SG Bremen

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Zitieren als:
SG Bremen, Beschluss vom 25.05.2010 - S 22 AS 923/10 ER - asyl.net: M18046
https://www.asyl.net/rsdb/M18046
Leitsatz:

Verpflichtung zur Gewährung eines Darlehens für die Beschaffung eines türkischen Reisepasses im Eilverfahren. Die Kosten für die Beschaffung eines Reisepasses sind von der Regelleistung des § 20 SGB II umfasst und dem Grunde nach durch Ansparen aufzubringen. Sofern entsprechende Ansparungen jedoch nicht erfolgt sind, ist im Falle eines unabweisbaren Bedarfs ein Darlehen zu gewähren. Der Hilfebedürftige kann nicht auf fiktive Ansparleistungen verwiesen werden.

Schlagwörter: SGB II, Passbeschaffungskosten, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Darlehen, türkische Staatsangehörige, Regelleistung, Bedarf, Passpflicht, Ausweisersatz, SGB XII, Reisekosten
Normen: SGB II § 23 Abs. 1 S. 1, SGB II § 3 Abs. 3, SGB II § 20, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 3, AufenthG § 48 Abs. 2, SGB II § 12 Abs. 1 Nr. 4, SGB II § 12 Abs. 2 Nr. 4, SGB XII § 73, SGB II § 5 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller konnte einen Anordnungsanspruch nur teilweise glaubhaft machen und zwar nur bezüglich der anfallenden Gebühren für die Passverlängerung bei dem türkischen Generalkonsulat in ... Durch die Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde ist glaubhaft gemacht, dass der Reisepass des Antragstellers am 01.04.2010 abgelaufen ist und eine Passverlängerung dem Grunde nach erforderlich ist. Rechtsgrundlage für den Anspruch des Antragstellers ist § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II erbringt der zuständige Leistungsträger bei entsprechendem Nachweis einen Bedarf als Sachleistung oder als Geldleistung und gewährt dem Hilfebedürftigen ein entsprechendes Darlehen, wenn im Einzelfall ein von der Regelleistung umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts weder durch das Vermögen nach § 12 Abs. 1 Nr. 4 SGB II noch auf andere Weise gedeckt werden kann.

Das Gericht teilt die Auffassung der Antragsgegnerin, dass die Kosten für die Beschaffung eines Reisepasses von der Regelleistung umfasst sind und dem Grunde nach durch Ansparen aus der Regelleistung aufzubringen sind. Nach § 3 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB II decken die nach dem SGB II vorgesehen Leistungen den Bedarf der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und der mit ihnen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen. Nach § 3 Abs. 3 Satz 2 SGB II ist eine abweichende Festlegung der Bedarfe ausgeschlossen. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes sind die Regelleistung nach § 20 SGB II, die ergänzenden Darlehen bei unabweisbaren Bedarf nach § 23 Abs. 1 SGB II, Einmalsonderleistungen nach § 23 Abs. 3 SGB II, Mehrbedarfe nach § 21 SGB II und die Leistungen für Unterkunft und Heizung. [...] Die Regelleistungen werden nach § 20 SGB II als Pauschale ohne die Möglichkeit einer im Einzelfall abweichenden Leistungserbringung erbracht (Schmidt in: Oestreicher, SGB II/SGB XII, § 23 Rn. 1). Daher umfasst die Regelleistung nach § 20 SGB II pauschal den gesamten Bedarf für den notwendigen Lebensunterhalt inklusive einmaliger Bedarfe (Wieland in: Estelmann, SGB II, § 23 Rn.9). Damit soll neben einer Vewaltungsvereinfachung auch die Selbstverantwortung des Hilfebedürftigen gestärkt werden.

Vor dem Hintergrund dieses Leistungssystems kann dem Antragsteller allenfalls ein Anspruch auf darlehensweise Gewährung nach § 23 Abs. 1 SGB II zustehen (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 22.08.2007, Az.: L 3 AS 114/06 NZB; SG ATD., Beschluss vom 07.08.2008, Az.: S 28 AS 545/08 ER). Nach der im Eilverfahren grundsätzlich gebotenen summarischen Prüfung liegen die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 SGB II vor.

Denn nach den Umständen des Einzelfalles besteht bei dem Antragsteller ein unabweisbarer Bedarf. Unabweisbar ist ein Bedarf dann, wenn die Bedarfsdeckung unaufschiebbar und nicht auf anderweitige Art und Weise gedeckt werden kann, es also im Falle seiner Deckung zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bedarfe insgesamt kommt (Loose in: Hohm, GK-SGB II, § 23 Rn. 7). Die Unaufschiebbarkeit ergibt sich hier aus dem Ablaufdatum des bisherigen Reisepasses und der tatsächlichen Notwendigkeit der Passverlängerung für einen sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden ausländischen Staatsangehörigen. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG ist allgemeine Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, dass die Passpflicht aus § 3 AufenthG erfüllt wird. Nach § 5 Abs. 3 AufenthG ist in bestimmten - hier nicht einschlägigen Konstellationen - von der Erfüllung der Passpflicht abzusehen. In den übrigen Fällen kann von der Erfüllung der Passpflicht abgesehen werden. Nach § 3 AufenthG dürfen Ausländer nur in das Bundesgebiet einreisen oder sich darin aufhalten, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen. Für den Aufenthalt im Bundesgebiet erfüllen sie die Passpflicht auch durch den Besitz eines Ausweisersatzes (§ 48 Abs. 2 AufenthG). Nach § 48 Abs. 2 AufenthG genügt ein Ausländer, der einen Pass weder besitzt noch in zumutbarer Weise erlangen kann, der Ausweispflicht mit der Bescheinigung über einen Aufenthaltstitel oder die Aussetzung der Abschiebung, wenn sie mit den Angaben der Person und einem Lichtbild versehen und als Ausweisersatz bezeichnet ist.

Nach Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde wird bei türkischen Staatsangehörigen für die Erfüllung der Passpflicht aus § 3 AufenthG grundsätzlich die Vorlage eines gültigen Reispasses verlangt. Von ihrem Ermessen hinsichtlich des Antragstellers von der Erfüllung der Passpflicht abzusehen, hat die zuständige Ausländerbehörde nach dem vorliegenden Kenntnisstand keinen Gebrauch gemacht. Weder den Auskünften der Ausländerbehörde, noch dem Vortrag des Antragstellers ist zu entnehmen, dass ihm die Beschaffung eines gültigen Reisepasses unzumutbar wäre. Jedenfalls sind fehlende finanzielle Mittel nicht als Unzumutbarkeitsgrund anzuerkennen. Demnach kann der Antragsgegnerin nicht darin gefolgt werden, dass der Antragsteller keinen Reisepass benötige, sondern mit einem Passersatz den Aufenthaltstitel erlangen könne. Angesichts der Gebühren für die Beschaffung des Reisepasses von bis zu 115,00 Euro ist auch von einer erheblichen Unterdeckung des allgemeinen Lebensunterhaltes auszugehen, wenn die Kosten aus der Regelleistung gedeckt würden. Denn die Gebühren betragen rund ein Drittel der Regelleistung. Von einer erheblichen Bedarfsunterdeckung ist im Rahmen des § 23 Abs. 1 SGB II aber bereits dann auszugehen, wenn eine 20 % Bedarfsunterdeckung erreicht würde, wenn die beantragte Leistung aus der Regelleistung bestritten würde. Diese Grenze beträgt für den Antragsteller mithin 71,80 Euro, so dass es bei einem Aufbringen der Gebühren aus der Regelleistung zu einer erheblichen Bedarfsunterdeckung kommen würde.

Der Antragsteller kann auch nicht auf das Ansparen der Gebühren für die Beschaffung des Reisepasses aus der Regelleistung verwiesen werden. Zwar sieht § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II vor, dass der nach den Umständen unabweisbare Bedarf weder durch das Vermögen nach § 12 Abs. 1 Nr. 4 SGB II noch auf andere Weise gedeckt werden kann. Die Antragsgegnerin verkennt jedoch den Regelungsgehalt der Vorschrift, wenn sie allgemein darauf verweist, dass dem Antragsteller ein Ansparen der Gebühren aus der Regelleistung möglich gewesen wäre. Denn auf fiktive Ansparleistungen kann der Hilfebedürftige nicht verwiesen werden (vgl. Münder in: LPK-SGB II, § 23 Rn. 10; Loose in: Hohm, SGB II-GK, § 23 Rn.9). Zwar enthält die Regelleistung Anteile zur Deckung größerer Bedarfe durch Ansparung und § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II sieht einen entsprechenden Vermögensfreibetrag vor. Entscheidend ist jedoch, ob der Hilfebedürftige tatsächlich über angespartes Vermögen verfügt (vgl. Wieland in: Estelmann, SGB II, § 23 Rn. 15; Loose in: Hohm, SGB II-GK, § 23 Rn.9; ME.-Schinke in: Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 23 Rn 9 ff.; Armborst, info also 2006, 58, 59). So spricht auch die Gesetzesbegründung davon, dass die Agentur für Arbeit ein Darlehen erbringt. soweit das zur Ansparung vorgesehene Vermögen nach § 12 Abs. 2 Nr. 3 SGB II im Einzelfall nicht oder nicht in ausreichender Höhe zur Verfügung steht (vgl. BT-Drs. 15/1516, S.57). Der Leistungsakte der Antragsgegnerin und dem Vortrag des Antragstellers ist jedoch zu entnehmen, dass tatsächlich kein Vermögen vorhanden ist und Ansparungen nicht vorgenommen wurden. Anhaltspunkte für eine Möglichkeit der Bedarfsdeckung auf andere liegen zudem nicht vor. Dass nicht auf fiktive Ansparbeträge verwiesen werden kann, ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck von § 23 Abs. 1 SGB II. Die von dem Gesetzgeber vorgenommene Pauschalierung vor allem durch Einbeziehung der früheren einmaligen Leistungen in die Regelleistung ist verfassungsrechtlich nur zulässig, sofern eine entsprechende Öffnungsklausel vorgesehen ist, die eine Bedarfsdeckung in allen Fällen sicherstellt (vgl. Schmidt in: Oestreicher. SGB II/SGB XII, § 23 Rn. 30). Diese Öffnung erfolgt im SGB II ausschließlich über § 23 Abs. 1 SGB II. Letztlich wird daher mit einem Darlehen für einen Bedarf der nicht aus der laufenden Regelleistung abgedeckt werden kann, ein "Vorschuss" auf die an sich aus der Regelleistung zu tätigende Ansparung gewährt, der aus der künftigen Regelleistung getilgt werden muss. Es wird also lediglich die Ansparung durch die Tilgung ersetzt, was wirtschaftlich keinen Unterschied macht (vgl. Schmidt, ebd.).

Zuletzt ergibt auch eine Abwägung der gegenseitigen Interessen, dass aufgrund der Umstände dieses Falles eine Darlehensgewährung gerechtfertigt ist. Denn der in der Höhe überschaubare Darlehensbetrag wird gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB II in absehbarer Zeit getilgt sein können, während für den Antragsteller sein aufenthaltsrechtlicher Status und seine Aufenthaltsberechtigung an der Passverlängerung hängen. Ihm drohen bei Nichtgewährung eines Darlehens ungleich schwerwiegendere Nachteile als der Antragsgegnerin bei einer Gewährung des Darlehens.

Das Gericht kann dahinstehen lassen, ob sich der Anspruch des Antragstellers auch aus § 73 SGB XII herleiten lässt. Zwar wird von Teilen der Rechtsprechung § 73 SGB XII zumindest bei einem dauerhaft erhöhten Regelbedarf herangezogen (vgl. BSG, Urteil vom 07.11.2006, Az.: B 7b AS 14/06 R; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 04.09.2008, Az.: L 13 AS 104/08). Auch scheitert die Anwendbarkeit des § 73 SGB XII nicht an § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II. Denn der dort normierte Leistungsausschluss gilt bereits nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht für die im Neunten Kapitel des SGB XII geregelte Hilfe in anderen Lebenslagen. zu der auch § 73 SGB XII gehört. Jedenfalls aber sprechen nach einer summarischen Prüfung gewichtige Argumente gegen die Anwendbarkeit des § 73 SGB XII auf Leistungsempfänger nach dem SGB II. So stimmen die Einkommens- und Vermögensgrenzen des SGB II und des SGB XII nicht überein. Auch wird der Grundsatz, dass Hilfebedürftige immer nur einem System (SGB II oder SGB XII) zuzuordnen sind, durchbrochen (Schmidt in: Oestreicher, § 23 Rn 32; kritisch gegenüber einer Anwendbarkeit des § 73 SGB XII auch: SG Aurich, Urteil vom 14.03.2008, Az.: S 25 AS 822/07). Zudem wäre für einen Anspruch aus § 73 SGB XII auch nicht die Antragsgegnerin, sondern der Sozialhilfeträger zuständig.

Die erforderliche Eilbedürftigkeit ergibt sich daraus, dass an der Passverlängerung die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis hängt. Einer Abschiebung des Antragstellers steht zurzeit lediglich die ihm erteilte Fiktionsbescheinigung bis zum 01.07.2010 entgegen. Der Antragsteller ist nicht in Besitz eines gültigen Aufenthaltstitels. Die Bearbeitung seines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erfordert im Fall des Antragstellers wie bereits dargelegt die Vorlage eines gültigen Passes. Aufgrund der drohenden aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen ist dem Antragsteller daher ein Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache nicht zumutbar.

Nicht glaubhaft gemacht hat der Antragsteller einen Anspruch auf die Übernahme der Reisekosten nach ... Zwar sind auch die Reisekosten als ein von der Regelleistung umfasster Bedarf anzusehen. Jedoch liegt aufgrund der zu erwartenden nur geringen Reiskosten nach den dargestellten Grundsätzen kein unabweisbarer Bedarf vor. Denn es kommt bei Aufbringen der Reisekosten aus der Regelleistung nicht zu einer 20 % Bedarfsunterdeckung. [...]