VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 14.10.2010 - 2 B 333/10 - asyl.net: M17734
https://www.asyl.net/rsdb/M17734
Leitsatz:

Die Kammer ist der Auffassung, dass die Integrationsleistungen, die ein Ausländer während der Duldung erbracht hat, jedenfalls dann für die Beurteilung der Frage eines Aufenthaltstitels von Bedeutung sind, wenn diese Zeiten der Duldung irgendwann während des Aufenthalts durch einen gefestigten Aufenthaltstitel abgelöst werden (Änderung der Rechtsprechung). So kann einem Ausländer, dem es gelingt, während Zeiten eines Duldungsbesitzes die deutsche Sprache zu erlernen, z.B. nicht entgegengehalten werden, dass dieser Spracherwerb deshalb unbeachtlich sei, weil er während eines unsicheren Aufenthaltes erfolgt ist. Da die Antragstellerin mehr als zwei Jahre einen Aufenthaltstitel besessen hat, müssen ihre gesamten Integrationsleistungen seit ihrer Einreise im Januar 1999 bei der Prüfung eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK berücksichtigt werden.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Achtung des Privatlebens, Armenien, Abschiebungshindernis, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Duldung, unerlaubter Aufenthalt, Integration Integrationsanforderungen, Straftat, Tilgungsfrist, Täuschung über Identität, Verwurzelung, Entwurzelung, Erwerbstätigkeit
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8, VwGO § 80 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Die Kammer hat bisher der Rechtsauffassung des 10. und 12. Senats zugeneigt und geurteilt, dass ein unerlaubter Aufenthalt und die damit verbundene Unsicherheit des Aufenthaltsstatus in der Regel der Führung eines schutzwürdigen Privatlebens im Sinne des Artikel 8 Abs. 1 EMRK entgegenstehe (vgl. Urteil vom 17.07.2007, a.a.O.). Für die Antragstellerin indes ist zu bedenken, dass ihr Aufenthaltsstatus im für die Beurteilung der Rechtssache maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts gesichert war. Denn sie besaß seit dem 20. Dezember 2007 bis zum 25. März 2010 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Dadurch unterscheidet sich der Sachverhalt deutlich von demjenigen, den der 8. Senat in seinem Beschluss vom 12. August 2010 zu beurteilen hatte. Die Kammer ist der Auffassung, dass die Integrationsleistungen, die ein Ausländer während Zeiten der Duldung erbracht hat, jedenfalls dann für die Beurteilung der Frage eines Aufenthaltstitels von Bedeutung sind, wenn diese Zeiten der Duldung irgendwann während des Aufenthaltes durch einen gefestigten Aufenthaltstitel abgelöst werden. So kann einem Ausländer, dem es gelingt, während Zeiten des Duldungsbesitzes die deutsche Sprache zu erlernen, z.B. nicht entgegengehalten werden, dass dieser Spracherwerb deshalb unbeachtlich sei, weil er während Zeiten eines unsicheren Aufenthaltes erfolgt ist. Da die Antragstellerin über mehr als zwei Jahre einen Aufenthaltstitel besessen hat, müssen ihre gesamten Integrationsleistungen seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Januar 1999 in den Blick genommen werden und kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich schon allein deshalb nicht auf Artikel 8 Abs. 1 EMRK berufen kann, weil wesentliche Zeiten dieses Aufenthalts lediglich geduldet waren.

Die vorzunehmende Abwägungsentscheidung geht zugunsten der Antragstellerin aus.

Zutreffend hat der Antragsgegner allerdings angemerkt, dass die Antragstellerin in den Jahren 1999 bis 2004 mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Dies kann der Antragstellerin nach Überzeugung der Kammer jedoch im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr entgegengehalten werden. Eintragungen im Führungszeugnis bestehen insoweit nicht mehr. Seit sieben Jahren lebt die Antragstellerin straffrei. Dies rechtfertigt den Schluss, dass die in der Zeit unmittelbar nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begangenen Straftaten, bei denen es sich ausschließlich um Diebstahl und Diebstahl geringwertiger Sachen gehandelt hat, Ausdruck einer Überforderung der Antragstellerin im Umgang mit dem im Vergleich zu ihrem Heimatland enormen Konsumgüterangebot gewesen ist. Es spricht vielmehr für eine Integrationsleistung der Antragstellerin, diesen Konsumreizen seit sieben Jahren nicht mehr durch Wegnahme fremder Sachen nachzugeben. [...]

Die Dauer des Aufenthalts der Antragstellerin in der Bundesrepublik beträgt derzeit knapp 12 Jahre. Demgegenüber hat die Antragstellerin ca. 42 Lebensjahre in ihrem Heimatland Armenien bzw. in der früheren Sowjetunion verbracht. Vergleicht man lediglich die Dauer des Aufenthaltes in den jeweiligen Ländern, wird man von einer vollständigen Entwurzelung der Antragstellerin von ihrer Heimat Armenien nicht ausgehen können. Sie hat die Jahre ihrer prägenden Sozialisation dort und nicht in der Bundesrepublik Deutschland verbracht. Indes ist nach dem unbestritten gebliebenen Vortrag der Antragstellerin zu berücksichtigen, dass sie in Armenien keinerlei näheren Familienangehörigen mehr besitzt. Der Verbleib ihres Ehemannes ist unbekannt, ihre Kinder leben, jedenfalls derzeit, sämtlich in der Bundesrepublik Deutschland. Selbst wenn ihre Söhne, die Kläger in den vor der beschließenden Kammer anhängigen Verfahren 2 A 4/10 und 2 A 291/10, in ihre Heimat Armenien zurückkehren müssten, wären sie für die Antragstellerin kein familiärer Halt, denn sie müssten dort ihren Wehrdienst ableisten (vgl. das am 21. September 2010 ergangene Urteil der Kammer im Verfahren 2 A 4/10 und den Beschluss vom 8. Oktober 2010 im Verfahren 2 B 327/10).

Demgegenüber sind die von der Antragstellerin erbrachten Integrationsleistungen in der Bundesrepublik Deutschland sowohl in sozialer wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht derart ausgeprägt, dass sie die Annahme einer vollständigen Verwurzelung in die hiesigen sozialen Lebensverhältnisse rechtfertigen. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners kann der Antragstellerin nicht vorgehalten werden, über lange Jahre ihres Aufenthaltes auf öffentliche Leistungen angewiesen gewesen zu sein. Zum einen ist dies seit dem 1. Juli 2010 in Anbetracht der zum 1. Juni 2010 angetretenen Arbeitsstelle sowie der weiteren Nebenbeschäftigungen der Antragstellerin zur Zeit nicht und auch absehbar nicht mehr der Fall. Maßgeblich für die Entscheidung der Kammer ist die Sach- und Rechtslage in diesem Zeitpunkt. Zum anderen ist zu bedenken, dass die Antragstellerin in der Vergangenheit ihre Tochter ... intensiv betreut hat. Diese Betreuung erstreckte sich bis zu deren Wegzug im Dezember 2009 und hatte ihren Grund darin, dass die Tochter erwiesenermaßen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litt. Dem hat der Antragsgegner dadurch Rechnung getragen, dass er der Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG seit dem 20. Dezember 2007 erteilt hat. Diese ausdrücklich mit der Betreuung der Tochter im Zusammenhang stehende Aufenthaltserlaubnis lässt erkennen, dass der Antragsgegner während dieser Zeit nicht auf der anderen Seite von der Antragstellerin erwarten und verlangen durfte, dass sie ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft sichert. Dass die Antragstellerin hierzu nunmehr bereit und auch in der Lage ist, zeigt ihr erfolgreiches Bemühen um Arbeitsstellen nach Wegzug ihrer Tochter.

Daneben ist die Antragstellerin nicht nur wirtschaftlich in die hiesigen Verhältnisse integriert, sondern sie ist auch sozial vollständig in die örtlichen Verhältnisse Duderstadts eingebunden. Ihr vielfältiges, oben näher beschriebenes soziales Engagement ist umfassend und selbstlos. Die Antragstellerin hat sich hierdurch die Anerkennung und Freundschaft zahlreicher Mitbürger Duderstadts erworben. Sie gehört, wie sich aus den zahlreichen Leumundszeugnissen und Bescheinigungen, die von der Antragstellerin zu den Akten gereicht worden sind, als integraler Bestandteil zu diesem sozialen Umfeld. [...]