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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 30.03.2010 - 1 C 6.09 - asyl.net: M17197
https://www.asyl.net/rsdb/M17197
Leitsatz:

Besteht kein Anspruch auf Verlängerung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis, kann die Zeit der Fiktionswirkung des Verlängerungsantrags nach § 81 Abs. 4 AufenthG nicht auf die für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis seit sieben Jahren angerechnet werden.

(Amtlicher Leitzsatz)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, anrechenbare Zeiten, Fortgeltungsfiktion, Fiktionszeiten, Niederlassungserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Verlängerungsantrag, Fiktionswirkung, Fiktionszeit, Fortgeltungsfiktion, Berechnung von Aufenthaltszeiten, Passpflicht, Absehen von Passpflicht, Ermessensreduzierung auf Null, Aufenthaltsdauer,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 3 Satz 2, AufenthG § 25 Abs. 2, AufenthG § 26 Abs. 4, AufenthG § 81 Abs. 4, AufenthG § 81 Abs. 5, AufenthG § 102 Abs. 2,AuslG § 69 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Die Revision der Landesanwaltschaft Bayern ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, dass dem Kläger ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG zusteht, ist mit Bundesrecht nicht vereinbar. Der Verwaltungsgerichtshof hat zu Unrecht die Fiktionszeiten nach § 81 Abs. 4 AufenthG den Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne von § 26 Abs. 4 AufenthG gleichgestellt. Da der Kläger mangels Besitzes eines humanitären Aufenthaltstitels seit sieben Jahren im Sinne von § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach dieser Vorschrift nicht erfüllt, hat sein Hauptantrag keinen Erfolg (1.). Auch mit seinem Hilfsantrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen kann er nicht durchdringen (2.). Folglich ist auch die in dem angefochtenen Bescheid verfügte Abschiebungsandrohung rechtlich nicht zu beanstanden (3.). Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und das die Klage insgesamt abweisende Urteil des Verwaltungsgerichts wiederherzustellen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).

1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des mit dem Hauptantrag verfolgten Verpflichtungsbegehrens auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz, hier also im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am 4. Februar 2009. Es ist deshalb auf die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) abzustellen, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten.

Nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der seit sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt (Abschnitt 5: Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen) - im Folgenden: humanitäre Aufenthaltserlaubnis - besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Gemäß § 102 Abs. 2 AufenthG wird auf die Frist für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG die Zeit des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder Duldung vor dem 1. Januar 2005 angerechnet. Ferner wird gemäß § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG abweichend von § 55 Abs. 3 AsylVfG die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens auf die Frist angerechnet.

Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach dieser Bestimmung müssen grundsätzlich im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung der Tatsacheninstanz erfüllt sein (Urteil vom 10. November 2009 - BVerwG 1 C 24.08 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE bestimmt - im Anschluss an das Urteil vom 22. Januar 2002 - BVerwG 1 C 6.01 - BVerwGE 115, 352 355>).

a) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts erfüllt der Kläger nicht die Voraussetzung des Besitzes einer humanitären Aufenthaltserlaubnis seit sieben Jahren im Sinne von § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Denn er hat unter Berücksichtigung der anrechenbaren Zeit seines Asylverfahrens nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG und der Zeit des Besitzes von Aufenthaltsbefugnissen nach § 102 Abs. 2 AufenthG zusammen mit den Besitzzeiten einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG nur eine Zeit von sechs Jahren und dreieinhalb Monaten erreicht. Die Zeiten der anschließenden Fiktionswirkung des Verlängerungsantrags nach § 81 Abs. 4 AufenthG (vom 6. September 2006 bis zur Zustellung des Ablehnungsbescheides am 6. August 2007) können diesen Zeiten nicht hinzugerechnet werden, weil sie den Zeiten des Besitzes einer humanitären Aufenthaltserlaubnis im Sinne von § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht gleichzustellen sind.

Dabei ist vorab klarzustellen, dass sich die hier aufgeworfene Frage der Anrechenbarkeit nur bei Zeiten der Fiktionswirkung eines Verlängerungsantrags oder eines Antrags auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis stellt, die am Ende der Titelbesitzzeit liegen und die nicht in einen positiven Bescheid der Ausländerbehörde münden. Denn die Berücksichtigung von Fiktionszeiten, die zur Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels geführt haben und damit zwischen zwei Titelbesitzzeiten liegen, ist unproblematisch (vgl. auch Nr. 26.4.8 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz des Bundesministeriums des Innern - AVwV AufenthG -, GMBl 2009, 878).

aa) Aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des § 81 Abs. 4 AufenthG können nach Auffassung des Senats keine eindeutigen Schlüsse auf eine Anrechenbarkeit oder Nichtanrechenbarkeit der Zeiten der Fiktionswirkung im Rahmen von § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG gezogen werden. Nach § 81 Abs. 4 AufenthG gilt der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend, wenn ein Ausländer die Verlängerung seines Aufenthaltstitels oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels beantragt. Insofern ist in der Formulierung gegenüber der Vorgängervorschrift des § 69 Abs. 3 AuslG 1990 eine Änderung zu verzeichnen, da diese Bestimmung in vergleichbaren Fällen anordnete, dass "der Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt gilt". Diese Änderung lässt allerdings nicht, wie das Berufungsgericht meint, eindeutig den Schluss auf eine vollständige Gleichstellung der Fiktion mit dem Besitz eines Aufenthaltstitels zu. Eindeutig in diesem Sinne wäre eine Formulierung, die anordnete, dass der bisherige Aufenthaltstitel bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde fortgilt. Die hier gewählte Formulierung, dass der Aufenthaltstitel bis zu diesem Zeitpunkt "als fortbestehend" gilt, kann auch als Hinweis auf einen Unterschied zwischen dem fiktiven Fortbestehen eines Aufenthaltstitels und dem tatsächlichen Titelbesitz verstanden werden. Auch die Aussage in der Begründung des Gesetzentwurfs zu § 81 Abs. 4 AufenthG (BTDrucks 15/420, S. 96), dass der bisherige Aufenthaltstitel "mit allen sich daran anschließenden Wirkungen". bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend gelten soll, mag zwar auf den ersten Blick für eine Gleichstellung mit dem Besitz eines Aufenthaltstitels sprechen. Angesichts der weiteren Ausführung in der Gesetzesbegründung ist aber keineswegs sicher, dass mit diesen Wirkungen nach der Vorstellung des Gesetzgebers auch materiellrechtliche Folgen in Bezug auf das Bestehen des noch streitigen und ungeklärten Anspruchs auf Verlängerung oder Erteilung des Aufenthaltstitels selbst gemeint waren. Die Formulierung in der Begründung des Gesetzentwurfs kann auch dahingehend verstanden werden, dass damit nur alle außerhalb des Aufenthaltstitels selbst liegenden Wirkungen, etwa hinsichtlich der Berechtigung zur Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit, aber auch die sonstigen Wirkungen im Sozialrecht sowie die durch den Aufenthaltstitel ermöglichten Reisen im Schengen-Raum und die Wiedereinreise nach Deutschland angesprochen werden sollten, die sich aus der mit der Fiktionswirkung bezweckten vorläufigen Besitzstandswahrung ergeben.

bb) Entscheidend sprechen allerdings der Sinn und Zweck der Regelung des § 81 Abs. 4 AufenthG einerseits und der des § 26 Abs. 4 AufenthG andererseits sowie die Gesamtsystematik des Aufenthaltsgesetzes gegen eine Gleichstellung der Fiktionszeiten nach § 81 Abs. 4 AufenthG mit den Zeiten des Titelbesitzes. Sinn und Zweck der neugestalteten Fiktionswirkung in § 81 Abs. 4 AufenthG war es, der Neuordnung des Arbeitsgenehmigungsrechts durch das Zuwanderungsgesetz gerecht zu werden. Da nunmehr nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG Ausländer eine Erwerbstätigkeit nur ausüben dürfen, wenn der Aufenthaltstitel sie dazu berechtigt, war es zwingend erforderlich, die bisher über das gesonderte Arbeitsgenehmigungsrecht mögliche Fortsetzung der Erwerbstätigkeit während eines noch ungeklärten Anspruchs auf Verlängerung oder Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch eine fiktive Aufrechterhaltung des Aufenthaltstitels sicherzustellen (für die Dauer des Antragsverfahrens bei der Ausländerbehörde in § 81 Abs. 4 AufenthG, für das Widerspruchs- und Klageverfahren in § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG; zu dieser grundlegenden Umgestaltung des Arbeitsgenehmigungsverfahrens vgl. auch Urteile vom 8. Dezember 2009 - BVerwG 1 C 14.08 und BVerwG 1 C 16.08 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE bestimmt). Dass darüber hinaus durch § 81 Abs. 4 AufenthG auch die aufenthaltsrechtlichen Verfestigungsmöglichkeiten im Vergleich zum bisher geltenden Recht - unabhängig von der materiellen Rechtslage - grundlegend umgestaltet und verbessert werden sollten, ist dagegen nicht ersichtlich. Vielmehr spricht alles dafür, dass die Fortbestandsfiktion ebenso wie früher die Fiktion eines erlaubten Aufenthalts nach § 69 Abs. 3 AuslG 1990 nur vorläufigen Charakter bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde haben und sich auf die Beurteilung des materiellen Anspruchs auf Verlängerung oder Neuerteilung eines anderen Aufenthaltstitels nicht auswirken sollte (zur früheren Rechtslage ausführlich Urteil vom 22. Januar 2002 a.a.O. S. 359). Denn ein Antragsteller soll durch die verspätete Entscheidung über seinen Antrag nicht schlechter, aber auch nicht besser gestellt werden, als wenn die Behörde alsbald entschieden hätte. Daher hat auch die Fiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG besitzstandswahrende, nicht aber rechtsbegründende Wirkung.

Nicht zutreffend ist daher auch die im Anschluss an das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs im vorliegenden Verfahren vertretene Ansicht (Pfersich, ZAR 2009, 147, Anmerkung zu VGH Kassel, Beschluss vom 15.10.2008 - 11 B 2104/08 - ZAR 2009, 146), dass die Neuregelung der Fiktionswirkung in § 81 Abs. 4 AufenthG nicht nur eine verfahrensrechtliche, sondern eine materiellrechtliche Position vermittele. Diese verbessere nicht nur die Möglichkeiten der Aufenthaltsverfestigung in Gestalt einer Niederlassungserlaubnis, sondern wirke sich auch bei der aufenthaltsrechtlichen Stellung von türkischen Arbeitnehmern im Rahmen von Art. 6 ARB 1/80 dahingehend aus, dass die Fiktionszeiten als gesicherte aufenthaltsrechtliche Position für eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne dieser Bestimmungen ausreichten. Für die Annahme einer derart weitgehenden Änderung der bisherigen Rechtslage bestehen keinerlei Anhaltspunkte. Wie der Vertreter des Bundesinteresses zutreffend bemerkt, würde eine derartige materiellrechtliche Wirkung der Fiktion die Stellung unbegründeter Verlängerungsanträge und eine Verzögerung des Verfahrens durch den Antragsteller geradezu herausfordern. Sie würde es auch der Ausländerbehörde ermöglichen, durch den Zeitpunkt ihrer Entscheidung Einfluss auf die materielle Rechtslage zu nehmen. Dies war vom Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt.

Auch mit Blick auf den hier einschlägigen § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ist eine Gleichstellung von Zeiten des Besitzes eines Aufenthaltstitels und Zeiten der Fiktionswirkung eines Verlängerungsantrags mit dem Sinn und Zweck der Regelung nur schwer vereinbar. Es mag zwar zutreffen, dass die Niederlassungserlaubnis nach dieser Vorschrift - anders als die Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG - das Fortbestehen der ursprünglich gegebenen humanitären Gründe nicht voraussetzt. Das Gesetz verlangt aber jedenfalls auch im Falle des § 26 Abs. 4 AufenthG, dass der Ausländer im Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen ist. Damit setzt die Vorschrift nicht nur den durchgehenden Titelbesitz seit sieben Jahren, sondern auch einen nahtlosen Übergang zwischen der humanitären Aufenthaltserlaubnis und der Niederlassungserlaubnis voraus. Der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gilt als Beleg für das Vorliegen humanitärer Gründe (vgl. auch § 26 Abs. 2 AufenthG). Diese gesetzliche Vermutung gilt bei Zeiten der Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG aber gerade nicht. Jedenfalls dann, wenn letztendlich die Verlängerung oder Neuerteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt wird, wäre es nicht nachvollziehbar, wenn derartige Zeiten zur Verfestigung des Aufenthalts führen würden.

cc) Schließlich besteht auch unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und des fairen Verfahrens keine Notwendigkeit der Anrechnung der Fiktionszeiten im Rahmen von § 26 Abs. 4 AufenthG. Eine befriedigende Lösung der vom Verwaltungsgerichtshof angesprochenen Fallgestaltungen ist auf anderem Wege und mit sachgerechterem Ergebnis möglich.

Im Fall des Klägers sind diese Verfassungsgrundsätze - anders als der Verwaltungsgerichtshof meint - schon von vornherein nicht berührt. Denn der Kläger hat durch die Dauer des Verfahrens keine Nachteile erlitten. Auch wenn über die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis gleich nach Ablauf des vorangegangenen Titels negativ entschieden worden wäre, wäre die Siebenjahresfrist nicht erfüllt gewesen und er hätte - da kein Verlängerungsanspruch aus humanitären Gründen bestand - keine Chance zum Erwerb einer Niederlassungserlaubnis gehabt. Er wäre also bei einer zeitnahen Entscheidung der Behörde nicht besser gestellt und ist deshalb durch die angeblich "verspätete" Entscheidung der Behörde auch nicht benachteiligt. Vielmehr wäre er umgekehrt bei Anrechnung der Fiktionszeiten ohne zugrundeliegenden materiellen Verlängerungsanspruch durch die spätere Entscheidung der Behörde, also allein aufgrund der Verfahrensdauer, besser gestellt, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund besteht.

Für den - hier nicht gegebenen - Fall eines fortbestehenden Verlängerungsanspruchs, dem die Behörde zu Unrecht nicht nachkommt, kann dieser im Klageweg verfolgt werden und damit nach der Rechtsprechung des Senats letztlich auch ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über eine Niederlassungserlaubnis durchgesetzt werden. Denn in diesem Fall wären sowohl die Zeiten eines inzident festzustellenden Anspruchs auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis anzurechnen als auch das Erfordernis des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung durch die Feststellung eines solchen Rechtsanspruchs als erfüllt anzusehen. Entsprechendes gilt, wenn der Ausländer während des Verfahrens nicht nur über einen Anspruch auf Verlängerung seiner humanitären Aufenthaltserlaubnis verfügt, sondern auch einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis erwirbt. Denn in diesem Fall ist im gerichtlichen Verfahren auch inzident zu prüfen, ob der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer beantragten Niederlassungserlaubnis während des Verfahrens erworben hat, der dann dem Erfordernis des fortbestehenden Besitzes einer humanitären Aufenthaltserlaubnis bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gleichstehen würde.

Diese Erwägungen zeigen, dass, ausgehend von der bisherigen Rechtsprechung des Senats, eine angemessene Lösung der verschiedenen Fallgestaltungen über das Instrumentarium der inzidenten Prüfung im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts erreicht werden kann, die den Anforderungen eines effektiven Rechtsschutzes und eines fairen Verfahrens entspricht. Demgegenüber bestünde bei einer vom materiellrechtlichen Anspruch losgelösten Anrechnung des Fiktionszeitraums die Gefahr einer ungerechtfertigten Privilegierung eines Ausländers, bei dem keine humanitären Gründe mehr vorliegen, der sich aber wegen eines - aus welchen Gründen auch immer - hinziehenden Verwaltungsverfahrens mit Hilfe der Fiktionszeiten in eine Niederlassungserlaubnis "hinüberrettet".

Da der Kläger mangels Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis seit sieben Jahren im Sinne von § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach dieser Vorschrift nicht erfüllt, kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben.

b) Auf die übrigen von der Revision geltend gemachten Rügen kommt es daher nicht mehr an.

Der Senat bemerkt allerdings, dass der Verwaltungsgerichtshof bei der Prüfung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Erfüllung der Passpflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG zutreffend davon ausgegangen ist, dass die Ausländerbehörde von dieser Voraussetzung auch im Fall der Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach Ermessen absehen kann. Das Vorliegen eines Ausnahmefalles ist dafür entgegen der Ansicht der Revision nicht erforderlich. Während § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in den Fällen der Erteilung im Einzelnen benannter humanitärer Aufenthaltstitel zwingend ein Absehen von der Anwendung der Absätze 1 und 2 vorschreibt, sieht § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vor, dass in den übrigen Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 von der Anwendung der Absätze 1 und 2 abgesehen werden kann. Darunter fällt grundsätzlich auch die von Satz 1 der Vorschrift nicht erfasste Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG. Soweit der Senat in seinem Urteil vom 28. Oktober 2008 - BVerwG 1 C 34.07 - (Buchholz 402.242 § 26 AufenthG Nr. 3 = NVwZ 2009, 246) eine Anwendbarkeit von § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG in Fällen der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG verneint hat, bezog sich dies nur auf die Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Der Grund hierfür war, dass § 26 Abs. 4 AufenthG mit seiner Verweisung auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 AufenthG hinsichtlich der Sicherung des Lebensunterhalts (in Nr. 3) eine spezielle, abschließende Regelung enthält, die einen Rückgriff auf die allgemeine Regelung in § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG verbietet. Bei der Erteilungsvoraussetzung der Erfüllung der Passpflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG ist dies nicht der Fall, so dass § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG insoweit auch bei der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG anwendbar ist. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. Die Möglichkeit, nach Ermessen von der Erfüllung der Passpflicht abzusehen, dient dazu, im Einzelfall der besonderen Situation von Ausländern gerecht zu werden, deren Aufenthalt auf humanitären, völkerrechtlichen oder politischen Gründen beruht und die deshalb unter Umständen mehr Schwierigkeiten bei der Passbeschaffung haben als sonstige Ausländer. Dieser Grundgedanke trifft auch für die Fälle der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG zu.

Soweit sich die Revision gegen die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs wendet, dass das Ermessen der Behörde sowohl beim Absehen von der Passpflicht nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als auch bei der Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auf Null reduziert sei, hätten die Rügen allerdings Erfolg gehabt. Denn in beiden Fällen ist die vom Verwaltungsgerichtshof bejahte Ermessensreduzierung zumindest nicht nachvollziehbar begründet. So reicht für das Absehen von der Passpflicht allein die feststehende Identität des Klägers nicht aus. Für eine Ermessensreduzierung zugunsten der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis dürfte es u.a. an der Berücksichtigung des Umstandes fehlen, dass bei dem Kläger mit dem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung die humanitären Gründe für seinen Aufenthalt schon seit längerem weggefallen waren.

2. Über das mit dem Hilfsantrag verfolgte Begehren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen ist nicht mehr in der Sache zu entscheiden, da die Berufung des Klägers insoweit bereits unzulässig ist. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Verwaltungsgerichtshof trotz der allein auf das Hauptbegehren bezogenen Begründung in seinem Beschluss vom 16. Oktober 2008 die Berufung unbeschränkt zugelassen hat, hat der Kläger jedenfalls in Bezug auf das vom Verwaltungsgericht beschiedene und abgewiesene Hilfsbegehren innerhalb der Berufungsbegründungsfrist keinerlei Berufungsgründe geltend gemacht, sondern sich auf die Frage der Anrechnung der Fiktionszeiten für den Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis beschränkt. Die Berufung hinsichtlich des Hilfsbegehrens war deshalb nach § 124a Abs. 3 Satz 4 und 5 VwGO unzulässig. Der Senat kann über den nach Erfolglosigkeit des Hauptantrags im Revisionsverfahren nunmehr angefallenen Hilfsantrag selbst abschließend entscheiden, da er die Sachurteilsvoraussetzungen eigenständig zu ermitteln und zu beurteilen hat. Ist die Berufung des Klägers danach auch hinsichtlich des Hilfsantrags erfolglos, verbleibt es insoweit ebenfalls bei der Abweisung der Klage durch das Verwaltungsgericht.

3. Auch die Abschiebungsandrohung in dem angefochtenen Bescheid ist demzufolge rechtlich nicht zu beanstanden. [...]