VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Beschluss vom 31.08.2009 - 7 L 38/09.GI - asyl.net: M16886
https://www.asyl.net/rsdb/M16886
Leitsatz:

Eine nicht primär der Inanspruchnahme der Dienstleistungsfreiheit dienende Einreise, mit der in Wahrheit ein Familiennachzug angestrebt wird, fällt nicht unter die Stillhalteklausel (ARB 1/80). Der Antragsteller hätte für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschlands eines Visums bedurft.

Schlagwörter: Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Tourist, Visumspflicht, Dienstleistungsfreiheit, Familiennachzug, Missbrauch des Gemeinschaftsrechts, Stillhalteklausel, türkische Staatsangehörige
Normen: AufenthG § 4, AufenthG § 14 Abs. 1, AufenthG § 6 Abs. 4, VO 539/2001/EG Art. 1 Abs. 1, EGV Art. 52
Auszüge:

[...]

Als türkischer Staatsangehöriger hätte der Antragsteller, wie ihm gegenüber bereits in der Befristungsverfügung des Antragsgegners vom 08.12.2008 hervorgehoben worden war, für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland eines Visums bedurft (Art. 1 Abs. 1 VO 539/2001/EG i. V. m. deren Anhang I). Entgegen der zur Antragsbegründung in Bezug genommenen im Schreiben der anwaltlichen Bevollmächtigten des Antragstellers vom 09.01.2009 (Bl. 5 f. d. A.) vertretenen Auffassung ergibt sich eine Befreiung des Antragstellers von der Visumspflicht nicht aus dem Assoziationsrecht zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Türkei (vgl. zum Folgenden: VG Frankfurt, 22.05.2009 - 7 K 3732/08.F - zit. n. LaReDa; VG Düsseldorf, 29.09.2003 - 7 L 3405/03 -, AuAS 2004, 3). Insbesondere folgt eine Visumfreiheit nicht aus Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 (BGBl.1972 II S. 385) zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (Zusatzprotokoll). Nach dieser am 01. Januar 1973 in Kraft getretenen Bestimmung verpflichten sich die Vertragsparteien untereinander, keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen (sog. Stillhalteklausel). Art. 41 Abs.1 Zusatzprotokoll verleiht zwar selbst kein Aufenthaltsrecht, bewirkt jedoch für bestimmte Konstellationen, dass die ausländerrechtliche Rechtslage zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls zugrunde zu legen ist, wenn und soweit diese günstiger ist als die gegenwärtige, wobei sich Betroffene unmittelbar auf diese Vorschrift berufen können (EuGH, 20.09.2007 - Rs. C-16/05 [Tum und Dari] -, InfAuslR 2007, 428 = EZAR-NF 19 Nr. 26 m. w. N.). Auf die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Art. 41 Abs.1 Zusatzprotokoll geltende deutsche Rechtslage, nach der türkische Staatsangehörige visumsfrei in die Bundesrepublik einreisen konnten, sofern sie nicht im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten, kann sich der Antragssteller indes nicht berufen. Hervorzuheben ist, dass Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll den Vertragsparteien nur neue Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs verbietet. Der Antragsteller ist indes kein Dienstleistungsempfänger im Sinne des Gemeinschaftsrechts. Sein Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist kein touristischer. Die passive Dienstleistungsfreiheit (Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat) ist nicht einschlägig, wenn sich jemand dauerhaft in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt, um dort für unbestimmte Zeit Dienstleistungen zu empfangen; die Dienstleistungsfreiheit ist nur einschlägig, wenn der tatsächliche Aufenthalt von einem touristischen Zweck geprägt wird und nicht in einen Daueraufenthalt umschlägt (VG Frankfurt, a.a.O. S. 5 des Ausdrucks m.w.N.). So ist es indes hier. Der Antragsteller erstrebt einen Daueraufenthalt mit seinen hier im Bundesgebiet zur Zeit lebenden Familienangehörigen (Frau und 4 Kinder). Ein derartiger Daueraufenthalt ist durch die Stillhalteklausel im Zusatzprotokoll nicht privilegiert (VG Düsseldorf, a.a.O.). Hinzu kommt, dass es seitens des einen Daueraufenthalt anstrebenden Antragstellers (siehe seinen Aufenthaltserlaubnisantrag vom 09.01.2009 und die Ausführungen auf S. 3 der Antragsschrift vom 13.01.2009) einen Missbrauch des Gemeinschaftsrechts darstellt, sich auf Vergünstigungen für die für ganz andere Zwecke eingeräumte passive Dienstleistungsfreiheit zu berufen. Auch nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich in vorliegendem Zusammenhang jemand nicht auf das Gemeinschaftsrecht berufen, wenn er dies in betrügerischer oder missbräuchlicher Absicht tut (EuGH, a.a.O., Rz. 64 m.w.N.). Aus der ebenfalls von der Stillhalteklausel erfassten Niederlassungsfreiheit vermag der Antragsteller nichts für sich abzuleiten, weil er nicht die Aufnahme und Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit oder die Gründung und Leitung eines Unternehmens beabsichtigt. Nur derartige Betätigungen werden aber von der Niederlassungsfreiheit des Art. 52 EGV erfasst.

Eine nicht primär der Inanspruchnahme der Dienstleistungsfreiheit dienende Einreise, mit der in Wahrheit ein Familiennachzug angestrebt wird, wie sie der Antragsteller nach dem sich aus den Behördenakten ergebenen Gesamtbild vorgenommen hat, fällt nach alledem nicht unter die Stillhalteklausel (vgl. auch GK-AufenthG [Dezember 2008] § 14 AufenthG Rdnr. 13.3). [...]