VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.01.2010 - A 5 S 96/08 - asyl.net: M16992
https://www.asyl.net/rsdb/M16992
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für Kleinkinder wegen Extremgefahr (vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil v. 19.1.2010 - A 5 S 63/08 - M16628).

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Demokratische Republik Kongo, Kleinkind, Sperrwirkung, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Malaria, medizinische Versorgung, menschenrechtlicher Mindesstandard
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3
Auszüge:

[...]

Im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) liegt beim Kläger hinsichtlich der D.R. Kongo kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn für ihn dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies kann beim Kläger nicht festgestellt werden, da er sich nicht auf individuelle, gerade ihm drohende Gefahren, sondern lediglich auf solche beruft, denen die dortige Bevölkerung bzw. die Bevölkerungsgruppe, der er angehört, allgemein ausgesetzt ist, und insoweit die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG eingreift. So begehrt der Kläger Abschiebungsschutz im Hinblick auf die typischen Folgen der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen in der D.R. Kongo (mangelhafte Versorgungslage, unzureichendes Gesundheitssystem, Arbeitslosigkeit) wie Unterernährung, Krankheit und Tod. Derartige Gefahren sind indessen bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Insofern soll Raum sein für ausländerpolitische Entscheidungen, was die Anwendbarkeit von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann grundsätzlich sperrt, wenn solche Gefahren den einzelnen Ausländer zugleich in konkreter und individualisierbarer Weise betreffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324). [...] Insofern kann schließlich dahinstehen, ob als maßgebliche Bevölkerungsgruppe, der diese Gefahren generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohten, (Klein-)Kinder bis zum Erreichen eines bestimmten ähnlichen Alters in der D.R. Kongo insgesamt oder lediglich die in Europa geborenen und zumindest in den ersten Lebensjahren dort aufgewachsenen (Klein-)Kinder anzusehen sind. Im erstgenannten Fall ergäbe sich die grundsätzlich jedem (Klein-)Kind aus der Gruppe drohende erhebliche Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG aus statistischen Erkenntnissen. Die vom Kläger angenommene Verstärkung dieser Gefahr für aus Europa zurückkehrende (Klein-)Kinder änderte an der Sperrwirkung nichts, da es sich auch insoweit nur um typische Auswirkungen einer allgemeinen Gefahr handelte (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.12.1998, a.a.O., BVerwGE 108, 77 82 f.>). Würde hingegen allein auf die Gruppe der aus Europa zurückkehrenden kongolesischen (Klein-)Kinder abgestellt, drohte diesen ebenfalls eine allgemeine Gefahr wegen der dortigen schlechten Lebensverhältnisse. Welche Folgerungen daraus für sämtliche in Deutschland geborenen (Klein-)Kinder kongolesischer Staatsangehörigkeit zu ziehen wären, bedürfte gleichfalls einer politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Soweit der Kläger geltend macht, einer Bevölkerungsgruppe in der D.R. Kongo schon deshalb nicht anzugehören, weil er in Deutschland geboren sei, geht dies fehl. § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zielt auf Gefahren, welchen der Ausländer, würde er in den betreffenden Staat abgeschoben, dort ausgesetzt wäre; insofern gehörte der Kläger dann aber ersichtlich der Bevölkerungsgruppe der (aus Europa zurückgekehrten) kongolesischen Kinder an. [...]

Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG wird hier auch nicht ausnahmsweise aus verfassungsrechtlichen Gründen überwunden.

Solches wäre nur der Fall, wenn der Ausländer im Zielstaat landesweit einer extrem zugespitzten allgemeinen Gefahr dergestalt ausgesetzt wäre, dass er "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert" würde (st. Rspr. des BVerwG, vgl. Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 u. v. 19.11.1996 - 1 C 6.95 -, BVerwGE 102, 249 zu § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG u. Beschl. v. 14.11.2007 - 10 B 47.07 - zu § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Damit sind nicht nur Art und Intensität der drohenden Rechtsgutsverletzungen, sondern auch die Unmittelbarkeit der Gefahr und ihr hoher Wahrscheinlichkeitsgrad angesprochen (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.11.1996 - 1 C 9.95 -, BVerwGE 102, 249). [...]

Eine Extremgefahr infolge der schlechten Lebensbedingungen in der D.R. Kongo lässt sich vor diesem Hintergrund für den Kläger nicht feststellen. Sie lässt sich insbesondere nicht schon aus den - zudem gegenüber 2000 weiter rückläufigen - einschlägigen statistischen Sterberaten der Weltgesundheitsorganisation (vgl. World Health Statistics 2009, S. 37) für Kinder unter fünf Jahren (161/1.000 Lebendgeburten) bzw. Erwachsene (zwischen 15 und 60 Jahren, 357/1.000) herleiten, da diese lediglich belegen, dass die allgemeinen Lebensverhältnisse in einem Land sehr schlecht sind. Dies ist umso weniger gerechtfertigt, als die Sterberaten auf den Gesamtstaat bezogen sind, sich die Situation in den Städten, namentlich in Kinshasa, jedoch besser darstellt (vgl. AA, Bericht v. 14.05.2009). Die Einzelfallprognose, dass sich diese Situation für den einzelnen Ausländer im Sinne einer Extremgefahr für Leib und Leben zuspitzt, kann jedoch in aller Regel nicht allein auf rein statistische Aussagen gestützt werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.11.1996, a.a.O.; Beschl. v. 23.03.1999, a.a.O.). Eine solche Prognose setzt vielmehr zunächst voraus, dass die unterschiedlichen Risikofaktoren, auf die sich die statistischen Daten zurückführen lassen, ermittelt und in ihrer Bedeutung für den Eintritt der Gefahr gewichtet werden. Es kommt dann entscheidend darauf an, welche Risikofaktoren mit welchem Gewicht und welcher Sicherheit gerade auf die konkrete Lebenssituation des einzelnen Ausländers zutreffen und ob gegebenenfalls Ausweichmöglichkeiten bestehen. Je geringer die auf eine spezifische Gefahrenlage bezogene statistische Sterbequote und je länger der Zeitraum ist, auf den sich die Aussage bezieht, desto eindeutiger muss die Feststellung möglich sein, dass gerade der einzelne Ausländer bestimmten, für die Sterberate ausschlaggebenden und für ihn unausweichlichen Risikofaktoren unterliegt und umgekehrt. Ausgehend von diesen Grundsätzen, die bereits den Urteilen des erkennenden Gerichtshofs vom 13.11.2002 - A 6 S 967/01 - und vom 24.07.2003 - A 6 S 971/01 -) zugrunde gelegt wurden, hat der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz.

Jene Voraussetzungen einer extremen Gefahrenlage liegen im Falle des Klägers weder im Hinblick auf die allgemeine Versorgungslage noch im Hinblick auf das Gesundheitswesen in der D.R. Kongo vor. Maßgeblich sind insoweit allein die (relativ günstigeren) Verhältnisse im Raum Kinshasa, wohin allein Abschiebungen vorgenommen werden und wo die Eltern des Klägers auch zuletzt wohnhaft waren. Auf die besonders schwierigen Verhältnisse in den vor allem seit August 2007 durch bürgerkriegsähnliche Zustände gekennzeichneten Ostprovinzen Nord- und Südkivu kommt es daher nicht an. [...]

Danach kann aber auch beim Kläger, der zudem dem Kleinkindalter entwachsen ist, nicht davon ausgegangen werden, gerade er werde im Falle seiner Abschiebung alsbald mit hoher Wahrscheinlichkeit an Malaria sterben. Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass er malariabedingt zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit schwerste Verletzungen erleiden würde. Zwar verkennt auch der Senat nicht, dass auch der nicht "semi"-immune Kläger durchaus innerhalb der ersten Wochen seines Aufenthalts in der D.R. Kongo mit einer mglw. sogar schweren Malaria rechnen muss (vgl. Junghanss, Niederschrift, a.a.O., S. 6; ebenso Dietrich, S. 2; Swiss Tropical Institute, a.a.O.), welche ggf. auch bleibende Schäden zur Folge haben kann ; insofern kann durchaus ein Stich genügen. Indessen liegt das Risiko von Spätschäden infolge einer schweren Malaria lediglich bei etwa 10 bis 20 %, wobei es sich keineswegs stets um schwerwiegende Schäden wie etwa Erblindung und Lähmung handelt, zumal wenn man berücksichtigt, dass in einem Malaria-Gebiet jedes Kind einmal eine schwere Malaria durchmacht (vgl. Junghanss, Niederschrift, a.a.O., S. 5 u. 7). Sollte der nachträgliche Aufbau einer stabilen "Semi"-Immunität nicht zu erreichen sein, könnte dies zwar mglw. zur Folge haben, dass die Betroffenen weiterhin und immer wieder mit schweren Malariaerkrankungen zu rechnen hätten, doch kann davon, sollte darin eine schwerste Verletzung zu sehen sein, jedenfalls nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, nachdem hierzu keine Erkenntnisse vorliegen und teilweise ohne Weiteres von einem nachträglichen (Wieder-)Aufbau einer (stabilen) "Semi"-Immunität ausgegangen wird (vgl. Ochel, a.a.O., S. 4 und 8 f.; Dietrich, a.a.O., S. 2; zweifelnd lediglich Junghans, Gutachten v. 09.02.2001, S. 10, Niederschrift, a.a.O., S. 5, Ergänzungsgutachten v. 17.01.2010, S. 11).

Soweit für den Kläger darüber hinaus auf weitere Risikofaktoren verwiesen wird, die bislang noch nicht tatrichterlich gewürdigt worden seien, handelt es sich um solche, denen die Vergleichsgruppe der in der D.R. Kongo aufgewachsenen Kleinkinder gleichermaßen ausgesetzt sind, sodass diese bei der Gruppe der in die D.R. Kongo "zurückkehrenden" (Klein-)Kinder auf keine weitere Risikoerhöhung und demzufolge auch auf keine Extremgefahr zu führen geeignet sind.

Nach alldem kann die Beklagte nicht verpflichtet werden, beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der D.R. Kongo festzustellen. [...]