LG München II

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Zitieren als:
LG München II, Urteil vom 11.03.2009 - 8 Ns 26 Js 6425/08 - asyl.net: M16741
https://www.asyl.net/rsdb/M16741
Leitsatz:

Keine Strafbarkeit der Weigerung zur Abgabe einer sog. Freiwilligkeitserklärung. Das Ansinnen, dass sich jemand zur Erreichung eines bestimmten Zweckes - hier der Passbeschaffung - der Lüge bedienen muss, ist eine Zumutung und damit das Gegenteil von "zumutbar". Zur Überzeugung der Kammer ist es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar, einen nach Deutschland gekommenen Ausländer mit (u.U. freiheitsentziehender) Strafverfolgung zu belegen, weil er nicht lügt.

Siehe zur nächsten Instanz OLG München v. 9.3.2010 (M16740).

Schlagwörter: Strafrecht, unerlaubter Aufenthalt, Freiheitsstrafe, Freispruch, Pass, Passpflicht, Freiwilligkeitserklärung, Lüge, Zumutbarkeit, Mitwirkungspflicht
Normen: AufenthG § 3 Abs. 1, AufenthG § 48 Abs. 2, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Der Angeklagte war freizusprechen, da die zur Passerlangung unerlässliche und vom Angeklagten geforderte Freiwilligkeitserklärung - weil für den Angeklagten eine Lüge - unzumutbar ist.

Nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz wird bestraft, wer entgegen § 3 Abs. 1 i.V.m. § 48 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz sich im Bundesgebiet aufhält, ohne im Besitz eines erforderlichen Passes oder Passersatzes zu sein. Ein Ausländer, der einen Pass weder besitzt noch in zumutbarer Weise erlangen kann, genügt der Ausweispflicht gemäß § 48 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz mit der Bescheinigung über einen Aufenthaltstitel oder die Aussetzung der Abschiebung, wenn sie mit den Angaben zur Person und einem Lichtbild versehen und als Ausweisersatz bezeichnet ist.

Nach § 95 Abs. 1 macht sich strafbar nur, wer zumutbare Anstrengungen zur Erlangung eines Passes oder Ausweisersatzes unterlässt und daraufhin passlos bleibt. Falls die Bemühungen zur Erlangung eines Reisepasses unzumutbar sind oder nicht zum Erfolg führen, muss es genügen, wenn der Ausländer einen Anspruch auf einen deutschen Ausweisersatz besitzt, wobei in der Verwaltungspraxis ein solcher Anspruch anerkannt ist, wenn der Ausländer ein Passdokument nicht in zumutbarer Weise erlangen kann. Den Besitz eines Passes oder Passersatzes steht daher - verfassungsrechtlich nicht geboten, aber von der Rechtsprechung anerkannt - der Anspruch eines Ausländers auf einen Ausweisersatz gleich, falls er einen Aufenthaltstitel besitzt oder seine Abschiebung ausgesetzt ist (vgl. auch BVerfG Beschluss vom 12.9.2005 - 2 BvR 1361/05 mwN, LG Freiburg InfAuslR 2004, 258, Leoppold/Vallone ZAR 2005, 66ff.).

Nach dem festgestellten Sachverhalt wird ein Antrag auf Aufstellung eines iranischen Reisepasses nur angenommen, wenn der Angeklagte eine sogenannte Freiwilligkeitserklärung abgibt. Der Angeklagte weigert sich indes, eine solche abzugeben, weil sie nicht der Wahrheit entspricht. Er fühlt sich im Iran verfolgt und hat Sorge, dort mit Repressalien zu rechnen. Freiwillig gehe er keinesfalls in sein Heimatland zurück. Die abzugebende Freiwilligkeitserklärung wäre daher für den Angeklagten eine Lüge.

Ob die Abgabe einer unrichtigen Freiwilligkeitserklärung noch zumutbar ist, wird kontrovers diskutiert. Ein Teil der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (z.B. zu §§ 25 Abs. 5 und 49 Abs. 2 AufenthaltsG, § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG; vgl. Niedersächsisches OVG NVwZ 2003, Beil. 17, S.54; OVG Rheinland-Pfalz NVwZ-RR 2007, 494; BayVGH Beschluss vom 28.9.2007 - 19 ZB 07.1163; a.A. Sächsisches OVG, Beschluss vom 21.6.2007 - A 2 B 258/06) und der Sozialgerichte (vgl. z.B. LSG NRW Beschluss v. 29.1.2007 - L20 B 69/06) hat die Auffassung vertreten, es sei jedenfalls einem rechtskräftig abgelehnten Asylbewerber zumutbar, die Freiwilligkeitserklärung abzugeben. Ein Ausländer sei verpflichtet, an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken, von dieser Pflicht sei die Abgabe der zur Beschaffung von Heimreisedokumenten von den jeweiligen Vertretungen des Heimatstaates geforderten und mit deutschem Recht in Einklang stehenden Erklärungen umfasst.

Dem gegenüber vertreten die mit Strafsachen befassten ordentlichen Gerichte jedenfalls überwiegend die Auffassung, dass die Abgabe einer unrichtigen Freiwilligkeitserklärung nicht mehr zumutbar sei (OLG Nürnberg, Urteil vom 16.01.2007, 2 St OLG SS 242/06; vgl. auch OLG Frankfurt, Beschluss vom 27.7.1999, InfAuslR 1999, 465; OLG Köln NVwZ-RR 2007, 133; weitere Nachweise bei Melchior, Internet-Kommentar zur Abschiebungshaft (alt), Anhang d).

Letztgenannter Auffassung schließt sich die Kammer in vollem Umfang an.

Anerkannt ist, dass ein Ausländer einen Pass dann nicht in zumutbarer Weise erlangen kann, wenn ihm von seinen Heimatbehörden ein Pass verweigert wird oder wenn er einen solchen nicht in angemessener Zeit oder nur unter schwierigen Umständen erhalten kann. Dabei dürfen die Anforderungen zur Erlangung eines Passes nicht zu hoch angesetzt werden. Das Zumutbarkeitskriterium soll lediglich der Nachlässigkeit oder der Bequemlichkeit des Ausländers Einhalt gebieten (vgl. BayObLG StV 2005, 213).

Zwar ist es im Regelfall jedem Ausländer zuzumuten, bei dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er vor der Einreise in das Bundesgebiet seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, einen Pass zu beantragen. Wenn also ein Ausländer entgegen seiner Rechtspflicht nicht einmal zu einem Antrag auf Erteilung eines neuen Passes bereit ist, verbietet sich grundsätzlich die Annahme, ein solcher sei in zumutbarer Weise nicht zu erlangen. Auch allein der Umstand, dass der Angeklagte, wenn er einen Pass erlangt, mit seiner Abschiebung zu rechnen hätte, führt noch nicht zur Unzumutbarkeit. Wenn indes die Auslandsvertretung auf Anfragen nicht reagiert oder Anforderungen stellt, die billigerweise vom Antragsteller nicht erfüllt werden müssen, kommt eine Bewertung, dass die Erlangung eines Passes unzumutbar sei, in Betracht (vgl. BayObLG StV 2005, 213). Das Ansinnen, dass sich jemand zur Erreichung eines bestimmten Zweckes - hier der Passerlangung - der Lüge bedienen muss, ist eine Zumutung und damit das Gegenteil von "zumutbar". Dementsprechend kann es dem Angeklagten auch nicht angelastet werden, dass er sich bislang lediglich zweimal um die Ausstellung von Papieren bemüht hat, denn ohne eine für den Angeklagten unrichtige Freiwilligkeitserklärung wird ein Antrag des Angeklagten - wie die sachkundige Zeugin bekundete - gar nicht erst zur Bearbeitung angenommen.

Die Kammer verkennt nicht, dass das Asylverfahren gegen den Angeklagten rechtskräftig abgeschlossen ist, die vom Angeklagten geltend gemachten Gründe, nicht in den Iran zurückkehren zu wollen, also bestandskräftig als nicht tragfähig (nota: nicht als nicht zutreffend) zurückgewiesen worden sind. Insofern ist der Angeklagte gemäß § 48 AufenthaltsG, § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG i.V.m. § 49 Abs. 2 des AufenthaltsG verpflichtet, an der Beschaffung von Heimreisedokumenten mitzuwirken. Diese Mitwirkungspflicht umfasst aber nur solche Erklärung, die der Ermittlung der Identität und der Staatsangehörigkeit dient. Die - völkerrechtlich durchaus fragliche - Abgabe einer Erklärung über die Freiwilligkeit einer Ausreise gehört - zumal wenn unzutreffend - nicht zu den einem Ausländer obliegenden Mitwirkungspflichten (vgl. auch OLG Köln NVwZ-RR 2007, 133; OLG Celle vom 16.10.2003 bei Melchior, aaO.).

Selbst wenn man die Abgabe der Freiwilligkeitserklärung als eine von der Mitwirkungspflicht umfasste Obliegenheit ansieht, welche sich aus der Ausreisepflicht als solche ergeben könnte, so bleibt die abzugebende Erklärung für den Angeklagten inhaltlich eine Lüge. Die Erklärung, freiwillig in den Iran zurückkehren zu wollen, ist zwar nur formlos abzugeben und erschöpft sich im Grunde genommen in der Bekundung der Bereitschaft, der bestehenden Ausreisepflicht ohne staatlichen Zwang Folge leisten zu wollen. Gerade dies will der Angeklagte aber nicht. Sicher hat der Angeklagte (worauf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zurecht hinweist, vgl. z.B. OVG NRW, Urteil vom 18.06.2008, 17 A 2250/07) nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, die er zu akzeptieren hat, zumal das Funktionieren einer Rechtsordnung auch davon abhängt, dass getroffene Entscheidungen - hier die Bestandskraft der Ablehnung des Asylantrages - effektiv umgesetzt werden können.

Es geht vorliegend indes nicht - auf diesen Unterschied weist auch die genannte verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zur Begründung ihrer von den Strafgerichten abweichenden Auffassung hinweist - um die Gewährung von Leistungen, Vergünstigungen oder um Fragen der ausländerrechtlichen Anerkennung, sondern um die Frage, ob das Unterlassen einer Mitwirkungspflicht zu einer strafrechtlichen Sanktion - mit in letzter Konsequenz freiheitsentziehenden Maßnahmen - führen kann. Dabei ist einerseits zu sehen, dass § 95 Abs. 1 Nr. AufenthaltsG dem über die Frage des Aufenthaltsrechts hinausgehenden, eigenständigen - völkerrechtlich legitimen - Ziel dient, die Identität, Nationalität und auch die Rückkehrberechtigung eines sich im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers festzustellen. Insofern soll die Passpflicht auch verhindern, dass ausreisepflichtige Ausländer in Deutschland bleiben, weil sie ohne Ausweispapiere nicht in ihre Heimat abgeschoben werden können (vgl. BT-Drucks. 11/6321, 44). Andererseits fordert das Gesetz - namentlich das Ausländerstrafrecht - von einem nach Deutschland gekommenen Ausländer wahrheitsgemäße Angaben, in dem es z. B. unrichtige Angaben in den Fällen des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthaltsG und § 95 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 i. V. m. § 49 Abs. 1 AufenthaltsG ausdrücklich unter Strafe stellt. Es würde daher das Ausländerrecht konterkarieren, strafrechtlich sanktioniert die Abgabe unrichtiger Erklärungen zu verlangen. Es ist zur Überzeugung der Kammer mit rechtstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar, einen nach Deutschland gekommenen Ausländer mit (u.U. freiheitsentziehender) Strafverfolgung zu belegen, weil er nicht lügt. [...]