VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.11.2010 - 11 S 2328/10 - asyl.net: M17886
https://www.asyl.net/rsdb/M17886
Leitsatz:

§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG findet auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 besitzen nach dem europarechtlichen Grundsatz des "effet utile" keine Anwendung.

Solange Widerspruch und Klage gegen eine Ausweisungsverfügung aufschiebende Wirkung entfalten, erlischt das Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 nicht. Mangels Ausreisepflicht kommt eine Verwahrung des Passes nach § 50 Abs. 6 AufenthG nicht in Betracht.

Die Tätigkeit als Kraftfahrer im internationalen Speditionswesen kann einen atypischen Fall begründen, der der Einbehaltung des Passes nach § 50 Abs. 6 AufenthG entgegensteht. Denn Sinn und Zweck des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG dürfen im Einzelfall nicht leer laufen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Assoziationsberechtigte, Familienangehörige, Aufenthaltsrecht, vorläufiger Rechtsschutz, Sofortvollzug, Suspensiveffekt, Ausweisung, effet utile, Erlöschen, Fiktionswirkung, Passverwahrung, Besserstellungsverbot, Verschlechterungsverbot, Ausreisepflicht, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Sperrwirkung, Aufenthaltserlaubnis, atypischer Ausnahmefall, Ermessen,
Normen: AufenthG § 50 Abs. 1, AufenthG § 50 Abs. 6, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 5, AufenthG § 84 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 84 Abs. 2 S. 2, FreizügG/EU § 7 Abs. 1 S. 1, VwGO § 80 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 7 S. 1, ARB 1/80 Art. 13, ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1, ZP Art. 59, VwGO § 123, AufenthG § 48, RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3a, FreizügG/EU § 6 Abs. 5 S. 3, AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 4 Abs. 5 S. 2,
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller hat auch einen Anspruch auf Herausgabe des in Verwahrung genommenen Passes glaubhaft gemacht. Dem Antragsgegner fehlt ein rechtlicher Grund, den Pass des Antragstellers einzubehalten. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) gebietet hier ausnahmsweise die einstweilige Vorwegnahme der Hauptsache.

Nach § 50 Abs. 6 AufenthG soll der Pass eines ausreisepflichtigen Ausländers bis zur Ausreise in Verwahrung genommen werden. Damit soll verhindert werden, dass ausreisepflichtige Ausländer durch Vernichtung ihres Passes oder durch die Behauptung des Passverlustes ihre Ausreise oder Abschiebung zu verhindern oder verzögern suchen. Die Behörde wird in die Lage versetzt, die Erfüllung der Ausreisepflicht zu kontrollieren (vgl. BT-Drs. 15/420, 89; BT-Drs. 11/6321, 71; Hailbronner, AuslR, § 50 AufenthG Rn. 41). Auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht kommt es insoweit nicht an (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.06.2001 - 13 S 542/01 - juris).

1. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung fehlt es derzeit am Vorliegen einer Ausreisepflicht. Der Antragsteller ist nicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, denn sein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 ist (bislang) nicht erloschen. Die Klage gegen die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Tübingen vom 31.08.2008 entfaltet insoweit "echte" aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 VwGO). Die vom Antragsgegner in Bezug genommene Bestimmung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung unberührt lassen, findet vorliegend keine Anwendung.

Der 1965 in der Türkei geborene Antragsteller hat das Bestehen einer Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 glaubhaft gemacht: Er ist als Minderjähriger im Jahre 1979 im Wege der Familienzusammenführung zu sei-nen hier lebenden Eltern gezogen. Sein Vater, ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, hielt sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit längerem rechtmäßig als Arbeitnehmer in Deutschland auf. Der Antragsteller dürfte damit als Familienangehöriger eines jedenfalls in der Vergangenheit dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers - seines Vaters - nach über fünfjährigem ordnungsgemäßem Wohnsitz in Deutschland eine Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 besitzen (vgl. zu den Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 im Einzelnen: Hailbronner, AuslR D 5.2, Art. 7 ARB 1/80).

Ein türkischer Staatsangehöriger, der - wie der Antragsteller - als Kind im Wege der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat einreisen durfte und das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hat, verliert das von diesem Recht auf freien Zugang abgeleitete Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat lediglich in zwei Fallgruppen, nämlich in den Fällen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 oder bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe. Dies gilt auch dann, wenn er älter als 21 Jahre ist, von seinen Eltern keinen Unterhalt mehr erhält, sondern im betreffenden Mitgliedstaat ein selbständiges Leben führt, und dem Arbeitsmarkt mehrere Jahre lang wegen der Verbüßung einer gegen ihn verhängten und nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von solcher Dauer nicht zu Verfügung gestanden hat (vgl. EuGH, Urteil vom 04.10.2007, Rs. C-349/06 <Polat>, NVwZ 2008, 59; Urteil vom 18.07.2007, Rs. C-325/05 <Derin>, NVwZ 2007, 1393 m.w.N.). Das Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts bestimmt sich nicht nach den nationalen Bestimmungen, sondern nach Assoziationsrecht bzw. unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31.07.2007 - 11 S 723/07 - juris).

Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht des Antragstellers kann materiell-rechtlich nur erloschen sein, wenn es in Übereinstimmung mit 14 Abs. 1 ARB 1/80 aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt worden ist. Ob die gegen den Antragsteller verfügte Ausweisung nach Maßgabe des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 in der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung im Ergebnis rechtmäßig ist, ist jedoch derzeit offen. Das Verwaltungsgericht Sigmaringen hat das gegen die Ausweisungsverfügung anhängige Klageverfahren mit Beschluss vom 20.05.2010 - 8 K 636/08 - bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 - 1 C 25.08 - sowie das Vorabentscheidungsersuchen des OVG Nordrhein-Westfalen vom 20.08.2009 - 18 A 2263/08 - ausgesetzt. Die dort aufgeworfenen Fragen dazu, ob Art. 28 Abs. 3a der Unionsbürger-RL 2004/38/EG auf türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition nach dem ARB 1/80 besitzen, Anwendung findet und wie Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie auszulegen ist, sind auch im Fall des Antragstellers, der sich seit über 10 Jahren in Deutschland aufhält, ungeachtet der Tatsache, dass seine Verurteilung wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren (vgl. rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 22.06.2004 - 1 Ks 31 Js 18788/03 -) die Tatbestandsvoraussetzungen der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU in der Fassung vom 19.08.2007 grundsätzlich erfüllt, entscheidungserheblich (vgl. zu den aufzuwerfenden Fragen auch die Vorlagebeschlüsse des VGH Baden-Württemberg vom 22.07.2008 - 13 S 1917/07 - juris und vom 09.04.2009 - 13 S 342/09 - juris; s. hierzu nunmehr auch die Schlussanträge des Generalanwaltes vom 08.06.2010 im anhängigen Verfahren beim EuGH C-145/09 "Tsakouridis", der sich gegen eine enge Auslegung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit ausspricht; zur engen Auslegung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit und zur gebotenen Einzelfallprüfung vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.09.2008 - 13 S 2380/07 - InfAuslR 2008, 439).

Die Tatsache, dass das Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts weder bestandskräftig feststeht, noch die sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet worden ist, führt im Ergebnis dazu, dass derzeit nicht zu Lasten des Antragstellers vom Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgegangen werden kann. Mangels Ausreisepflicht kommt damit eine Passeinbehaltung nach § 50 Abs. 6 AufenthG derzeit nicht in Betracht. [...]

Dem Antragsteller kann die Bestimmung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht entgegen gehalten werden. Danach lassen Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung unberührt. Die zwar wirksame, aber nicht vollziehbare Ausweisung führt bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen nach dem europarechtlichen Grundsatz des "effet utile" nicht zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts aus ARB 1/80. [...]

§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 besitzen, jedoch aus Gründen des Unionsrechts nicht anwendbar. Denn dieses verbietet es, im Zusammenhang mit einer nicht bestandskräftigen Ausweisung einen schematischen, sofort wirksamen Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts anzuerkennen, der keine Rechtfertigung im konkreten Einzelfall hat. [...]

Die Mitgliedstaaten sind nicht befugt, das dem türkischen Staatsangehörigen unmittelbar durch das Unionsrecht verliehene Recht auf freien Zugang zu jeder beruflichen Tätigkeit und das korrelierende Recht, sich zu diesem Zweck im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, derart zu beschränken, dass eine Einzelfallprüfung nicht gewährleistet ist. Der Eintritt des Suspensiveffekts führt daher in Übereinstimmung mit § 80 Abs. 1 VwGO dazu, dass aus der bloß wirksamen, aber nicht vollziehbaren Ausweisung keine negativen Folgerungen für den assoziationsberechtigten Ausländer abgeleitet werden dürfen. Die zuständige Ausländerbehörde hat es - insoweit in Übereinstimmung mit Unionsrecht - in der Hand, bei Vorliegen der hierfür notwendigen Voraussetzungen die sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO aufgrund besonderer öffentlicher Interessen im Einzelfall anzuordnen. Insoweit ist dann auch die erforderliche Einzelfallprüfung im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gewährleistet. Denn hierbei kommt es maßgeblich auf die materiell-rechtliche Frage der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Ausweisung vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 1 ARB 1180 an. Wird jedoch die sofortige Vollziehbarkeit nicht angeordnet, dürfen bis zum Eintritt der Bestandskraft keine nachteiligen Folgen aus der nicht vollziehbaren Ausweisungsverfügung abgeleitet werden. Nur bei dieser Auslegung wird dem europarechtlichen "effet-utile"-Grundsatz hinreichend Rechnung getragen.

Das Besserstellungsverbot aus Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG-Türkei dürfte dem nicht entgegenstehen. Türkische Staatsangehörige dürfen danach keine günstigere Behandlung erhalten als Unionsbürger, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. Zwar gilt für Unionsbürger nach § 11 Abs. 1 FreizügG/EU die Bestimmung des § 84 AufenthG nicht, doch regelt § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in der seit dem 28.08.2007 gültigen Fassung, dass Unionsbürger ausreisepflichtig sind, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Danach soll bereits die wirksame Verlustfeststellung zur Ausreisepflicht führen. Soweit in der Folge nach § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. § 50 Abs. 6 AufenthG die Verwahrung des Passes vor Eintritt der Bestandskraft und ohne Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der feststellenden Verfügung vorgesehen ist, dürften hiergegen jedoch durchgreifende europarechtliche Bedenken bestehen (vgl. hierzu näher GK-AufenthG § 50 Rn. 54.1; Hofmann, HK-AuslR § 11 FreizügG/EU Rn. 18; Möller, HK-AuslR § 50 Rn. 24). Eine unzulässige Besserstellung der türkischen Staatsangehörigen ist vor diesem Hintergrund jedenfalls in der vorliegenden Konstellation nicht hinreichend erkennbar.

Besteht das Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 damit noch fort, können ungeachtet der wirksam ergangenen Ausweisungsverfügung auch die Sperrwirkungen des § 11 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AufenthG im Ergebnis nicht gelten. Dem Antragsteller ist bis zur Bestandskraft der Ausweisung oder Anordnung des Sofortvollzugs eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 2 AufenthG auszustellen.

2. Selbst wenn man die Bestimmung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegend für anwendbar halten wollte, muss die Beschwerde letztlich im Hinblick auf die Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erfolglos bleiben. Denn es liegt ein atypischer Fall vor, der der Einbehaltung des Passes nach § 50 Abs. 6 AufenthG im Einzelfall entgegensteht.

Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt der Aufenthaltstitel für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit als fortbestehend, solange die Frist zur Erhebung des Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, während eines gerichtlichen Verfahrens über einen zulässigen Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Mit dieser Bestimmung wird der Fortbestand des Aufenthaltstitels - hier: Niederlassungserlaubnis des Antragstellers - zu Erwerbszwecken fingiert. Nach dem Regelungsgehalt des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist der Antragsteller für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit so zu stellen, als ob er noch im Besitz der Niederlassungserlaubnis wäre. Die hierüber auszustellende Bescheinigung muss ihm insoweit auch die Ausreise und Wiedereinreise in das Bundesgebiet für Zwecke der Erwerbstätigkeit ermöglichen (vgl. zum Anspruch auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung entsprechend Anlage D 3 zur AufenthV in einem vergleichbaren Fall: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.03.2008 - 11 S 167/08 - InfAuslR 2008, 355; vgl. zu Inhalt und Rechtsnatur einer entsprechenden Bescheinigung auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.04.2009 - 13 S 3086/08 - juris; BVerwG, Beschluss vom 21.01.2010 - 1 B 17.09 - NVwZ-RR 2010, 330). Eine etwaige Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann dem Antragsteller insoweit ebenfalls nicht entgegen gehalten werden. [...]