VG Freiburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 25.02.2010 - A 4 K 1703/08 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 131 f.] - asyl.net: M16715
https://www.asyl.net/rsdb/M16715
Leitsatz:

Zum Wiederaufgreifen eines Rücknahmeverfahrens. Der gerichtlich bestätigte Rücknahmebescheid vom 26.1.1999 ist wegen der Vorlage neuer Beweismittel aufzuheben; das BAMF wird verpflichtet, das Rücknahmeverfahren wiederaufzugreifen und unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Schlagwörter: Rücknahmebescheid, Asylverfahren, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Ermessensfehler, unrichtige Angaben, AsylVfG § 77 Abs. 1 S. 1
Normen: VwVfG § 51, VwVfG § 48 Abs. 1 S. 1, VwVfG § 49 Abs. 1, AsylVfG § 5 Abs. 1, AsylVfG § 73 Abs. 2
Auszüge:

[...]

2.2 Die Beklagte bzw. das Bundesamt ist zur Entscheidung über den Antrag auf Wiederaufgreifen des abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens mit dem Ziel der Aufhebung des Rücknahmebescheids vom 26.01.1999 auch materiell-rechtlich verpflichtet, da die Voraussetzungen des § 51 VwVfG hierfür vorliegen.

Maßgeblich für die Rücknahme der Asylanerkennung und der positiven Feststellung zu § 51 Abs. 1 AufenthG waren ausweislich der Akten über das mit Erlass des Rücknahmebescheids vom 26.01.1999 abgeschlossene Verwaltungsverfahren des Bundesamts zwei Gründe, zum einen die Annahme, die Klägerin habe darüber getäuscht, dass die Kinder ... von ihr abstammten, und zum anderen der Vorwurf, die Klägerin habe über ihre Zugehörigkeit zur jezidischen Glaubensgemeinschaft getäuscht. Diese beiden Gründe bildeten die Grundlage für die Annahme des Bundesamts, die Klägerin habe in ihrem vorangegangenen Asylverfahren unrichtige Angaben gemacht, und damit für die Bejahung der (Rücknahme-)Voraussetzungen in § 73 Abs. 2 AsylVfG.

2.2.1 Mit Stellung ihres Antrags vom 25.09.2006 hat die Klägerin jedoch neue Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG vorgelegt, die (im Verfahren über die Rücknahme ihrer Asylanerkennung und der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG) eine für sie günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Es handelt sich dabei zum einen um ein DNA-Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin des Klinikums der Universität Heidelberg vom 28.06.2006, das beweist, dass sie die Mutter der Kinder ... ist. Zum anderen hat sie eine Stellungnahme des Azad Baris, eines in Asylverfahren bekannten und bewährten Sachverständigen zur Fragen des jezidischen Glaubens in der Türkei, vom 26.07.2006 vorgelegt, aus der sich mit nachvollziehbarer und substantiierter Begründung ergibt, dass sowohl die Klägerin als auch ihr Ehemann jeweils einer traditionell dem jezidischen Glauben verhafteten Familie entstammen. Damit hat sie alles ihr Mögliche getan, um das Bundesamt davon zu überzeugen, dass sie in ihrem ursprünglichen Asylverfahren, in dem sie als Asylberechtigte anerkannt und in dem zu ihren Gunsten die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG getroffen wurde, nicht unrichtige Angaben gemacht hat. Hätten diese Gutachten bzw. Stellungnahmen und die darin vermittelten Erkenntnisse dem Bundesamt bereits im Verfahren über die Rücknahme des Asyl- bzw. Schutzstatus vorgelegen, hätte das Bundesamt (bei rechtmäßigem Vorgehen) vom Erlass des Rücknahmebescheids vom 26.01.1999 abgesehen, da zumindest eine der Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 AsylVfG, das Machen unrichtiger Angaben bzw. das Verschweigen wesentlicher Tatsachen, dann nicht zu begründen gewesen wäre. Dabei ist von Bedeutung, dass die Asylanerkennung und die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, ausweislich der Begründung des (Anerkennungs-)Bescheids des Bundesamts vom 04.07.1996, nur wegen der jezidischen Religionszugehörigkeit der Klägerin ausgesprochen wurden. Diese Annahme beruhte ausweislich der Akten allein auf den Angaben der Klägerin in ihrer Anhörung beim Bundesamt vom 03.06.1996. Dort hatte die Klägerin zu keinem Zeitpunkt behauptet, eine (im täglichen Leben) streng gläubige Jezidin zu sein und alle Glaubensrituale im täglichen Leben zu praktizieren. Sie gab lediglich an, sie und ihr Ehemann seien Jeziden. Darüber hinaus beantwortete sie nur die ihr gestellten Fragen zur jezidischen Religionsdogmatik und den wesentlichen Glaubensritualen ihrer Religion. Nachdem nun aufgrund der genannten Stellungnahme des Azad Baris feststeht, dass die Klägerin und ihr Ehemann - ungeachtet der Intensität, mit der sie ihren Glauben leben - tatsächlich eine jezidische Familientradition haben und selbst Jeziden sind, steht fest, dass die Klägerin insoweit zu keinem Zeitpunkt unrichtige Angaben gemacht oder wesentliche Tatsachen verschwiegen hat. Dass die von der Klägerin vorgelegten Gutachten bzw. Stellungnahmen neue Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG sind, wird offenkundig auch vom Bundesamt so gesehen, da es nach der Begründung seines (angefochtenen) Bescheids vom 22.08.2008 die von der Klägerin vorgelegten neuen Beweismittel zum Anlass für eine erneute materielle Prüfung des Antrags der Klägerin, wenngleich fälschlicherweise als Asylfolgeantrag (siehe oben 1.1), und damit für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens genommen hat. [...]

2.2.3 Der Wiederaufnahme des mit dem Rücknahmebescheid des Bundesamts vom 26.01.1999 äbgeschlossenen Verwaltungsverfahrens steht auch nicht die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 08.11.2001 - A 5 K 10164/99 - entgegen, mit dem die Klage der Klägerin gegen den Rücknahmebescheid des Bundesamts vom 26.01.1999 abgewiesen wurde. Denn bei Vorliegen eines (zwingenden) Wiederaufnahmegrunds nach § 51 Abs. 1 VwVfG und der sonstigen Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG - wie hier (siehe oben 1.3 und 1.4) - ist die erforderliche gesetzliche Grundlage zur Überwindung der Rechtskraftbindung erfüllt (BVerwG, Urteile vom 22.10.2009 - 1 C 15/08 -, a.a.O., und vom 22.10.2009 - 1 C 26/08 -; Fricke, Juris-PraxisReport-Bundesverwaltungsgericht - jurisPR-BVerwG - 3/2010; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 30.04.2008, VBlBW 2009, 32).

2.3 Aufgrund dieser aus § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG folgenden (zwingenden) Verpflichtung zum Wiederaufgreifen des mit Rücknahmebescheid vom 26.01.1999 bestands- bzw. rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens hat die Beklagte die (weitere) Verpflichtung, über die Rücknahme bzw. den Widerruf des Rücknahmebescheids des Bundesamts vom 26.01.1999 zu entscheiden. Auf dieser (zweiten) Stufe ist das Bundesamt nicht auf die in den §§ 48 Abs. 1 Satz 1 und 49 Abs. 1 VwVfG normierten Möglichkeiten der Aufhebung des Verwaltungsakts ex tunc oder ex nunc beschränkt, sondern es hat zu entscheiden, ob der Rücknahmebescheid vom 26.01.1999 zurückgenommen, geändert oder im Wege eines Zweitbescheids bestätigt werden soll (BVerwG, Urteil vom 22.10.2009 - 1 C 15/08 -, a.a.O., m.w.N.). Diese Entscheidung steht - u.a. auch nach dem klaren Wortlaut der §§ 48, 49 VwVfG - im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde (BVerwG, Urteil vom 22.10.2009 - 1 C 26/08 -. a.a.O.; Fricke, a.a.O.; vgl. auch Kopp/Ramsauer. a.a.O, § 48 RdNrn. 77 ff. und § 49 RdNr. 23). Da es dem Gericht grundsätzlich verwehrt ist, anstelle der Behörde Ermessen auszuüben (Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 114 RdNrn. 4 ff.), kommt eine (vom Antrag der Klägerin auch gar nicht umfasste) Verpflichtung der Beklagten nicht in Betracht. Da die Beklagte insoweit kein Ermessen ausgeübt hat, ist die Sache nicht spruchreif im Sinne des § 113 Abs. 5 VwGO (Kopp/Schenke, a.a.O., § 113 RdNrn. 194 ff.). Anhaltspunkte dafür, dass der Ermessensspielraum der Beklagten hier zu Gunsten oder zu Ungunsten der Klägerin auf Null reduziert wäre, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Aus diesem Grund ist die Beklagte zur Neubescheidung - hier, da über den spezifischen Antrag der Klägerin bislang noch gar nicht entschieden wurde (siehe oben 1.1), genauer: zur erstmaligen Bescheidung - des Antrags der Klägerin auf Aufhebung des Rücknahmebescheids des Bundesamts vom 26.01.1999 verpflichtet.

Der Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung des von der Klägerin gestellten Antrags auf rückwirkende Aufhebung des Rücknahmebescheids des Bundesamts vom 26.01.1999 steht auch nicht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts über die grundsätzliche Unzulässigkeit einer Zurückweisung an das Bundesamt entgegen (vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998, NVwZ 1998, 861). Denn diese Rechtsprechung betrifft allein die Besonderheiten, die sich bei einer Entscheidung über einen Asyl- bzw. Asylfolgeantrag im Sinne des § 13 Abs. 1 und 2 AsylVfG ergeben. [...]

Dass es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheids des Bundesamts vom 26.01.1999 auf die Gegenwart und nicht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seines Erlasses (oder des Urteils vom 08.11.2001 - A 5 K 10164/99 -) ankommt, ergibt sich aus der in asylrechtlichen Streitigkeiten allgemein geltenden Vorschrift in § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Aber selbst wenn § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht anwendbar wäre, müsste man von der Rechtswidrigkeit des Rücknahmebescheids vom 26.01.1999 ausgehen, weil man auch bei einer auf den Zeitpunkt des Erlasses des Rücknahmebescheids des Bundesamts vom 26.01.1999 bezogenen Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieses Bescheids die Tatsache, dass sich die Annahme unrichtiger Angaben bzw. des Verschweigens wesentlicher Tatsachen und damit wesentlicher Tatbestandsvoraussetzungen für eine Rücknahmeentscheidung aufgrund der Vorlage neuer Beweismittel im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG als unzutreffend erwiesen hat, nicht unberücksichtigt lassen kann.

Der Rücknahmebescheid des Bundesamts vom 26.01.1999 erweist sich auch nicht deshalb als rechtmäßig, weil das Bundesamt die Rücknahme der Asylanerkennung der Klägerin und der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (neben § 73 AsylVfG) auch auf § 48 VwVfG hätte stützen können (zur Anwendbarkeit von § 48 VwVfG neben § 73 AsylVfG siehe BVerwG, Urteil vom 19.09.2000, NVwZ 2001, 335; Wolf. in: Hofmann/Hofmann; a.a.O., § 73 RdNrn. 5. ff.). Denn dies hätte in jedem Fall eine Ermessensentscheidung vorausgesetzt. Das Bundesamt hatte sich aber ausweislich der Begründung seines Bescheids vom 26.01.1999 aufgrund der von ihm allein als Rechtsgrundlage herangezogenen Vorschrift des § 73 Abs. 2 AsylVfG für gebunden gehalten.

Die Rücknahme der Asylanerkennung der Klägerin und der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG kann auch nicht mit dem Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG (statt der Rücknahmevoraussetzungen in § 73 Abs. 2 AsylVfG) gerechtfertigt werden. Zwar sind sowohl die Rücknahmeentscheidung nach § 73 Abs. 2 AsylVfG als auch die Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG prinzipiell auf dieselbe Rechtsfolge, nämlich auf Aufhebung der Asylanerkennung bzw. der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, gerichtet und es handelt sich bei beiden Maßnahmen auch um gebundene Verwaltungsentscheidungen, so dass ein Gericht unabhängig von der behördlichen Begründung, und ohne dass insoweit die Voraussetzungen für eine Umdeutung nach § 47 Abs. 1 VwVfG vorliegen müssten, von sich aus zur Prüfung verpflichtet wäre, ob die Rücknahmeentscheidung mit dem objektiven Recht, also entweder mit § 73 Abs. 1 oder Abs. 2 AsylVfG, in Einklang steht (siehe hierzu BVerwG, Urteil vom 24.11.1998. NVwZ 1999, 302, m.w.N.; VG Freiburg, Urteil vom 22.10.2009 - A 4 K 1715/09 - m.w.N.). Doch liegen im vorliegenden Fall auch die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht vor. Denn § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG setzt voraus, dass sich die Sach- oder Rechtslage seit der Asylanerkennung und/oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wesentlich verändert hat (siehe u.a. Schäfer, in: GK-AsylVfG, a.a.O., § 73 RdNrn. 26 ff. m.w.N.). Insofern fehlt es im vorliegenden Fall aber an jeglichen Anhaltspunkten. Auch das Bundesamt hat deshalb aus nahe liegenden Gründen eine Anwendung des § 73 Abs. 1 AsylVfG bis heute nicht in Erwägung gezogen. [...]