LSG Berlin-Brandenburg

Merkliste
Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 01.04.2010 - L 14 AS 418/10 B ER u.a. - asyl.net: M16962
https://www.asyl.net/rsdb/M16962
Leitsatz:

Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für polnische Staatsangehörige, die wegen Krankheit ihre selbständiger Erwerbstätigkeit aufgeben musste.

Schlagwörter: SGB II, Unionsbürger, polnische Staatsangehörige, Arbeitserlaubnis, freizügigkeitsberechtigt, vorläufiger Rechtsschutz, Freizügigkeitsbescheinigung, selbständige Erwerbstätigkeit
Normen: SGG § 86b Abs. 2, FreizügG/EU § 5, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, SGB II § 7 Abs. 3 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Zu Unrecht hat das Sozialgericht abgelehnt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren. [...]

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 7 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) erhalten Personen, die

1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben,

2. erwerbsfähig sind,

3. hilfebedürftig sind und

4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben

(erwerbsfähige Hilfebedürftige – § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Die Antragstellerin ist im erwerbsfähigen Alter, sie hat glaubhaft gemacht, dass sie sich seit Mai 2006 in der Bundesrepublik Deutschland aufhält und hilfebedürftig ist. Dass ihr Aufenthalt als erlaubt anzusehen ist, ergibt sich aus den von ihr vorgelegten Bescheinigungen entsprechend § 5 FreizügG/EU.

Die Antragstellerin ist auch erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II. Nach § 8 Abs. 2 SGB II können Ausländer nur erwerbsfähig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Die Antragstellerin kann sich – auch als Angehörige des zum 1. Mai 2004 der Europäischen Union neu beigetretenen Staates Polen - uneingeschränkt auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen, da ihr mit Wirkung vom 11. Mai 2009 an – und damit vor Beginn des hier streitigen Zeitraumes – entsprechend § 284 des Sozialgesetzbuchs Drittes Buch – SGB III - die dafür erforderliche Arbeitsberechtigung-EU erteilt worden ist. Für einen Widerruf dieser Berechtigung ist nichts ersichtlich.

Der Leistungsanspruch entfällt auch nicht zwingend aufgrund der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sind. Es ist nämlich nicht zweifelsfrei, dass sich ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin "allein aus dem Zweck der Arbeitssuche" ergeben kann. Nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügigG/EU bleibt das Recht für Arbeitnehmer und selbständige Erwerbstätige auf Einreise und Aufenthalt unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Die Antragstellerin hat im Verwaltungsverfahren nicht nur vorgetragen – wie von Antragsgegner bei der Bewilligung von Leistungen für einen Zeitraum von sechs Monaten auch berücksichtigt wurde, vgl. § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU - dass sie von März bis September 2007 als Bedienung selbständig erwerbstätig war, sondern auch eine Gewerbeanmeldung für die Zeit von Juni 2006 bis Januar 2007 vorgelegt. Zusammengerechnet würde so der Mindestzeitraum von einem Jahr selbständiger Erwerbstätigkeit erreicht. Darüber hinaus verfügt sie seit dem 4. Februar 2010 wieder über eine Gewerbeerlaubnis, die darauf schließen lässt, dass die Antragstellerin wieder erwerbstätig ist, aber ergänzende Leistungen von dem Antragsgegner benötigt. Angesichts der Tatsache, dass die Antragstellerin seit nahezu vier Jahren ununterbrochen in Deutschland lebt und bisher offenbar nur in dem Zeitraum vom 22. Juni bis 21. Dezember 2009 staatliche Sozialleistungen bezogen hat, kann auch nicht ohne weiteres widerlegt werden, dass sie tatsächlich selbständig gewesen ist, Einkommen erzielt hat und wieder erzielt. Für eine unfreiwillige Unterbrechung der Selbständigkeit spricht, dass die Antragstellerin jedenfalls seit September 2007 in ärztlicher Behandlung steht und die Erkrankung jedenfalls zeitweise offenbar zur Arbeitsunfähigkeit führt. Nähere Ermittlungen über Umfang, Dauer und Höhe der Einkünfte aus der selbständigen Erwerbstätigkeit und die Gründe der Unterbrechung müssen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Danach war der Antragsgegner dem Grunde nach im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren. Der Endzeitpunkt für die Verpflichtung des Antragsgegners ist in Anlehnung an den Regelbewilligungszeitraum von sechs Monaten (§ 41 SGB II) auf den 30. April 2010 bestimmt worden. Der Bescheid vom 14. Oktober 2009 umfasste den zeitlichen Rahmen vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010. Im erstinstanzlichen Verfahren hat die Antragstellerin auch nur Leistungen bis zum 30. April 2010 geltend gemacht. Das ist im Beschwerdeverfahren zwar nicht mehr so aufgegriffen worden. Im Hinblick auf die zeitliche Begrenzung des Bescheides vom 14. Oktober 2009 sieht der Senat aber nur einen Regelungsbedarf bis zum 30. April 2010.

Indessen konnten Leistungen erst ab dem Tag gewährt werden, an dem die Beschwerde bei dem Landessozialgericht eingegangen ist. Maßgebend für den Erfolg eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind – auch im Beschwerdeverfahren – in der Regel die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschluss des erkennenden Senats v. 4. September 2009 – L 14 AS 1063/09 B ER; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg vom 18. Oktober 2007 – L 28 B 1637/07 AS ER, zitiert nach juris; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Rdnrn. 165, 166 m.w.N. zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Denn in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ist ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) nämlich darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil schwere und unzumutbare Nachteile drohen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 ). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, wenn diese Dringlichkeit nur vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat. Denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Die Antragstellerin hat nichts Substantiiertes dafür vorgetragen, warum sie gegenwärtig noch unter dem Ausbleiben von in der Vergangenheit zu gewähren gewesenen Leistungen leidet. Der Senat hat den Beginn der Verpflichtung des Antragsgegners aber auf den Tag des Eingangs der Beschwerde bei dem Beschwerdegericht – statt dem des Ergehens der Beschwerdeentscheidung – gelegt, damit die Dauer des Beschwerdeverfahrens keine negativen Folgen für die Antragstellerin mit sich bringt. [...]