VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 18.03.2010 - A 2 K 860/08 - asyl.net: M17923
https://www.asyl.net/rsdb/M17923
Leitsatz:

1. Die Situation in Togo hat sich deutlich verbessert; diese Entwicklung kann aber noch nicht als abgeschlossen bezeichnet werden. Insbesondere die Judikative weist - auch finanziell bedingt - noch deutliche Defizite auf und gilt als korruptionsanfällig, was auch Ausdruck der allgemeinen institutionellen Schwäche des Staates infolge langjähriger Diktatur ist. Aufgrund dessen kann eine generelle Aussage zur Sicherheit vorverfolgter oppositioneller Togoer (noch) nicht getroffen werden. Vorliegend erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass die togoischen Sicherheitsbehörden noch ein Interesse an dem Kläger haben.

2. Dem Widerruf steht jedoch entgegen, dass dem Kläger eine Rückkehr nach Togo unzumutbar ist (§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG). Seine beiden Brüder wurden wegen oppositioneller Aktivitäten von togoischen Sicherheitskräften ermordet, weshalb der Kläger noch immer psychische Probleme hat.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Togo, Flüchtlingsanerkennung, Vorverfolgung, Sippenhaft, UFC, Zumutbarkeit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, VwGO § 121, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, RL 2004/83/EG Art. 11, AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3
Auszüge:

[...]

Dies kann hier jedoch offen bleiben, da der Kläger nach Auffassung des Gerichts sowohl nach dem bisherigen Prognosemaßstab im Falle einer Rückkehr nach Togo vor erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher wäre als auch unter Anwendung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL keine politische Verfolgung zu erwarten hätte, da die gesetzliche Vermutung durch stichhaltige Gründe widerlegt wäre. Die Veränderung der politischen Umstände in Togo ist dabei nach Auffassung des Gerichts erheblich und nicht nur vorübergehend, so dass die Furcht des Klägers vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (vgl. Art. 11 QRL). [...]

Die im März 2010 durchgeführten Präsidentschaftswahlen sind nach Einschätzung internationaler Beobachter überwiegend fair verlaufen, auch wenn Wahlbeobachter der EU mangelnde Transparenz bei der Auszählung und Übermittlung der Stimmen kritisiert hatten. Zwar gab es gegen die Wahl Proteste, wobei mindestens eine Demonstration mit Tränengas aufgelöst wurde. Der Vorwurf des Wahlbetrugs konnte jedoch nicht bewiesen werden; nach einer Prüfung der Wahlbeschwerden durch das Verfassungsgericht wurde Faure Gnassingbe als Wahlsieger bestätigt (vgl. Die Tageszeitung, 08.03.2010: Amtsinhaber Gnassingbe siegt bei Präsidentenwahlen; Neue Zürcher Zeitung, 09.03.2010: Togos Präsident wiedergewählt; FAZ, 10.03.2010: Demonstration in Togo aufgelöst; Focus online, 18.03.2010: Verfassungsgericht bestätigt Wiederwahl von Faure Gnassingbe).

Insgesamt haben sich damit gewichtige politische Veränderungen in Togo vollzogen, die eine Durchbrechung der Rechtskraft von Urteilen, die - wie hier - zu Verfolgungshandlungen des Regimes Eyadema ergangen sind, rechtfertigen.

Die weitere Frage, ob vorverfolgte Togoer trotz der Änderung der politischen Verhältnisse weiterhin politische Verfolgung zu befürchten haben, lässt sich indes nicht abstrakt, sondern nur unter Berücksichtigung des individuellen Verfolgungsschicksals beantworten. Die Kammer folgt insoweit der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg (Beschluss vom 22.06.2009-7 LA 132/08-, Juris) und des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern (Beschluss vom 20.11.2007 - 2 L 152/07 -, Juris), wonach die Zulässigkeit des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung aufgrund der Veränderungen der politischen Verhältnisse in Togo nicht für alle Vorverfolgten einheitlich zu beantworten ist. [...]

Die Situation in Togo hat sich zwar deutlich zum Positiven gewendet, die diesbezügliche Entwicklung kann aber noch nicht als abgeschlossen bezeichnet werden. Insbesondere die Judikative weist - auch finanziell bedingt - noch deutliche Defizite auf und gilt als korruptionsanfällig, was auch Ausdruck der allgemeinen institutionellen Schwäche des Staates infolge langjähriger Diktatur sei (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 02.06.2009, S. 6). Aufgrund dessen kann eine generelle Aussage zur Sicherheit vorverfolgter oppositioneller Togoer (noch) nicht getroffen werden (a.A. Bayerischer VGH, Beschluss vom 03.06.2009 - 9 B 09.30074 -, Juris), sondern es ist vor dem Hintergrund des individuellen Verfolgungsschicksals zu prüfen, ob beim derzeitigen Stand des Demokratisierungsprozesses in Togo dem Betroffenen eine erneute Verfolgung droht oder nicht.

Nach diesen Grundsätzen ist im Fall des Klägers eine erneute Verfolgung im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht zu erwarten, auch nicht unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL. Die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG beim Kläger im Jahr 1999 erfolgte im Wesentlichen wegen Sippenhaft aufgrund der politischen Aktivitäten seiner Brüder, die durch togoische Sicherheitskräfte ermordet worden waren. Der Kläger selbst hatte demgegenüber nur untergeordnete politische Aktivitäten für die UFC unternommen. Nach den geschilderten politischen Veränderungen in Togo erscheint es als extrem unwahrscheinlich, dass die togoischen Sicherheitsbehörden noch ein Interesse am Kläger haben könnten und ihm deshalb erneute politische Verfolgung drohen könnte. Unter Würdigung dieser Umstände, der zwischenzeitlichen politischen Veränderungen in Togo und der dortigen aktuellen Situation wäre der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland vor politischer Verfolgung hinreichend sicher. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL, dass ihm wegen der früher erlittenen politischen Verfolgung erneut Verfolgung droht, ist durch die veränderten politischen Umstände in Togo als widerlegt anzusehen (so die Norm hier überhaupt Anwendung findet).

Dem Widerruf steht hier jedoch § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG entgegen. Nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG enthält eine einzelfallbezogene Ausnahme von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft, die unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen von Satz 1 der Vorschrift gilt. Von einem Widerruf ist dann abzusehen, wenn sich aus dem konkreten Flüchtlingsschicksal besondere Gründe ergeben, die eine Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen. Maßgeblich sind somit Nachwirkungen früherer Verfolgungsmaßnahmen, ungeachtet dessen, dass diese abgeschlossen sind und sich aus ihnen für die Zukunft keine Verfolgungsgefahr mehr ergibt. Der Rückkehr in den Heimatstaat müssen (gegenwärtige) zwingende Gründe entgegenstehen, d.h. eine Rückkehr muss unzumutbar sein. Diese Gründe müssen außerdem auf einer früheren Verfolgung beruhen. Zwischen der früheren Verfolgung und der Unzumutbarkeit der Rückkehr muss daher bereits nach dem Wortlaut der Bestimmung ein kausaler Zusammenhang bestehen (BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, Juris).

Diese Voraussetzungen sind beim Kläger erfüllt. Ausweislich des Urteils vom 29.09.1999 im Erstverfahren wurden die beiden Brüder des Klägers wegen oppositioneller Aktivitäten vom togoischen Staat oder jedenfalls diesem zurechenbar ermordet. Nach der Ermordung seiner Brüder hat er keine Familienangehörigen mehr in Togo. Auch wenn sich der Kläger in der mündlichen Verhandlung bezüglich des damaligen Geschehens in Widersprüche verwickelte, so hat das Gericht jedenfalls bezüglich des Kerngeschehens der Ermordung seiner Brüder keine Zweifel. Der Kläger ist hierdurch - was in der mündlichen Verhandlung ersichtlich war - emotional immer noch stark mitgenommen und hat - nachdem er angegeben hat, früher zwei Jahre deshalb in Psychotherapie gewesen zu sein - mit den damaligen Geschehnissen immer noch psychische Probleme. [...] Die vom Kläger geschilderten anhaltenden psychischen Probleme infolge der Ermordung seiner Brüder erscheinen aufgrund des persönlichen Eindrucks des Klägers in der mündlichen Verhandlung ohne Weiteres nachvollziehbar, denn der Kläger war nach den Fragen des Gerichts zur Ermordung seiner Brüder ersichtlich aufgewühlt und weinte. Die Widersprüche in seinen Antworten dürften auf diesen emotionalen Erregungszustand zurückzuführen sein. Auch bei Fragen zu seinem persönlichen Umfeld, etwa nach dem Namen des Hausarztes, war der Kläger in der Folge nicht mehr in der Lage, diese zu beantworten. Er konnte lediglich beschreiben, wo sich die Praxis befinde und dass der Arzt dick sei. Den Namen konnte er erst auf Vorhalt seines Anwalts bestätigen. Der Kläger ist - psychisch wie intellektuell - auch nicht in der Lage, sachlich zwischen dem Regime Eyadema und dem aktuellen Staatspräsidenten Faure Gnassingbe, dem Sohn Eyademas, zu differenzieren. Für ihn ist entscheidend, dass es sich es sich um dieselbe Herrscherfamilie und - aus seiner Sicht - dieselben Strukturen unter der Regierungspartei RPT handelt, die für die Ermordung seiner Brüder verantwortlich sind. Deshalb befürchtet er ungeachtet der Frage der objektiven Bedrohung seiner Person subjektiv nach wie vor eine existentielle Gefährdung im Falle einer Rückkehr nach Togo (vgl. dazu auch die Schriftsätze seines Prozessbevollmächtigten vom 11.03.2008 und vom 06.05.2008). Aufgrund der dargestellten Umstände ist dem Kläger eine Rückkehr nach Togo unzumutbar im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG. [...]