OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 28.09.2010 - 1 A 116/09 - asyl.net: M17745
https://www.asyl.net/rsdb/M17745
Leitsatz:

1. Zu den Voraussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU (Zusammenfassung der Rechtsprechung)

2. Dem Freizügigkeitsrecht des Familienangehörigen eines Unionsbürgers steht nicht entgegen, dass dieser vor Inkrafttreten des FreizügG/EU und zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht Familienangehöriger eines Unionsbürgers war, abgeschoben worden ist.

3. Der Ehegatte eines Unionsbürgers, der nicht selbst Unionsbürger ist, bedarf nach Unionsrecht keines vor der Einreise erteilten Visums für einen längerfristigen Aufenthalt, wenn er zu dem Unionsbürger nachzieht.

4. Weder das Freizügigkeitsrecht eines staatenlosen Familienangehörigen eines Unionsbürgers noch dessen Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte setzen den Besitz eines Passes oder eines anerkannten Passersatzes voraus, wenn die Identität des Familienangehörigen auf andere Weise geklärt ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Unionsbürger, Familienangehörige, Aufenthaltsrecht, Aufenthaltskarte, Ehegattennachzug, Familiennachzug, Arbeitnehmerbegriff, Arbeitnehmer, freizügigkeitsberechtigt, Pass, Passersatz, Sperrwirkung, Visum, Feststellungsklage, AEUV Art. 45, Arbeitslosigkeit, geringfügige Beschäftigung, Verlust des Freizügigkeitsrechts
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 102 Abs. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 4, FreizügG/EU § 5 Abs. 2, FreizügG/EU § 6 Abs. 1, FreizügG/EU § 7 Abs. 2, FreizügG/EU § 8 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 5 Abs. 2, StLÜbK Art. 28, AufenthG § 3 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 2 Abs. 2 Nr. 1, SGB III § 284 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 10 Abs. 2 Bst. a, RL 2004/38/EG Art. 25 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Feststellungsantrag ist begründet. Der Kläger hat ein Recht auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet, denn er ist freizügigkeitsberechtigt.

1. Der Kläger ist Familienangehöriger einer Unionsbürgerin. Er ist zu seiner Ehefrau nachgezogen, die rumänische Staatsangehörige ist und sich als Arbeitnehmerin in Deutschland aufhält (§§ 2 Abs. 2 Nrn. 1 und 6, 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 AufenthG/EU). An der Arbeitnehmereigenschaft der Ehefrau des Klägers bestehen jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht keine Zweifel. [...]

b) Die Ehefrau des Klägers ist spätestens seit der Aufnahme einer unbefristeten abhängigen Beschäftigung im Umfang von 30 Wochenstunden zum 05.01.2009 Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Ausweislich der vom Kläger vorgelegten Lohnsteuerbescheinigung 2010 hat sie in der Zeit vom 01.01. bis 15.04.2010 einen durchschnittlichen monatlichen Bruttoarbeitslohn von 866,52 Euro erzielt. Die geringe Höhe des Arbeitslohns steht, wie dargelegt, der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit der Ehefrau des Klägers ist nicht dadurch entfallen, dass das Arbeitsverhältnis zum 15.04.2010 beendet worden ist. Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt nach mehr als einem Jahr Tätigkeit das Freizügigkeitsrecht bei unfreiwilliger durch die zuständige Bundesagentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit unberührt. Die Bundesagentur für Arbeit hat die unfreiwillige Arbeitslosigkeit dadurch bestätigt, dass sie der Ehefrau des Klägers vom 16.04.2010 an, also ohne Verhängung einer Sperrzeit (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III), Arbeitslosengeld nach § 117 SGB III bewilligt hat.

Unabhängig davon ergibt sich das Freizügigkeitsrecht der Klägerin als Arbeitnehmerin auch daraus, dass sie einer geringfügig entlohnten Beschäftigung nachgeht. [...]

c) Der Arbeitnehmerfreizügigkeit der Ehefrau des Klägers ist auch nicht aufgrund der Übergangsregelungen nach Maßgabe des Vertrags über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union eingeschränkt. Soweit solche Regelungen auf Arbeitnehmer anwendbar sind, findet das FreizügG/EU gemäß seinem § 13 Anwendung, wenn die Beschäftigung des rumänischen Arbeitnehmers nach § 284 Abs. 1 SGB III durch die Bundesagentur für Arbeit genehmigt wurde. Vom Vorliegen einer solchen Genehmigung für die Ehefrau des Klägers ist hier auszugehen, denn sie ist Anspruchsvoraussetzung für die Bewilligung von Arbeitslosengeld: Arbeitslosengeld erhält nur, wer den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (§§ 118 Abs. 1 Nr. 1, 119 Abs. 1 Nr. 3 SGB III), und die Verfügbarkeit besteht nur, wenn der Versicherungspflichtige eine Beschäftigung ausüben darf (§ 119 Abs. 5 Nr. 1 SGB III); das wiederum setzt eine Arbeitsgenehmigung nach § 284 Abs. 1 SGB III voraus

2. Das Freizügigkeitsrecht des Klägers entfällt nicht wegen seiner Abschiebung im Jahre 1999.

a) Zwar bestimmt § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, dass ein Ausländer, der abgeschoben worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf. Diese Sperrwirkung findet aber auf den Kläger als Familienangehörigen einer Unionsbürgerin keine Anwendung. Für Familienangehörige von Unionsbürgern gilt nämlich – sofern nicht etwas anderes bestimmt ist – nicht das im AufenthG geregelte allgemeine Ausländerrecht, sondern das FreizügG/EU (§ 1 FreizügG/EU, § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). § 7 Abs. 2 FreizügG/EU sieht eine Sperrwirkung nur für den Fall vor, dass die Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen ihr Freizügigkeitsrecht nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU verloren haben. Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Freizügigkeitsrechts "nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 39 Abs. 3, Art. 46 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft)" festgestellt werden. Eine solche Feststellung ist gegenüber dem Kläger nicht getroffen worden.

b) Die Fortgeltung der Sperrwirkungen der Abschiebung ergibt sich auch nicht aus der Übergangsvorschrift des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Danach bleiben die vor dem Inkrafttreten des FreizügG/EU am 1. Januar 2005 getroffenen ausländerrechtlichen Maßnahmen, insbesondere auch "Abschiebungen einschließlich ihrer Rechtfolgen" wirksam. Gemäß § 11 Abs. 1 FreizügG finden auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt haben, nur die dort ausdrücklich genannten Vorschriften Anwendung. § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gehört nicht zu diesen Vorschriften. Die in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU nicht genannten Vorschriften finden gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU nur Anwendung, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen und den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat. Diese fehlt hier.

c) Die Abschiebung des Klägers im Jahre 1999 kann auch nach ihrem Sinn und Zweck oder aus Gründen der Gleichbehandlung nicht als der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts vergleichbar verstanden werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Fortgeltung der Sperrwirkungen aufgrund von nach früherem Recht ausgesprochenen "Altausweisungen" von Unionsbürgern und deren Familienangehörigen (Urt. v. 04.09.2007 – 1 C 21.07 – BVerwGE 129, 243 = NVwZ 2008, 82) lässt sich, wie das Gericht selbst hervorhebt (Rn 14 a.E.), auf Abschiebungen nicht übertragen.

Die Vergleichbarkeit der "Altausweisungen" von Unionsbürgern und deren Familienangehörigen mit der Verlustfeststellung nach neuem Recht findet ihre Rechtfertigung darin, dass der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach dem bis zum 31.12.2004 geltenden Recht durch eine – nur unter qualifizierten Bedingungen mögliche – Ausweisung bewirkt wurde (§ 12 AufenthG/EWG a. F.: "Einschränkungen der Freizügigkeit"). Die Rechtswirkungen beider Rechtsakte entsprechen sich; es würde deshalb zu einer "nicht gerechtfertigten intertemporalen Ungleichbehandlung" (BVerwG, a. a. O., Rn 14) führen, wenn der durch die Ausweisung nach früherem Recht bewirkten Verlust des Freizügigkeitsrechts anders als die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit nach heutigem Recht zu behandeln wäre.

Die "Altabschiebung" enthielt aber keine materielle Entscheidung über den Verlust eines Aufenthaltsoder Freizügigkeitsrechts. Es handelte sich um eine reine Vollstreckungsmaßnahme zur Durchsetzung einer – aus welchen Gründen auch immer bestehenden – Ausreisepflicht. Das gilt nach neuem Recht gleichermaßen (vgl. §§ 7 Abs. 1 Sätze 3 bis 5, 11 Abs. 2 FreizügG/EU i. V. m. § 58ff. AufenthG).

Eine Anwendung der Sperrwirkung auf "Altabschiebungen" von Unionsbürgern und deren Familienangehörigen würde zudem eine intertemporale Ungleichbehandlung nicht vermeiden, sondern erst begründen: Anders als im Fall der Fortgeltung der Sperrwirkung von "Altausweisungen" würde eine durch "Altabschiebungen" bewirkte Sperrwirkung die Anknüpfung die betroffenen Personen schlechter stellen als sie bei einer Abschiebung nach neuem Recht stünden, denn nach neuem Recht löst die Abschiebung von Unionsbürgern und deren Familienangehörigen keine Sperrwirkung aus.

Unabhängig davon ist die zitierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den "Altausweisungen" für den Fall des Klägers noch aus einem anderen Grunde nicht einschlägig. Sie gilt nur für "Altausweisungen" von Ausländern, die zum für die damalige Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt als Unionsbürger oder deren Familienangehörige freizügigkeitsberechtigt waren. Erfolgte die Ausweisung des Staatsangehörigen eines (heutigen) Mitgliedstaates der Europäischen Union oder seines Familienangehörigen vor dem Beitritt dieses Mitgliedstaates zur Europäischen Union, enthielt diese Maßnahme keine Regelung über ein gemeinschaftsrechtlich begründetes Freizügigkeitsrecht. Dazu bestand kein Anlass, und dementsprechend wurde auch nicht geprüft, ob die gegenüber dem allgemeinen Ausweisungsrecht qualifizierten Voraussetzungen für den Verlust der Freizügigkeit vorlagen (wie hier: Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Rn 4 zu § 102 <Stand Mai 2010>). Der Kläger ist erst seit dem 01.01.2007 Familienangehöriger einer Unionsbürgerin, denn seine Ehefrau ist erst durch den Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union Unionsbürgerin geworden.

3. Dem Freizügigkeitsrecht des Klägers steht auch nicht entgegen, dass er nicht mit einem vor der Einreise erteilten Visum für einen längeren Aufenthalt zum Zweck des Familiennachzugs eingereist ist.

Nach der zum Zeitpunkt der Einreise des Klägers geltenden Fassung des § 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU vom 30.07.2004 bedurften Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht selbst Unionsbürger waren, eines Visums für die Einreise nur dann, wenn dies in einer Rechtsvorschrift vorgesehen war. Eine solche Rechtsvorschrift gab es aber nicht. § 6 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, der ein solches Erfordernis enthält, galt nicht für den Kläger, weil das Aufenthaltsgesetz auf die vom FreizügG/EU erfassten Ausländer nur insoweit anwendbar ist, als dies durch Gesetz ausdrücklich bestimmt ist (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG), und eine solche gesetzliche Bestimmung fehlte; auch eine entsprechende Anwendung nach § 11 Abs. 1 FreizügG/EU war nicht vorgesehen (vgl. Epe, in: GK-AufenthG <Stand April 2008>, Rn 130 zu § 2 FreizügG/EU). Die Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind, enthielt nur Vorschriften über die Erteilung von Visa für Aufenthalte von unter drei Monaten (vgl. Epe, a. a. O., Rn 129; HK-AuslR/Hoffmann, 2008, Rn 35 zu § 2 FreizügG/EU ). Ein solches Visum ist dem Kläger von der Bundespolizei erteilt worden. Der Kläger ist daher nicht unter Verstoß gegen Visabestimmungen eingereist.

Ein vor der Einreise erteiltes Visum zum Daueraufenthalt hätte vom Kläger auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 2 UA 1 Satz 1 der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38 nicht verlangt werden dürfen. Danach ist von Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union besitzen, lediglich ein Einreisevisum gemäß der VO (EG) Nr. 539/2001 oder eventuellen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zu verlangen. Nach Art. 5 Abs. 2 UA 2 Satz 1 RL 2004/38 treffen die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen, um diesen Personen die Beschaffung der erforderlichen Visa zu erleichtern. Das bedeutet, wie der Europäische Gerichtshof für die entsprechenden Bestimmungen der zuvor geltenden Richtlinien (RL 1968/360 und 1973/148) entschieden hat, dass das Visum "unverzüglich und nach Möglichkeit an den Einreisestellen in das nationale Hoheitsgebiet" zu erteilen ist (Urt. v. 25.07.2002 – Rs. C-459/99 – MRAX, Slg. 2002, I-6591 = InfAuslR 2002, 417, Rn 60). Das Erfordernis eines Aufenthaltsvisums zum Zweck der Familienzusammenführung als Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist deshalb nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urt. v. 14.04.2005 – Rs. C-157/03 – Kommission ./. Spanien –, Slg. 2005, I-2911 = InfAuslR 2005, 229, Rn 38) mit den genannten Richtlinien nicht vereinbar.

Dasselbe gilt für die Weigerung eines Mitgliedstaats, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, weil er zuvor ein Aufnahmevisum bei der zuständigen Auslandsvertretung hätte beantragen müssen (EuGH, Urt. v. 14.04.2005 – Rs. C-157/03 – Kommission ./. Spanien –, Slg. 2005, I-2911 = InfAuslR 2005,229, Rn 38). Daran hat sich unter der Geltung der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38 nichts geändert. In seinem Urteil vom 25.07.2008 (Rs C-127/08 – Metock u. a., Slg. 2008,I-6241 = NVwZ 2008, 1097, Rn 99; ebenso Beschl. v. 19.12.2008 – Rs. C-551/07 – Sahin -, Slg. I-10453 = NVwZ 2009, 293, Rn 32) hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass sich ein Drittstaatsangehöriger, der als Ehegatte einem Unionsbürger nachzieht, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, auf die Freizügigkeitsbestimmungen dieser Richtlinie unabhängig davon berufen kann, wie er in den Mitgliedstaat eingereist ist.

4. Das Freizügigkeitsrecht des Klägers scheitert auch nicht daran, dass er über keinen gültigen Pass oder anerkannten Passersatz verfügt.

Nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 FreizügG/EU sind Unionsbürger und ihre Familienangehörigen zwar verpflichtet, für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet den erforderlichen Pass oder Passersatz zu besitzen. Die Erfüllung dieser Pflicht hat aber rein ordnungsrechtlichen Charakter und ist nicht Voraussetzung für das Freizügigkeitsrecht.

Das zeigt schon ein Vergleich zu den Vorschriften des allgemeinen Ausländerrechts. Die dort vorgesehene Passpflicht (§ 3 Abs. 1 AufenthG) ist Regelvoraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG); der Aufenthaltstitel kann widerrufen werden, wenn der Ausländer keinen gültigen Pass oder Passersatz mehr besitzt (§ 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Vergleichbare Vorschriften enthält das FreizügG/EU nicht. Der Besitz eines gültigen Reisepasses gehört nicht zu den Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU. § 6 Abs. 7 FreizügG/EU bestimmt ausdrücklich, dass die Beendigung des Aufenthalts nicht damit begründet werden kann, dass der Pass oder Passersatz ungültig wird.

Die rein ordnungsrechtliche Ausgestaltung der Passvorschriften trägt den Vorgaben des Unionsrechts Rechnung. Danach besteht, wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 31.07. 2009 (1 B 169/09 – NVwZ-RR 2010, 256 = InfAuslR 2009, 370) ausgeführt hat, das Recht auf Freizügigkeit unabhängig von dem Besitz eines gültigen Passes. Das Recht des Familienangehörigen auf Einreise und Aufenthalt folgt allein aus der familiären Beziehung zu dem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger (EuGH, Urt. v. 25.07.2002 – Rs. C-459/99 – MRAX, Slg. 2002, I-6591 = InfAuslR 2002, 417, Rn 59; vgl. auch Urt. v. 25.07.2008 – Rs. C-127/08 – Metock, Slg. 2008,I-6241 = NVwZ 2008, 1097, Rn 93). Das Erfordernis eines gültigen Nationalpasses dient in diesem Zusammenhang allein dem Nachweis seiner Identität als Familienangehöriger eines Unionsbürger; lassen sich diese auf andere Art und Weise nachweisen, bedarf es ihrer nicht (EuGH, Urt. v. 25.07.2002 – Rs. C- 459/99 – MRAX, Slg. 2002, I-6591 = InfAuslR 2002, 417, Rn 61f.; Urt. v. 17.02.2005 – Rs. C-215/03 – Oulane, Slg. 2005 I-1215 = NJW 2005, 1033, Rn 26). Das Erfordernis eines gültigen Passes oder anerkannten Passersatzes ist nicht Voraussetzung des Freizügigkeitsrechts, sondern erleichtert nur dessen Feststellung (EuGH, Urt. v. 17.02.2005, Rs. C-215/03 – Oulane, Slg. 2005 I-1215 = NJW 2005, 1033, Rn 22); es stellt "eine Verwaltungsformalität dar, die nur der Feststellung eines aus der Eigenschaft des Betroffenen unmittelbar fließenden Rechts durch die nationalen Behörden dient" (a.a.O., Rn 24). Daran hat sich nach Inkrafttreten der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38 nichts geändert (a a.O., Rn 20). Zwar sieht Art. 10 Abs. 2 lit. a) RL 2004/38 vor, dass die Mitgliedstaaten für die Ausstellung der Aufenthaltskarte an den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, die Vorlage eines gültigen Reisepasses verlangen; nach Art 25 Abs. 1 RL 04/38 darf die Ausübung eines Aufenthaltsrechts aber unter keinen Umständen vom Besitz einer Aufenthaltskarte abhängig gemacht werden, wenn das Recht durch ein anderes Beweismittel nachgewiesen werden kann.

An der Identität des Klägers, seiner Eigenschaft als Ehemann einer Unionsbürgerin und seiner früheren türkischen Staatsangehörigkeit und der Ausbürgerung bestehen bestehen hier aber keine Zweifel. Der letzte türkische Reisepass des Klägers mit der Eintragung "haymatlos" ist am 06.09.2007 von der Beklagten eingezogen und zur Behördenakte genommen worden (Band 5 Blatt 952).

B.

Die Beklagte ist zur Erteilung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern an den Kläger zu verpflichten.

I. Der Verpflichtungsantrag ist zulässig.

Dabei kann offen bleiben, ob es sich bei dem Verpflichtungsantrag lediglich um eine Klarstellung des ursprünglichen Begehrens oder eine Erweiterung dieses Begehrens in Form einer zulässigen Klageänderung (§ 91 Abs. 1 VwGO) handelt. Er ist nämlich in jedem Fall sachdienlich.

Die beantragte Verpflichtung ist neben der begehrten Feststellung erforderlich. Das Rechtsschutzinteresse an der Verpflichtung entfällt nicht, wenn die Feststellung getroffen wird. Die Beklagte hat nämlich in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht erklärt, dass sie dem Kläger auch dann keine Aufenthaltskarte ausstellen werde, weil er seiner Passpflicht nicht genüge. Zur Beendigung des zwischen den Beteiligten bestehenden Streits bedarf es deshalb auch einer Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltskarte.

II. Der Antrag ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Ausstellung einer Aufenthaltskarte.

Der Anspruch beruht auf § 5 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Danach wird freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen, die nicht selbst Unionsbürger sind, von Amts wegen innerhalb von sechs Monaten, nachdem sie die erforderlichen Angaben gemacht haben, eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern ausgestellt, die fünf Jahre gültig sein soll.

Zwar darf die zuständige Behörde von dem Familienangehörigen für die Ausstellung der Aufenthaltskarte einen anerkannten oder sonst zugelassenen gültigen Pass oder Passersatz verlangen (§ 5a Abs. 2 FreizügG/EU). Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 31.7.2009 (1 B 169/09 – NVwZ-RR 2010, 256 = InfAuslR 2009, 370) ausgeführt hat, enthält die Vorschrift keine Verpflichtung, sondern lediglich eine Ermächtigung ("darf"), die Vorlage eines Passes oder Passersatzes zu verlangen (zum Charakter der Vorschrift als Ermessensvorschrift vgl. HK-AuslR-Geyer, 2008, Rn 2 zu § 5a FreizügG/EU; siehe ferner Ziff. 5a.2 AVwV-FreizügG/EU: "verlangen kann"). Ist die Identität des Familienangehörigen auf andere Weise nachgewiesen, wäre es nach der zitierten Rechtsprechung des Senats unverhältnismäßig, die Ausstellung der Aufenthaltskarte von der Vorlage eines gültigen Passes abhängig zu machen.

Das gilt in besonderem Maße, wenn – wie hier – der Familienangehörige staatenlos und die Ausländerbehörde für die Ausstellung eines Passersatzes zuständig und zu ihr verpflichtet, aber nicht bereit ist:

Die Beklagte hat die Ausstellung einer Aufenthaltskarte in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht davon abhängig gemacht, dass sich der Kläger entweder einen Reiseausweis für Staatenlose durch die türkischen Behörden oder ein vergleichbares Dokument ausstellen lasse oder aber mit Erfolg um seine Wiedereinbürgerung in die Türkei bemühe. Dabei übersieht die Beklagte, dass für die Ausstellung eines Reiseausweises für Staatenlose nicht der Heimatstaat, sondern der Aufenthaltsstaat zuständig ist. Nach Art. 28 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen (StLÜbk) vom 28. September 1954 (BGBl. 1976 II S. 474) werden die Reiseausweise nämlich von den Staaten, in denen sich die Staatenlosen aufhalten, ausgestellt. Der Kläger hat, weil er sich rechtmäßig in Deutschland aufhält, einen Anspruch auf Ausstellung eines solchen Ausweises gegen die Beklagte nach Art. 28 Satz 1 StLÜbk. Da der Beklagten – anders als in den Fällen des Art. 28 Satz 2 StLÜbk, in denen es an der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts fehlt – kein Ermessen zusteht, stellt sich die Frage nicht, ob sie den Kläger darauf verweisen darf, sich zunächst um seine Wiedereinbürgerung in den türkischen Staatsverband zu bemühen. Ein von deutschen Behörden ausgestellter Reiseausweis für Staatenlose gilt nach §§ 1 Abs. 4, § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthV als Passersatzpapier. Es liegt also in der Hand der Beklagten, dem Kläger den von ihr für erforderlich gehaltenen anerkannten Passersatz zu verschaffen. Solange sie dazu nicht bereit ist, obwohl sie zur Ausstellung des Passersatzes verpflichtet ist, kann sie sich jedenfalls nicht darauf berufen, der Kläger habe die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nicht erfüllt, weil er keinen anerkannten Passersatz vorgelegt habe. [...]