VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 17.06.2010 - 15 K 239.09 V - asyl.net: M17281
https://www.asyl.net/rsdb/M17281
Leitsatz:

Für die Sicherung des Lebensunterhalts sind Erwerbstätigenfreibeträge (§ 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 i. V. m. § 30 SGB II) bei der Berechnung nicht in Abzug zu bringen, Die Rechtsprechung des BVerwG (grundsätzlich Urteil vom 26.08.2008 - 1 C 32.07 - ASYLMAGAZIN 12/2008, S. 39) steht im Lichte des Urteils des EuGH im Fall Chakroun (Urteil vom 04.03.2010 - Chakroun, C-578/08, ASYLMAGAZIN 2010, S. 167 ff.) nicht mehr im Einklang mit der Auslegung des Art. 7 Abs. 1 c) der Familienzusammenführungsrichtlinie durch den EuGH. Die SGB II-Regelsätze sind ohne die Freibeträge als ausreichend für den Lebensunterhalt anzusehen; der Zweck der Freibeträge ist, einen höheren Anreiz zur Arbeitsaufnahme bzw. Beibehaltung der Erwerbstätigkeit zu schaffen.

Schlagwörter: Visum, Visumsverfahren, Kindernachzug, Familienzusammenführung, Sicherung des Lebensunterhalts, Regelleistung, SGB II, Kindergeld, Freibetrag, Einkommen, Erwerbstätigkeit, Familienzusammenführungsrichtlinie, EuGH, Chakroun, Unterhaltsanspruch, Sozialhilfe, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1, SGB II § 11 Abs. 2, SGB II § 30, RL 2003/86/EG Art. 7 Abs. 1 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die 1994 und 1998 geborenen Klägerinnen sind türkische Staatsangehörige und begehren die Erteilung von Visa zum Zwecke des Nachzuges zu ihren in Deutschland lebenden Eltern. [...]

Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet. Die Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Form des Visums zum Kindernachzug ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten; die Klägerinnen haben einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Visa (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Anders als von der Beklagten und von der Beigeladenen angenommen, ist auch die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt. Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann, wobei der Bezug der in § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufgeführten öffentlichen Leistungen unschädlich ist. Erforderlich ist die positive Prognose, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in diesem Sinne zukünftig auf Dauer gesichert ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17/08 - juris). Hierzu ist der voraussichtliche Unterhaltsbedarf mit den voraussichtlich zur Verfügung stehenden Mitteln zu vergleichen.

Der Unterhaltsbedarf setzt sich aus der Summe der auf die Familie entfallenden Regelsätze nach §§ 20, 28 SGB II, den Kosten für die Unterkunft (§ 22 SGB II) und den Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung (§ 26 SGB II) zusammen. [...]

Auf der Einnahmeseite sind die Erwerbseinkünfte der Eltern der Klägerinnen anzusetzen (§ 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG). Die Eltern der Klägerinnen erzielen nach den zur Akte gereichten aktuellen Nachweisen folgendes Einkommen:

Der Vater erhält ein monatliches Durchschnittseinkommen in Höhe von 1658,60 €/Monat brutto und 1324,57 €/Monat netto aus seiner Tätigkeit bei der W... Stuttgart. [...] Hierzu kommt der Verdienst aus der Nebentätigkeit bei der A.... Da der Lohn ausweislich der Arbeitsbescheinigung vom 8. März 2010 nur für 11 Monate im Jahr gezahlt wird, ergibt sich unter Zugrundelegung des monatlichen Durchschnittsverdienstes von 309,47 € (1237,88 € für Januar bis April 2010 geteilt durch 4) ein jahresbezogenes Durchschnittseinkommen von 283,68 €/Monat (309,47€ x 11 Monate geteilt durch 12).

Die Mutter verdient 244,51 € / Monat durchschnittlich als Aushilfskraft bei der K....

Die Verlässlichkeit der Erzielung dieses Einkommens ist gegeben. [...]

Die Eltern der Klägerinnen haben auch einen Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 EStG, was ebenfalls als Einkommen anzusetzen ist. [...]

Die Eltern der Klägerinnen haben keinen Anspruch auf den Kinderzuschlag gem. § 6a BKGG, weil ihr nach den Vorgaben des Bundeskindergeldgesetzes anzurechnendes Einkommen mit 1.314,16 € über der gesetzlichen Höchstgrenze liegt (vgl. ).

Die Eltern verfügen demnach über ein monatliches Nettoeinkommen von 2.410,76 € bei einem Bedarf von 1.904,40 €.

Bei der Feststellung, ob der Lebensunterhalt gesichert ist, wird nach der bisherigen Rechtsprechung (grundlegend dazu: BVerwG, Urteil vom 28. August 2008 - 1 C 32/07 -, sowie zu den Unterhaltspflichten BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17/08 - beide zitiert nach juris) jedoch nicht auf das Nettoeinkommen abgestellt, sondern der Lebensunterhalt nur dann als gesichert angesehen, wenn nach dem Abzug sämtlicher Beträge nach § 11 Abs. 2, einschließlich des Freibetrages nach § 30 i.V.m. § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 SGB II das verbleibende berücksichtigungsfähige Einkommen den Bedarf übersteigt und damit kein Anspruch auf (ergänzende) Leistungen nach dem SGB II besteht.

[...]

Es gibt bereits keine Anhaltspunkte dafür, dass die inzwischen 24, 22 und 20 Jahre alten erwachsenen Geschwister der Klägerinnen sich noch in einer Ausbildung befinden und ihnen damit Unterhaltsansprüche gegen ihre Eltern zustünden. Hierauf kommt es im Ergebnis jedoch auch nicht an, da nach Auffassung der Kammer die Berücksichtigung eines potentiellen, nicht titulierten Unterhaltsanspruchs von im Ausland lebenden Kinder in der prognostischen Betrachtung (so BVerwG, Urteil vom 7. April 2009, a.a.O. Rn. 33) bei der europarechtskonformen Auslegung des Begriffs des gesicherten Lebensunterhaltes in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Chakroun (Rs. C -578/08, Urt. vom 4. März 2010) nicht erfolgen darf. Der Europäische Gerichtshof betont in dem genannten Urteil, dass die in Art. 7 Abs. 1 c) der RL 2003/86 (Familienzusammenführungsrichtlinie, umgesetzt durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007, im Folgenden "Richtlinie") erlaubte Einschränkung des Rechts auf Familienzusammenführung, wonach der betreffende Mitgliedstaat vom Antragsteller den Nachweis verlangen kann, dass der Zusammenführende über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreicht, eng auszulegen sei, weil die Genehmigung zur Familienzusammenführung die Grundregel darstelle und der den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie eröffnete Handlungsspielraum nicht in einer Weise genutzt werden dürfe, die das Ziel der Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen, in seiner praktischen Wirksamkeit beeinträchtigen würde (EuGH, a.a.O. Rn. 43 f.). Daher ist nach Auffassung der Kammer die Berücksichtigung eines potentiell titulierbaren Anspruchs auf Unterhalt zu Lasten des Familienzusammenführenden - insbesondere im Falle von bereits erwachsenen Kindern, die bisher keinen Unterhaltstitel erwirkt haben -, bei richtlinienkonformer Auslegung nicht vorzunehmen.

Der Abzug eines titulierten Unterhaltsanspruchs ist hingegen von der Ermächtigung durch die Richtlinie gedeckt, da diese in Art. 7 Abs. 1 c) darauf abstellt, ob der Zusammenführende über feste und regelmäßige Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und desjenigen seiner Familie verfügt und der Vater der Klägerinnen über den als Unterhalt für seinen Sohn gepfändeten Betrag nicht frei verfügen kann. [...]

Im Falle eines weiteren Abzuges der Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 2 und § 30 SGB II wäre das verbleibende zu berücksichtigende Einkommen der Eltern niedriger als der Bedarf: Nach §§ 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II ist bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die erwerbstätig sind, an Stelle der Beträge nach Satz 1 Nr. 3 bis 5 ein Betrag von insgesamt 100 Euro monatlich abzusetzen. Nach § 30 SGB II ist bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die erwerbstätig sind, von dem monatlichen Einkommen aus Erwerbstätigkeit ein weiterer Betrag abzusetzen. Dieser beläuft sich für den Teil des monatlichen Einkommens, der 100 Euro übersteigt und nicht mehr als 800 Euro beträgt, auf 20 vom Hundert und für den Teil des monatlichen Einkommens, der 800 Euro übersteigt und nicht mehr als 1.200 Euro beträgt, auf 10 vom Hundert. An Stelle des Betrages von 1.200 Euro tritt für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die entweder mit mindestens einem minderjährigen Kind in Bedarfsgemeinschaft leben oder die mindestens ein minderjähriges Kind haben, ein Betrag von 1.500 Euro. [...]

Entgegen der bisherigen Auffassung in der Rechtsprechung ist nach Überzeugung der Kammer nach der oben bereits zitierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 4. März 2010 der Begriff "ohne Inanspruchnahme von öffentlichen Mitteln" in § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Zusammenhang mit der in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorgesehenen Regelerteilungsvoraussetzung des gesicherten Lebensunterhaltes europarechtskonform so auszulegen, dass bei der Berechnung des berücksichtigungsfähigen Einkommens jedenfalls ein Abzug der Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II nicht erfolgen darf.

Wie bereits ausgeführt, stellt der EuGH in der o.g. Entscheidung fest, dass die Familienzusammenführung die Grundregel darstelle und die den Mitgliedsstaaten eingeräumten Einschränkungsmöglichkeiten eng auszulegen seien. An diesem Maßstab orientiert führt der EuGH dann aus, dass der Begriff "Sozialhilfeleistungen des … Mitgliedstaats" ein autonomer Begriff des Unionsrechts sei, der nicht anhand von Begriffen des nationalen Rechts ausgelegt werden könne. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c Satz 1 der Richtlinie stelle dem Begriff "feste und regelmäßige Einkünfte, die … für seinen Lebensunterhalt … ausreichen" den Begriff "Sozialhilfe" gegenüber. Diese Gegenüberstellung zeige, dass mit dem Begriff "Sozialhilfe" in der Richtlinie eine Hilfe gemeint sei, die von den öffentlichen Behörden auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene gewährt werde und die ein Einzelner, in diesem Fall der Zusammenführende, in Anspruch nehme, wenn er nicht über feste und regelmäßige Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und desjenigen seiner Familie verfüge und deshalb Gefahr laufe, während seines Aufenthalts die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen zu müssen (ebenda in Rn. 45 mit Hinweis auf EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2007, Eind, C-291/05, Slg. 2007, I 10719, Randnr. 29). Weiterhin definiert der Gerichtshof den Begriff der Sozialhilfe als eine Hilfe, die einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften ausgleiche, nicht aber eine Hilfe, die es erlauben würde, außergewöhnliche oder unvorhergesehene Bedüfnisse zu befriedigen (ebenda, Rn. 49).

Auch in anderen Urteilen hat der EuGH bereits den Begriff definiert: So heißt es in der Rs. Skalka (Urteil vom 20. April 2004, C-160/02), eine Leistung sei der Sozialhilfe zuzuordnen, weil sie nicht von bestimmten Beschäftigungs- oder Beitragszeiten abhänge und zum Ziel habe, einen Zustand offensichtlicher Bedürftigkeit zu lindern. Soweit die Funktion der Leistung darin bestehe, ein Existenzminimum zu sichern, habe diese Leistung Sozialhilfecharakter (a.a.O, Rn. 22, 24). In einer weiteren Entscheidung (Rs. Vatsouras, Urt. vom 4. Juni 2009, C-22/08) hat der EuGH festgestellt, dass es nicht darauf ankomme, wie eine Leistung nach nationalem Recht eingestuft werde, sondern auf den Zweck der Leistung. Der EuGH führte aus, dass finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, nicht als "Sozialhilfeleistungen" angesehen würden (a.a.O. Rn. 42, 45).

Die Schlussfolgerung des EuGH in dem Urteil vom 4. März 2010, die Wendung "Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen" in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie sei dahin auszulegen, dass sie einem Mitgliedstaat nicht erlaube, eine Regelung für die Familienzusammenführung zu treffen, die dazu führe, dass die Familienzusammenführung einem Zusammenführenden nicht gestattet werde, der nachgewiesen habe, dass er über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfüge um die allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte die besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts, einkommensabhängige Befreiungen von Abgaben nachgeordneter Gebietskörperschaften oder einkommensunterstützende Maßnahmen im Rahmen der gemeindlichen Politik für Einkommensschwache ("minimabeleid") in Anspruch nehmen könne (vgl. Rn. 52), ist entgegen der Auffassung der Beklagten und der Beigeladenen nicht auf die dort streitgegenständliche niederländische Rechtslage beschränkt, sondern trifft eine allgemeine Aussage, die auch bei der Auslegung der deutschen Rechtsgrundlagen für die Familienzusammenführung zu berücksichtigen ist. Die Antwort des EuGH zeigt, dass es ausschließlich um die Betrachtung geht, ob der Ausländer ausreichende Mittel hat, um die allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts für sich und seine Familienangehörigen zu decken. Die für die Beurteilung der deutschen Rechtslage maßgebliche Aussage der Entscheidung des EuGH ist, dass der in Art. 7 Abs. 1 c) der Richtlinie verwendete Begriff der "Sozialhilfeleistungen" ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist und davon Leistungen umfasst seien, die einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften ausgleichen. Mit der Definition des Begriffes "Sozialhilfeleistungen" in der Richtlinie gibt der EuGH auch die Grenze des Gestaltungsspielraumes der Mitgliedstaaten für die Anforderungen an die Sicherung des Lebensunterhaltes vor. Die Mitgliedstaaten dürfen demnach nur den Nachweis fordern, dass das Einkommen des Zusammenführenden ausreicht, um die allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts für sich und seine Familienangehörigen zu decken. Aus der Entscheidung des EuGH ergibt sich auch, dass ein Ausschluss der Familienzusammenführung wegen der tatsächlichen oder potentiellen Inanspruchnahme von anderen öffentlichen Leistungen von der Richtlinie nicht gedeckt ist.

Vor diesem Hintergrund kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten für die Auslegung des Begriffs "Sozialhilfeleistungen", der vom Gerichtshof als autonomer Begriff des Unionsrechts definiert worden ist, nicht auf die nationale Ausgestaltung an. Daher steht der Anwendbarkeit der vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Grundsätze auf die deutsche Rechtslage nicht entgegen, dass das niederländische System der Sozialhilfe in allgemeine und besondere Sozialhilfe aufgeteilt ist, während die Leistungen nach dem SGB II als einheitliche Leistung gewährt werden.

Der Gerichtshof hat mit der vorgegebenen engen Auslegung des Begriffes "Sozialhilfe" und der für unschädlich angesehenen Inanspruchnahme der niederländischen „besonderen Sozialhilfe“ Maßstäbe aufgestellt, mit denen die von der deutschen Rechtspraxis und dem deutschen Gesetzgeber bisher als zulässig erachtete Einschränkung des Rechts auf Familienzusammenführung aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Haushalte nicht mehr vereinbar ist. In der für die bisherige Rechtsprechung maßgeblichen Entscheidung vom 28. August 2008 (1 C 32/07) hat das Bundesverwaltungsgericht in Rn. 21, 22 und Rn. 24 den Begriff des gesicherten Lebensunterhaltes in § 2 Abs. 3 AufenthG so ausgelegt, dass sämtliche in § 11 Abs. 2 SGB II genannten Beträge bei der Ermittlung des Einkommens abzusetzen seien, weil der Lebensunterhalt dann nicht gesichert sei, wenn ein Anspruch auf (aufstockende) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bestehe. Dies sei mit dem Sinn und Zweck der Regelung zu begründen, der darin bestehe, neue Belastungen für die öffentlichen Haushalte zu vermeiden. Die Lebensunterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 3 AufenthG werde in der Begründung des Gesetzentwurfs als eine der Erteilungsvoraussetzungen von grundlegendem staatlichen Interesse und als wichtigste Voraussetzung, um die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern, bezeichnet (BT-Drucks 15/420 S. 70). Der in erster Linie aus arbeitsmarkt- bzw. beschäftigungspolitischen Gründen in dieser Höhe gewährte Freibetrag nach § 30 i.V.m. § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 SGB II, der in Kapitel 3 Abschnitt 2 (Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts) Unterabschnitt 3 (Anreize und Sanktionen) geregelt sei, ändere nichts daran, dass das Arbeitslosengeld II selbst eine einheitliche Leistung zur Lebensunterhaltssicherung darstelle.

Die Kernaussage des Bundesverwaltungsgerichts, wonach die Freibeträge trotz ihrer arbeitsmarktpolitischen Zielsetzung abzuziehen seien, weil das Arbeitslosengeld II selbst eine einheitliche Leistung zur Lebensunterhaltssicherung darstelle und die Richtlinie in Art. 7 Abs. 1 c) es den Mitgliedstaaten erlaube, von dem Zusammenführenden den Nachweis zu verlangen, dass er über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen des Mitgliedstaates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen, steht im Lichte des Urteils des EuGH im Fall Chakroun nicht mehr im Einklang mit der Auslegung von Art. 7 Abs. 1 c) der Richtlinie durch den EuGH. Denn danach kommt es für die Frage, ob die Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II und § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II bei der Berechnung des für die Familienzusammenführung notwendigen Lebensunterhaltes abgezogen werden dürfen, nicht darauf an, dass diese Beträge im SGB II geregelt sind und dass das Arbeitslosengeld II selbst eine einheitliche Leistung zur Lebensunterhaltssicherung darstellt. Vielmehr ist entscheidend, in welcher Höhe das nationale Recht den für die Deckung der allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhaltes erforderlichen Betrag bestimmt. Von der Richtlinie ist ein Ausschluss der Familienzusammenführung wegen eines potentiellen Angewiesenseins auf öffentliche Leistungen nicht gedeckt, sondern nur die Festlegung eines Mindestbedarfs, den der Familienzusammenführende für sich und seine Familienangehörigen decken können muss. Für den Mindestbedarf sind mangels einer speziellen Regelung im Aufenthaltsgesetz die Beträge maßgeblich, die das SGB II und die Regelsatzverordnung als Regelleistung vorgeben. Denn wie der Gesetzgeber des SGB II in der Gesetzesbegründung zu § 20 SGB II ausgeführt hat, umfasst die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts – wie der Regelsatz im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch - das "soziokulturelle" Existenzminimum. Die Überschrift zum Abschnitt 2 des SGB II "Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts" enthält die einleitende Erklärung, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts deckten den Bedarf der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und der mit ihnen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Angehörigen. (BT-Drs. 15/1516, S. 56).

Indem die Beklagte meint, der Europäische Gerichtshof hätte die niederländische Regelung aus dem Grund kritisiert, dass darin ein wegen der Ausgestaltung der besonderen Sozialhilfe nur potentiell bestehender Anspruch auf Leistungen die Familienzusammenführung ausschließe, verkennt sie, dass der EuGH das Argument des potentiellen Anspruchs nur als Begründung dafür angeführt hat, dass, weil einige Gemeinden einen geringeren Betrag als die vom Zusammenführenden geforderten 120 Prozent des Mindestlohns als Richtbetrag zugrunde legten, dies der These widerspreche, ein Einkommen in Höhe von 120 Prozent des Mindestlohns sei unabdingbar (vgl. ebenda, Rn. 49, 50).

Daher wäre ein wegen der Erwerbstätigenfreibeträge bestehender aufstockender Anspruch nach den oben genannten Vorgaben des EuGH insbesondere auch unter Berücksichtigung der im Urteil "Vatsouras" enthaltenen Vorgabe, dass es für die Frage, ob eine Leistung als Sozialhilfe einzuordnen ist, nicht auf die Einordnung nach dem nationalen Recht ankomme, sondern dies nach dem Zweck der Leistung zu erfolgen habe (a.a.O. Rn. 45), nur dann als "Sozialhilfe" i.S.d. Richtlinie zu betrachten, wenn sein Zweck die Deckung der allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhaltes wäre. Dies ist jedenfalls bzgl. der Freibeträge nach §§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6, 30 SGB II nicht der Fall. Denn in der Gesetzesbegründung zu § 30 SGB II (BT-Drs. 15/1516, S. 59) heißt es, die Vorschrift lege fest, in welcher Höhe Erwerbseinkommen des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen auf das Arbeitslosengeld II angerechnet werde. Das Anrechnungssystem trage dem Grundsatz Rechnung, dass derjenige, der arbeitet, mehr Geld zur Verfügung haben solle als derjenige, der trotz Erwerbsfähigkeit nicht arbeite. Die Höhe der Freibeträge sei im Rahmen des Arbeitslosengeldes II finanziell vorteilhafter als auf Grund der bisherigen Sozialhilfepraxis. Hierdurch solle ein höherer Anreiz zur Arbeitaufnahme geschaffen werden. Bislang blieben nämlich – unabhängig von der Größe der Bedarfsgemeinschaft – von dem erzielten Nettoerwerbseinkommen jeweils nur maximal 50 vom Hundert des alten sozialhilferechtlichen Eckregelsatzes eines Haushaltsvorstandes/Alleinstehenden für laufende Leistungen frei. Das der Vorschrift zugrunde liegende Anreizsystem erhöhe die finanziellen Anreize zur Aufnahme bzw. Aufrechterhaltung einer Erwerbstätigkeit.

Aus diesen Erwägungen lässt sich eindeutig entnehmen, dass die Regelsätze ohne die Freibeträge als ausreichend für die Deckung des Bedarfs für den Lebensunterhalt angesehen werden und es der Zweck der Freibeträge nach §§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6, 30 SGB II ist, einen höheren Anreiz zur Arbeitsaufnahme bzw. Beibehaltung der Erwerbstätigkeit zu schaffen. Diese Einschätzung hat auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 28. August 2008 (1 C 32/07, a.a.O.) vertreten, denn dort wird ausgeführt, der Freibetrag nach § 30 i.V.m. § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 SGB II werde in erster Linie aus arbeitsmarkt- bzw. beschäftigungspolitischen Gründen gewährt (vgl. Rn. 22). Auch aus dem System der Berechnung der Freibeträge nach § 30 SGB II wird deutlich, dass die Freibeträge nicht zur Deckung des Lebensunterhaltes sondern allein als Anreiz für die Erwerbstätigkeit bestimmt sind. Die Beträge steigen (bis zur Höchstgrenze von 1.200 bzw. 1.500 €) mit dem erzielten Einkommen. Die Kosten des Lebensunterhaltes steigen jedoch nicht linear mit dem erzielten Einkommen. D.h. ein Arbeitnehmer, der 900 € im Monat verdient, hat nicht regelmäßig niedrigere Lebenshaltungskosten als ein Arbeitnehmer, der 1.200 € verdient. Nach dem System des § 30 SGB II wäre jedoch der Freibetrag bei 900 € Einkommen 150 € und bei 1.200 € Einkommen 180 €.

Wenn von dem Einkommen der Eltern der Klägerinnen die Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II in Höhe von 238,90 € nicht abgezogen werden, verbleiben vom Nettoeinkommen auch im Falle des Abzuges des pauschalen Freibetrages nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II in Höhe von jeweils 100 € noch 2055,91 €. Dies deckt den Bedarf von 1904,40 €.

Daher ist es nicht entscheidungserheblich und kann offen bleiben, ob der Abzug des pauschalen Freibetrages von der Richtlinie gedeckt ist. Hierfür spricht, dass davon ausgegangen werden kann, dass Erwerbstätige grundsätzlich höhere Kosten für den Lebensunterhalt brauchen und daher bei diesen Personen eine höhere Grenze für den notwendigen Lebensunterhalt festgesetzt werden könnte. Gegen die Höhe des Pauschalbetrages spricht andererseits, dass der Freibetrag nach § 11 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB II, die in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 - 5 SGB II genannten Kosten, die im Falle der Erwerbstätigkeit anfallen, ersetzt. Es handelt sich dabei jedoch bis auf die in Nr. 5 geregelten mit der Erzielung des Einkommens verbundenen Ausgaben um Kosten, die nicht zwangsläufig mit der Erwerbstätigkeit anfallen (wie die in Nr. 4 geregelten geförderten Altersvorsorgebeiträge nach § 82 EStG oder die in Nr. 3 genannten Versicherungen). Daher ist es wegen der vom EuGH vorgegebenen engen Auslegung des Begriffs "Sozialhilfeleistungen" zwar möglich, dass bei Erwerbstätigen wegen der mit der Erwerbstätigkeit tatsächlich verbundenen Ausgaben der Bedarf pauschal höher angesetzt wird, als der Regelsatz im SGB II: Die Kammer hat jedoch Zweifel daran, ob die derzeitige Höhe von 100 € gerechtfertigt sein kann. Denn diese Summe soll derzeit neben diesen Ausgaben auch noch die in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 4 SGB II geregelten Beträge umfassen, die unter der engen europarechtlichen Auslegung des Begriffs nicht unter Sozialhilfe i.S.d. Art. 7 Abs. 1 c) der Richtlinie fallen. Da der Lebensunterhalt der Klägerinnen auch dann gedeckt ist, wenn der Freibetrag nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II in Höhe von zweimal 100 € einkommensmindernd berücksichtigt wird, nicht jedoch der Freibetrag nach § 30 SGB II, lässt die Kammer die Frage aber dahinstehen. [...]