OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2009 - 18 A 2263/08 - asyl.net: M17994
https://www.asyl.net/rsdb/M17994
Leitsatz:

Vorlagefrage an den EuGH zur Auslegung des Begriffs der "zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit" gemäß Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38/EG).

Schlagwörter: Vorabentscheidungsverfahren, Vorlagebeschluss, EuGH, Unionsbürger, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Ausweisung, Verlust des Freizügigkeitsrechts, freizügigkeitsberechtigt, Unionsbürgerrichtlinie
Normen: EG Art. 234, RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 7, FreizügG/EU § 4a Abs. 1, FreizügG/EU § 6
Auszüge:

[...]

II. Es wird gemäß Art. 234 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften

zu folgender Frage eingeholt:

Erfasst der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit gemäß Art. 28 Abs. 3 der

Richtlinie 2004/38/EG lediglich Gefährdungen der inneren und äußeren Sicherheit des Staates

im Sinne des Bestands des Staates mit seinen Einrichtungen und seinen wichtigen öffentlichen

Diensten, des Überlebens der Bevölkerung sowie der auswärtigen Beziehungen und des friedlichen

Zusammenlebens der Völker? [...]

Der Rechtsstreit wird in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO ausgesetzt, um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der europäischen Gemeinschaften zur Auslegung des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG einzuholen (Art. 234 EG).

Die vorgelegte Frage ist entscheidungserheblichund bedarf der Klärung durch den Gerichtshof, weil die streitgegenständliche Verlustfeststellung rechtswidrig ist, wenn Gründe der öffentlichen Sicherheit gemäß Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG nur bei Gefährdungen der inneren und äußeren Sicherheit des Staates in einem engen Sinne vorliegen können (1.), während gegen die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Maßnahmen keine Bedenken bestehen, wenn Gründe der öffentlichen Sicherheit gemäß Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie auch bei Gefährdungen bedeutsamer Rechtsgüter Einzelner durch gemeinkriminelle Akte gegeben sein können (2.). Die Frage bedarf der Klärung durch den Gerichtshof, weil sie bislang nicht hinreichend geklärt ist (3.).

1. Die dem Kläger gegenüber ausgesprochene Verlustfeststellung ist rechtswidrig, wenn der Begriff der öffentlichen Sicherheit gemäß Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG lediglich die innere und äußere Sicherheit des Staates erfasst. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

Bei dem Kläger handelt es sich um einen Unionsbürger, der sich seit 1987 in Deutschland aufhält. Er ist - abgesehen davon, dass seine Freizügigkeitsberechtigung zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt worden ist - mindestens gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU i.V.m. § 4a Abs. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Als Unionsbürger bedarf der Kläger für die Einreise nach Deutschland keines Visums und für den Aufenthalt keines Aufenthaltstitels, § 2 Abs. 4 FreizügG/EU. Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger erhalten lediglich eine - deklaratorische - Bescheinigung über ihr Aufenthaltsrecht, § 5 FreizügG/EU. Das geltende deutsche Recht sieht begrifflich eine "Ausweisung" von Unionsbürgern nicht vor. Der Sache nach ist sie aber – wenn auch unter anderer Bezeichnung – in § 6 FreizügG/EU geregelt. Unter den differenzierten Vorgaben des § 6 FreizügG/EUdieser Bestimmung kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festgestellt werden; dies , was begründet gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU die Ausreisepflicht und gemäß § 7 Abs. 2 FreizügG/EU ein Einreise- und Aufenthaltsverbot. Begründet Nachdem sich der Kläger seit mehr als zehn Jahren im Bundesgebiet aufhält, fällt er in den Anwendungsbereich des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG sowie der - die Richtlinie umsetzenden - Vorschrift des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU, der Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG in nationales Recht umsetzt.. Nach beiden Bestimmungen darf die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt bzw. die Ausweisung bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erfolgen. Da die Richtlinie hinreichend genau und unbedingt und mithin unmittelbar anwendbar ist, führt bereits ein Verstoß gegen sie zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme. Abgesehen davon ist § 6 Abs. 5 FreizügG/EU entsprechend der Richtlinie auszulegen. Wenn unter den Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG nur die innere und äußere Sicherheit des Staates zu fassen ist, gilt das gleichermaßen für § 6 Abs. 5 FreizügG/EU.

Der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ist bislang zu entnehmen, dass unter dem primärrechtlichen Begriff der öffentlichen Sicherheit die innere und äußere Sicherheit des Staates zu verstehen ist, wobei der Begriff der inneren Sicherheit den Bestand des Staates, seiner Einrichtungen und wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung umfasst und der Begriff der äußeren Sicherheit die auswärtigen Beziehungen und das friedliche Zusammenleben der Völker (vgl. insbesondere Urteile vom 10. Juli 1984 - Rs. 72/83 (Campus Oil) - Slg. 1984, 2727; vom 4. Oktober 1991 - C-367/89 (Richardt und Les Accessoires Scientifiques) - Slg. 1991, I-4621; vom 17. Oktober 1995 - C-70/94 (Werner Industrie-Ausrüstungen), Slg. 1995, I-3189; vom 26. Oktober 1999 - C-273/97 (Sirdar) - Slg. 1999, I-7403; und vom 11. März 2003 - C-186/01 (Dory) - Slg. 2003, I-2479).

Für ein abweichendes sekundärrechtliches Verständnis des Begriffs der öffentlichen Sicherheit besteht kein Anhalt. Jedoch ist offen, ob es sich insoweit um eine abschließende Begriffsbestimmung handelt. Dafür mag sich zwar das Urteil des Gerichtshofs vom 29. April 2004 (C-482/01und C-493/01 (Orfanopoulos und Oliveri) - Slg. I-525) anführen lassen, in dem die schwere Gemeinkriminalität, namentlich aus dem Bereich der Drogendelikte, ausschließlich und durchgängig unter dem Aspekt der "öffentlichen Ordnung" erörtert wird. Ausdrücklich wird die Frage damit aber nicht beantwortet.

Der Kläger ist wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes, sexueller Nötigung und Vergewaltigung zu einer erheblichen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden. Wenn es sich dabei auch zweifellos um schwere Kriminalität handelt, mit der die sexuelle Selbstbestimmung eines Kindes bzw. einer jungen Frau missachtet und deren körperliche und psychische Unversehrtheit gravierend beeinträchtigt worden ist, liegt in solchen Taten gleichwohl keine Gefährdung der inneren und äußeren Sicherheit des Staates im Sinne des Bestands des Staates mit seinen Einrichtungen und seinen wichtigen öffentlichen Diensten, des Überlebens der Bevölkerung sowie der auswärtigen Beziehungen und des friedlichen Zusammenlebens der Völker. Keines der genannten Schutzgüter wird durch die Taten berührt.

2. Wenn demgegenüber der Begriff der öffentlichen Sicherheit gemäß Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG auch bedeutsame Rechtsgüter Einzelner erfasst, wie sie durch die Strafrechtsordnung geschützt werden sollen, so dass die öffentliche Sicherheit auch durch gemeinkriminelle Akte gefährdet sein kann, sind die Verlustfeststellung und die Abschiebungsandrohung rechtmäßig. Der Senat folgt für diesen Fall den Feststellungen des Verwaltungsgerichts und nimmt - mit wenigen Einschränkungen - auf sie Bezug. Das Verwaltungsgericht hat - ausgehend von dem vorgenannten weiten Verständnis des Begriffs der öffentlichen Sicherheit - zutreffend festgestellt, dass aufgrund der in Dauer, Art und Begehungsweise seiner Taten zum Ausdruck kommenden erheblichen kriminellen Energie des Klägers eine nicht hinzunehmende Wiederholungsgefahr besteht, aufgrund derer sowohl die Anforderungen des § 6 Abs. 2 FreizügG/EU als auch die verschärften Anforderungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU erfüllt sind. Die den Taten des Klägers zu Grunde liegenden Umstände lassen danach ein persönliches Verhalten erkennen, das eine gegenwärtige, tatsächliche, hinreichend schwere und ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Das gilt auch dann, wenn es die vom Verwaltungsgericht weiter benannten sexuellen Übergriffe gegenüber einer anderen Frau nicht gegeben haben sollte. Ausgehend von dem genannten weiten Verständnis sind auch zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne von § 6 Abs. 5 FreizügG/EU anzunehmen, zumal der Kläger zu einer Freiheitsstrafe von deutlich über fünf Jahren verurteilt worden ist. Die vom Verwaltungsgericht eingehend begründete Wiederholungsgefahr für hochrangige Rechtsgüter ist zwischenzeitlich nicht gemindert worden. Dies würde voraussetzen, dass sich der Kläger seinen Taten stellen und die erforderliche Aufarbeitung beginnen würde. Der Kläger bestreitet indessen weiterhin, dass es die Taten, deretwegen er verurteilt worden ist, gegeben hat. Dies ergibt sich aus der aktuellen Vollzugsplanfortschreibung der JVA S. vom 15. Januar 2009. Der Umstand, dass es strafprozessual das Recht eines Angeklagten ist, die Taten zu bestreiten, ist aus gefahrenabwehrrechtlicher Sicht ohne Belang. Aufgrund der uneingeschränkt überzeugenden Feststellungen des Landgerichts L. ist zugrunde zu legen, dass der Kläger die Taten begangen hat. Hiervon ausgehend ist zur Gefahrenabwehr mindestens deren therapeutische Aufarbeitung erforderlich, an der es weiterhin fehlt.

Das Verwaltungsgericht hat schließlich zu Recht festgestellt, dass überwiegende entgegenstehende Interessen des Klägers im Sinne des § 6 Abs. 3 FreizügG/EU nicht ersichtlich sind. Dabei sind die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt worden. Auch auf die diesbezüglichen Feststellungen nimmt der Senat mit geringen Einschränkungen Bezug. [...]

3. Die Frage, wie der Begriff der öffentlichen Sicherheit in Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie auszulegen ist, insbesondere, ob damit unter Ausschluss gemeinkrimineller Akte allein die Sicherheit des Staates gemeint ist, ist ungeklärt (ebenso BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008 – 2 BvR 2213/06 –; der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Juli 2008 – 13 S 1917/07 -, NVwZ-RR 2009, tendiert zu einem engen Begriffsverständnis).

Das Tatbestandsmerkmal "öffentliche Sicherheit" wird in der Richtlinie nicht definiert. Zwar wird den Mitgliedstaaten ein Spielraum zur Begriffsbestimmung eingeräumt ("..auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedsstaaten festgelegt wurden..."), auf den sich der deutsche Gesetzgeber bei der Regelung in § 6 Abs. 5 Freizüg/EU berufen hat (vgl. BT- Drs. 16/5065, 211).

Dieser Spielraum dürfte sich indessen nur auf die nähere Konkretisierung einzelner Schutzgüter beziehen und eine grundsätzliche Abweichung von dem gemeinschaftsrechtlichen Begriff nicht rechtfertigen (vgl. näher Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Juli 2008, a.a.O., unter Berufung auf EuGH, Urteil vom 4. Juni 2002 - C-483/99 (Kommission/Frankreich), Slg. 2002, I-4781).

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften versteht den Begriff der öffentlichen Sicherheit in einem engen Sinne dahin, dass damit die innere und äußere Sicherheit im Sinne der Wahrung der territorialen Integrität der Mitgliedstaaten und ihrer Institutionen gemeint ist (vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 2. Juli 2009, Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 29004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, S. 11).

Ausgehend von der bislang vorliegenden Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften lässt sich die Vorlagefrage nicht eindeutig entscheiden. Dieser Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass der (primärrechtliche) Begriff der öffentlichen Sicherheit die innere und äußere Sicherheit des Staates umfasst. Insoweit schließt die innere Sicherheit den Bestand des Staates, seiner Einrichtungen und wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ein, während zur äußeren Sicherheit die auswärtigen Beziehungen und das friedliche Zusammenleben der Völker zählen (vgl. insbesondere Urteile vom 10. Juli 1984 - Rs. 72/83 (Campus Oil), Slg. 1984, 2727; vom 4. Oktober 1991 - C-367/89 (Richardt und Les Accessoires Scientifiques), Slg. 1991, I-4621; vom 17. Oktober 1995 - C-70/94 (Werner Industrie-Ausrüstungen), Slg. 1995, I-3189; vom 26. Oktober 1999 - C-273/97 (Sirdar), Slg. 1999, I-7403; und vom 11. März 2003 - C-186/01 (Dory), Slg. 2003, I-2479).

Es ist jedoch nicht erkennbar, ob es sich dabei um eine abschließende Begriffsbestimmung handelt. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch gemeinkriminelle Akte wird in den zitierten Entscheidungen nicht ausdrücklich verneint (vgl. BVerfG, a.a.O.).

Es mag sich als Indiz für ein enges Verständnis des gemeinschaftsrechtlichen Begriffs der öffentlichen Sicherheit anführen lassen, dass die schwere Gemeinkriminalität, namentlich aus dem Bereich der Drogendelikte, im Urteil des Gerichtshofs vom 29. April 2004 (C-482/01 und C-493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), Slg. 2004, I-5257), ausschließlich unter dem Aspekt der "öffentlichen Ordnung" erörtert wird. Andererseits deutet die Feststellung des Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 29. Oktober 1998 - C- 114/97, Slg. 1998, I-06717), die Tätigkeit privater Sicherheitsdienste trage zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit bei, auf eine Einbeziehung der Prävention vor Straftaten in die Schutzgüter der "öffentlichen Sicherheit" hin, zumal die angesprochene Tätigkeit im zitierten Urteil im Wesentlichen im Schutz vor Straftaten bestand. [...]