personen, die in der Öffentlichkeit besonders aktiv sind - seien es Angehörige der im Iran seit Alters her bestehenden christlichen Gemeinden oder neuer Gemeinden -, sondern gerade zum Christentum konvertierte Muslime (vgl. Auswärtige Amt, Lagebericht vom 23.02.2009, S. 23). Abzustellen ist somit im Wesentlichen auf das Moment des Glaubenswechsels weg vom Islam. Es kommt nicht entscheidend darauf an, zu welcher christlichen Glaubensrichtung (katholisch, evangelisch, freikirchlich oder auch Sondergruppen) sich die jeweilige Person hält, sondern darauf, dass sie den islamischen Glauben zugunsten einer anderen, auch einer theistischen, Glaubensrichtung aufgegeben hat. Hierzu führt der Gutachter Brocks in der Auskunft vom 5. Juni 2008 (an Hess. VGH, S. 16 ff.) aus, dass nach Art. 225-2 der entworfenen Strafrechtsänderungsvorschriften der Abfall vom Glauben unter Strafe gestellt wird, sofern er ernsthaft und vorsätzlich geschieht. Einschränkend sei, so der Gutachter auf S. 23 f. weiter, nach althergebrachtem koranischen Verständnis kein Abfall vom Glauben zwar dann gegeben, wenn eine Hinwendung zum Christentum oder zum jüdischen Glauben erfolge, da diese Glaubensgemeinschaften als Religionen "des Buches" gelten würden; "Unglauben" also nur bei Verleugnung Gottes oder Übertritt in eine andere Religion vorliege. Allerdings werde im alltäglichen Verständnis diese Sichtweise nicht geteilt, sondern bei jedem Fall von Glaubenswechsel generell von "Ungläubigen" gesprochen. Daher resultiere gerade aus dem Umstand, dass sich ein Muslim einer anderen Religion zuwende, eine erhebliche Gefahr ab dem Zeitpunkt, in dem dieses Geschehen für andere erkennbar werde. Eine solche erkennbar nach außen sich manifestierende Lösung vom Islam kann in der jeweiligen, den Regeln der Religionsgruppe entsprechenden Aufnahme zu sehen sein, etwa in einer Taufe. Daher sind Angehörige der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas jedenfalls dann in gleicher Weise zu den verfolgungsgefährdeten Personen zu rechnen wie der Personenkreis, dem nach den Ausführungen des Senats im Urteil vom 28. Januar 2009 ein Eingriff in Leib, Leben oder Freiheit droht, wenn sie sich nach außen hin erkennbar ernstlich vom muslimischen Glauben abgewandt haben. [...]