VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 07.10.2010 - 4 K 504/10 - asyl.net: M17788
https://www.asyl.net/rsdb/M17788
Leitsatz:

Keine Aussetzung des Verfahrens (§ 79 Abs. 2 AufenthG) bei einem mit einer Deutschen verheirateten Ausländer aufgrund eines Strafverfahrens wegen Identitätstäuschung. Es liegt zwar ein Ausweisungsgrund vor, jedoch ist bei der Ermessensentscheidung der besondere Ausweisungsschutz zu berücksichtigen, nach welchem eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Betracht kommt. Die Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG hätte daher erteilt werden müssen.

Schlagwörter: Verfahrenskosten, Erledigung der Hauptsache, Untätigkeitsklage, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Strafverfahren, Täuschung über Identität, Ausweisungsgrund, atypischer Ausnahmefall, besonderer Ausweisungsschutz, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, deutscher Ehegatte, Zumutbarkeit, Wiederholungsgefahr
Normen: VwGO § 161 Abs. 3, VwGO § 75 S. 1, AufenthG § 79 Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 2, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 55, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 56 S. 2, AufenthG § 28
Auszüge:

[...]

Über die Kosten des Verfahrens hat das Gericht gemäß § 161 Abs. 3 VwGO zu entscheiden. Die Klage war als Untätigkeitsklage gemäß § 75 S. 1 VwGO statthaft, weil die Beklagte den Antrag des Klägers vom 20.04.2009 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (BA 131, 473 - 479) nicht innerhalb angemessener Frist beschieden hat. Danach hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen, weil ein zureichender Grund für die Säumnis nicht erkennbar war und der Kläger mit einer Bescheidung vor Klageerhebung rechnen durfte. Insbesondere bestand in dem zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits bei der Staatsanwaltschaft Hildesheim anhängigen Strafverfahren (13 Js 30192/09) kein solcher zureichender Grund für die Nichtbescheidung. Zwar ist gemäß § 79 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG das ausländerrechtliche Verfahren auszusetzen, wenn wegen des Verdachts einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit ermittelt wird. Jedoch gilt dies nicht, wenn über den Aufenthaltstitel ohne Rücksicht auf den Ausgang des Verfahrens entschieden werden kann, § 79 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz AufenthG. Das ist u.a. dann der Fall, wenn das dem Ausländer zur Last gelegte Verhalten selbst im Fall eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs keine Bedeutung für das ausländerrechtliche Verfahren hat (Hailbronner, AuslR, 63, Aktualisierung, § 79 Rn. 23). Davon ist hier auszugehen. Dem Kläger wurde ein dreifacher Verstoß gegen § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG zur Last gelegt, weil er bei den jeweiligen Duldungsanträgen über seine wahre Identität getäuscht hatte. Selbst wenn er wegen dieser Straftaten verurteilt worden wäre, hätte die Beklagte ihm dies nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegenhalten dürfen. Zwar stellt dieses Verhalten zumindest nach § 55 AufenthG einen Ausweisungsgrund dar. Der Ausweisungsgrund steht der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis aber nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen. Denn es ist ein Ausnahmefall gegeben, der dazu führt, dass der Rechtsanspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erhalten bleibt.

Bei der Prüfung, ob ein Ausweisungsgrund ausnahmsweise nicht das vom Gesetzgeber in § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG für den Regelfall angenommene Gewicht hat, können die in § 56 AufenthG getroffenen Wertungen nicht unberücksichtigt bleiben. § 56 AufenthG sieht für bestimmte Personengruppen einen besonderen Ausweisungsschutz vor; die Betreffenden dürfen nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (Abs. 1 S. 2). Die Einbeziehung von ausländischen Ehegatten deutscher Staatsangehöriger in den besonderen Ausweisungsschutz (Abs. 1 S. 1 Nr. 4) trägt den Vorgaben Rechnung, die aus Art. 6 GG resultieren. Aus Art. 8 EMRK folgt ebenfalls, dass jedenfalls dann, wenn die Ausweisung zur Trennung der Ehegatten führt, ein qualifizierter Ausweisungsgrund gegeben sein muss (vgl. EGMR, Urt. v. 31.01.2006 - 50 252/99 -, InfAuslR 2006, 255). Das Gewicht des Ausweisungsgrundes ist danach das maßgebliche Kriterium, nach dem sich die Zumutbarkeit einer ausländerbehördlich veranlassten Trennung der Ehegatten beurteilt. Da die im Rahmen von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorzunehmende Prüfung sich auch auf die Schutzwirkungen erstreckt, die sich aus höherrangigem Recht ergeben (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 - 1 C 3.08 -, a.a.O.), kann das Fehlen eines hinreichend gewichtigen, d.h. schwerwiegenden Ausweisungsgrundes mithin einen Ausnahmefall begründen.

Ein schwerwiegender Ausweisungsgrund nach § 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG, der die Ausweisung des ausländischen Ehegatten eines deutschen Staatsangehörigen rechtfertigen kann, ist in spezialpräventiver Hinsicht nur dann gegeben, wenn - erstens - dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommt und - zweitens - erneute Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohen und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.06.1996 - 1 C 24.94 -, BVerwGE 101, 247).

Hier ist es bereits fraglich, ob dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht in diesem Sinne zukommt. Jedenfalls aber ist nicht von einer Wiederholungsgefahr auszugehen. Der Kläger hat zwischenzeitlich seine wahre Identität offenbart. Weitere Verstöße sind insoweit also nicht zu befürchten. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass der Kläger bereits in der Vergangenheit mehrfach straffällig geworden ist. Dabei handelt es sich nahezu ausschließlich um Verstöße gegen das Asylverfahrensgesetz und Verstöße gegen die räumliche Beschränkung seiner Duldung. Solche Taten sind zukünftig aufgrund des nunmehr gesicherten Aufenthaltsrechts des Klägers nicht mehr zu befürchten. Die einmalige Verurteilung wegen Besitzes von Betäubungsmitteln vom 01.08.2005 zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen stellt ebenfalls keinen hinreichend schwerwiegenden Ausweisungsanlass dar. Diese Auffassung wird im Übrigen offensichtlich auch durch die Beklagte geteilt, die dem Kläger nunmehr die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG zugesichert hat. [...]