VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 05.10.2010 - 12 K 4084/09 [ASYLMAGAZIN 2010, S. 432 ff.] - asyl.net: M17798
https://www.asyl.net/rsdb/M17798
Leitsatz:

Verpflichtung zur Erweiterung der bereits erteilten Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (§ 25 Abs. 5 AufenthG) um den Zweck der Familienzusammenführung (§ 30 Abs. 1 AufenthG). Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu mehreren unterschiedlichen Zwecken ist gesetzlich nicht ausgeschlossen.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltszweck, Rechtsschutzinteresse, Trennungsprinzip
Normen: AufenthG § 7 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 101 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 55 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Unter Aufhebung der Ordnungsverfügung des Beklagten vom 12. Juni 2009 wird der Beklagte verpflichtet, die dem Kläger auf Grundlage von § 25 Abs. 5 AufenthG aus humanitären Gründen erteilte Aufenthaltserlaubnis um den Zweck der Familienzusammenführung nach § 30 Abs. 1 AufenthG zu erweitern. [...]

Die Klage ist zulässig (I.) und hat auch in der Sache Erfolg (II.).

I. Das Gericht legt den Antrag des Klägers gemäß § 88 VwGO klarstellend dahingehend aus, dass er eine Erweiterung seiner aus humanitären Gründen erteilten und aktuell bis zum 8. April 2011 befristeten Aufenthaltserlaubnis zu dem weiteren Zweck des Familiennachzugs gemäß § 30 Abs. 1 AufenthG erstrebt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat bereits im Verwaltungsverfahren und nochmals in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass nicht die Erteilung zweier paralleler Aufenthaltserlaubnisse begehrt werde, sondern lediglich die Erweiterung der bestehenden Aufenthaltserlaubnis um den weiteren Zweck des Familiennachzugs.

Für dieses Begehren ist der Kläger klagebefugt, § 42 Abs. 2 VwGO. Denn es kann im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung nicht ausgeschlossen werden, dass dem Kläger der geltend gemachte Anspruch zusteht. Die Frage, ob eine Aufenthaltserlaubnis zu mehreren Zwecken erteilt werden kann, ist - soweit sich überhaupt Stellungnahmen finden lassen - umstritten.

Es fehlt auch nicht am Rechtsschutzinteresse. Zwar wird der Aufenthalt des Klägers bereits jetzt durch die ihm erteilte Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG legalisiert. Eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs würde jedoch seine aufenthaltsrechtliche Stellung insoweit verbessern, als mit ihr ein Familiennachzug gewährt werden könnte, vgl. § 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG. Derzeit sind die Kinder des Antragstellers zwar im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Eine zum Zweck des Familiennachzugs erteilte Aufenthaltserlaubnis würde aber über § 35 Abs. 1 AufenthG ihre Aufenthaltsverfestigung erleichtern. Jedenfalls nach Maßgabe von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG stellt dies auch für den Kläger ein zu berücksichtigendes rechtliches Interesse dar. Auch in Bezug auf die Berechtigung zum Empfang von Sozialleistungen erscheint eine Verbesserung der Rechtsstellung des Klägers angesichts der Regelung des § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG möglich (so für das nach § 43 Abs. 1 VwGO erforderliche Feststellungsinteresse auch VG Aachen, Urteil vom 11. Februar 2009 - 8 K 1125/06 -, NRWE, Rn. 38).

II. Die Klage ist begründet. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Erweiterung der ihm nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu humanitären Zwecken erteilten Aufenthaltserlaubnis zu dem weiteren Zweck des Familiennachzugs gemäß § 30 Abs. 1 AufenthG zu. Die Ablehnung dieser Erweiterung durch die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 12.Juni 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO.

Die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger gemäß § 30 Abs. 1 AufenthG liegen - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - vor. Insbesondere erfüllt der Ausländer, zu dem der Familiennachzug begehrt wird, hier die Ehefrau des Klägers, die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. Denn die Ehefrau besitzt eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 AufenthG, § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 lit. c) AufenthG, welche ihr am 2. September 2008 erteilt wurde. Damit ist sie zum vorliegend erheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zugleich seit zwei Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 lit. d). [...].

Dem geltend gemachten Anspruch könnte daher mit der Auffassung des Beklagten nur entgegen stehen, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu mehreren unterschiedlichen Zwecken ausgeschlossen ist. Das ist nach Ansicht der Kammer indes nicht der Fall. Dabei ist das Gericht im Ausgangspunkt der Auffassung, dass sich ein solcher Ausschluss aus dem Gesetz ergeben müsste und dass nicht umgekehrt das Gesetz die Möglichkeit der Erteilung eines Aufenthaltstitels zu mehreren Zwecken vorsehen müsste (anders jedenfalls für die Erteilung mehrerer Aufenthaltstitel nebeneinander VG Düsseldorf, Beschluss vom 29. Juli 2010 - 22 K 5087/09 -, juris, Rn. 17 m.w.N.).

Denn bei Vorliegen der Voraussetzungen steht dem Ausländer kraft Gesetzes ein - ggf. in das Ermessen der Behörde gestellter - Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu einem bestimmten Zweck zu. Ein diesem Anspruch entgegen stehender Ausschluss müsste sich ebenfalls wenn nicht explizit, so zumindest durch Auslegung mit hinreichender, dem Gebot rechtsstaatlicher Normenklarheit genügender Eindeutigkeit dem Gesetz entnehmen lassen. Das aber ist nicht der Fall.

Dem Wortlaut des Aufenthaltsgesetzes lassen sich keine zwingenden Argumente für die Beantwortung der vorliegenden Frage entnehmen. § 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG spricht für die Auffassung des Klägers, weil danach die Aufenthaltserlaubnis zu den in den nachfolgenden Abschnitten des Gesetzes genannten "Aufenthaltszwecken" erteilt wird. Nach § 7 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Aufenthaltserlaubnis indes unter Berücksichtigung des "beabsichtigten Aufenthaltszwecks" zu befristen. § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG enthält zwar ebenfalls Anhaltspunkte für die Auffassung des Beklagten. Danach gilt eine vor dem 1. Januar 2005 erteilte Aufenthaltsberechtigung oder unbefristete Aufenthaltserlaubnis als Niederlassungserlaubnis "entsprechend dem ihrer Erteilung zu Grunde liegenden Aufenthaltszweck" fort. Damit sind jedoch Aufenthaltstitel in Bezug genommen, die vor Geltung des Aufenthaltsgesetzes erteilt wurden. Vorliegend geht es jedoch um die Frage, ob eine unter Geltung des Aufenthaltsgesetzes erteilte Aufenthaltserlaubnis zu mehreren Zwecken erteilt werden kann.

Selbst wenn man der Übergangsvorschrift des § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG die Auffassung des Gesetzgebers entnehmen wollte, vor Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes habe eine Aufenthaltsberechtigung oder unbefristete Aufenthaltserlaubnis - sofern sie überhaupt zweckgebunden erteilt wurde (vgl. etwa § 15 AuslG 2001) - nur zu einem Zweck erteilt werden können, lässt sich ihr jedenfalls nicht entnehmen, dass eine Beschränkung auf einen Zweck auch unter Geltung des Aufenthaltsgesetzes gelten soll. Denn mit dem Aufenthaltsgesetz hat der Gesetzgeber einen Systemwechsel vollzogen, aufgrund dessen nicht ohne Weiteres von der Fortgeltung früherer Regelungsgehalte ausgegangen werden kann. Der Gesetzgeber hat mit dem Aufenthaltsgesetz die formale Zahl der Aufenthaltstitel reduziert und die erforderliche Differenzierung dadurch vorgenommen, dass eine Aufenthaltserlaubnis zu unterschiedlichen Zwecken erteilt werden kann.

Überdies sprechen die Gesetzgebungsmaterialen gegen die vom Beklagten vertretene Interpretation des § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Dort heißt es im Hinblick auf die Zweckbindung eines Aufenthaltstitels: "Mit einem Aufenthaltstitel können daher verschiedene Rechtsstellungen verbunden sein." Zudem müsse bei der Überleitung von nach dem Ausländergesetz erteilten Aufenthaltsgenehmigungen in das neue Recht "der Aufenthaltstitel den Aufenthaltszwecken zugeordnet werden" (BT-Drs. 15/420, S. 99 f. zu § 101 AufenthG).

In systematischer Sicht lässt sich die Auffassung des Beklagten auch nicht auf § 16 Abs. 2 Satz 1 AufenthG stützen. Nach dieser Vorschrift soll während eines zu Studienzwecken gewährten Aufenthalts in der Regel keine Aufenthaltserlaubnis für einen anderen Aufenthaltszweck erteilt oder verlängert werden, sofern nicht ein gesetzlicher Anspruch besteht. Zwar wird damit die Möglichkeit eines Zweckwechsels anerkannt. Regelungen zum Zweckwechsel wären entgegen der Ansicht des Beklagten aber nicht überflüssig, wenn auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu mehreren Zwecken möglich wäre. Wenn die Voraussetzungen für eine zu einem bestimmten Zweck erteilte Aufenthaltserlaubnis wegfallen, kann nämlich fraglich sein, ob ein Wechsel zu einem anderen Zweck überhaupt zulässig oder ob nicht vielmehr die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu einem anderen Zweck ausgeschlossen ist. So liegt es gerade im Fall einer zu Studienzwecken erteilten Aufenthaltserlaubnis. Der Vorstellung des Gesetzgebers entspricht es, dass ein Ausländer, der sich zu Studienzwecken im Bundesgebiet aufhält, während eines solchen Aufenthalts grundsätzlich auf diesen Zweck begrenzt bleibt. Eine Verfolgung anderer Zwecke soll unterbleiben (vgl. Storr/Kreuzer, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms/Kreuzer, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2008, § 16, Rn. 19 m.w.N.).

Überdies zeigt § 55 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG in systematischer Hinsicht, dass dem Bundesgesetzgeber das Bestehen verschiedener - und in ihren Rechtsfolgen ganz unterschiedlich ausgestalteter - Rechtsstellungen eines Ausländers nicht fremd ist. Nach dieser Vorschrift erlischt mit der Stellung eines Asylantrags (lediglich) ein Aufenthaltstitel mit einer Gesamtdauer bis zu sechs Monaten. Sofern der Ausländer über einen Aufenthaltstitel mit einer längeren Laufzeit verfügt, ist er nach der Stellung des Asylantrags sowohl im Besitz dieses asylverfahrensunabhängigen Aufenthaltstitels als auch einer asylrechtlichen Gestaltung nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Loseblattkommentar, Bd. 4, § 55 AsylVfG, Rn. 34 (Stand August 2009)).

Zwingende Argumente für die Auffassung des Beklagten liefert ferner auch nicht die Genese des Aufenthaltsgesetzes, soweit nach der Gesetzesbegründung "die gesetzliche Grundlage" für die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf dem über den Titel auszustellenden Dokument zu vermerken ist (BT-Drs. 15/420, S. 69, 2. Absatz).

Denn die gesetzliche Grundlage kann auch mehrere Normen und damit Zwecke umfassen. Daher vermag auch § 59 Abs. 3 AufenthV, wonach die für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis "maßgebliche Rechtsgrundlage" auf jener zu vermerken ist, ungeachtet des Umstands nicht zu überzeugen, dass eine Verordnung für die Auslegung eines Gesetzes ohnehin allenfalls indizielle Bedeutung haben kann. Im Ergebnis ebenfalls nicht überzeugend ist insofern der Hinweis des Beklagten auf Ziffer 4.1.0.2. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz, wonach "der Erteilungsgrund" des Aufenthaltstitels auf dem Klebeetikett vermerkt wird (GMBl. 2009, Nr. 42 - 61, S. 907).

Soweit die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu mehreren Zwecken in der Rechtsprechung wegen des in § 7 und § 8 AufenthG verankerten Trennungsprinzips für unzulässig gehalten wird (so VG Düsseldorf, a.a.O., juris, Rn. 8 f.; ähnl. VG Stuttgart, Urteil vom 8. August 2008 - 9 K 627/08 -, juris, Rn. 23 f. ("dem System von Aufenthaltsgesetz und Aufenthaltsverordnung (...) fremd"), folgt die Kammer dem nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ein Ausländer aufgrund des Trennungsprinzip zwischen den in den Abschnitten 3 bis 7 des Aufenthaltsgesetzes näher beschriebenen Aufenthaltszwecken regelmäßig darauf verwiesen, seine aufenthaltsrechtlichen Ansprüche aus den Rechtsgrundlagen abzuleiten, die der Gesetzgeber für die spezifischen vom Ausländer verfolgten Aufenthaltszwecke geschaffen hat (BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 43.06 -, juris, Rn. 26; Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 11.08 -, juris, Rn. 13).

Damit handelt es sich bei den unterschiedlichen Arten von Aufenthaltserlaubnissen um jeweils eigenständige Regelungsgegenstände, die eigenständig nach den spezifischen Vorschriften zu beurteilen sind. So ist etwa bei der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu prüfen, ob ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu einem anderen Zweck besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2009, a.a.O.).

Die eigenständige Beurteilung der verschiedenen Zwecke bedeutet aber nicht, dass eine Aufenthaltserlaubnis nicht zu mehreren - eigenständig zu beurteilenden - Zwecken erteilt werden könnte.

Aufgrund des Zusammenhangs zwischen Aufenthaltserlaubnis und Aufenthaltszweck ist eine Aufenthaltserlaubnis je nach Zweck zu befristen. Entgegen der Ansicht des VG Düsseldorf, a.a.O., juris, Rn. 10, führt dies aber nicht dazu, dass bei der Verfolgung mehrerer paralleler Zwecke mehrere Aufenthaltstitel mit unterschiedlichen Gültigkeitszeiträumen erteilt werden müssten. Denn es spricht rechtlich nichts dagegen, die unterschiedlichen Gültigkeitszeiträume auf dem Aufenthaltstitel, etwa in dem Feld für Anmerkungen, zu vermerken (vgl. VG Stuttgart, a.a.O., juris, Rn. 24, mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Eintragung mehrerer Rechtsgrundlagen im Feld "Anmerkungen"; ferner Renner, Ausländerrecht, Kommentar, 8. Aufl. 2005, § 7, Rn. 11; Müller, in: Hofmann/Hoffmann (Hg.), Ausländerrecht, Handkommentar, § 7, Rn. 6; ähnl. Hofmann, ebd., § 101, Rn. 3).

Danach ließen sich die vom Beklagten angeführten praktischen Probleme lösen. Soweit die Prozessbevollmächtigten des Beklagten in der mündlichen Verhandlung angegeben haben, das ausländerbehördliche Meldesystem lasse die Registrierung mehrerer Zwecke einer Aufenthaltserlaubnis nicht zu, verkennt die Kammer - den Vortrag als zutreffend unterstellt - nicht die sich aus der vorliegenden Entscheidung zunächst ergebenden praktischen Probleme. Diese können jedoch nicht zu Lasten des Ausländers gehen. Vielmehr müssen Arbeitshilfen wie Meldesysteme den rechtlichen Anforderungen entsprechend ausgestaltet werden, nicht umgekehrt. [...]