VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 17.01.2011 - 9 L 117/11.F.A - asyl.net: M18096
https://www.asyl.net/rsdb/M18096
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen eine Dublin-Überstellung nach Italien.

1. Die Situation in Italien ist derjenigen in Griechenland vergleichbar, jedenfalls was den hier relevanten Zugang zu ärztlicher Versorgung und die für die Ausheilung von Verletzungen notwendigen Bedingungen angeht.

2. Die Übersendung der Akte des BAMF, welche einen Entwurf des noch nicht zugestellten Dublin-Bescheids enthält, an den Bevollmächtigten zur Akteneinsicht, kann wie hier zur Bekanntgabe, d.h. wirksamen Zustellung, führen. Dem steht nicht entgegen, dass eine Bekanntgabe grundsätzlich den entsprechenden Bekanntgabewillen der Behörde voraussetzt. Darauf kann es in dieser besonderen Lage nicht ankommen, da sonst mit Blick auf die Zustellungspraxis des BAMF in Dublin-Verfahren das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG verletzt würde.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Suspensiveffekt, Zustellung, Rechtsweggarantie, Konzept der normativen Vergewisserung, sichere Drittstaaten, Abschiebungsanordnung, medizinische Versorgung, Selbsteintritt
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 4, GG Art. 19 Abs. 4, BGB § 162, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 2 S. 4, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1 Bst. e S. 4
Auszüge:

[...]

Das Begehren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO statthaft. Die Abschiebungsanordnung ist ein den Antragsteller belastender Verwaltungsakt, weswegen sie Gegenstand einer Anfechtungsklage sein kann, so dass gegen die Vollziehung dieser Maßnahme gemäß §§ 123 Abs. 5 VwGO Rechtsschutz nach Maßgabe des § 80 VwGO zu gewähren ist und der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht kommt.

Voraussetzung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage ist, dass der vorgeblich zur Vollziehung anstehende Verwaltungsakt auch erlassen worden und für den Betroffenen wirksam geworden ist. Dies setzt nach § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes an den Betroffenen voraus. Liegt noch kein Verwaltungsakt vor, kann - vorbeugender - einstweiliger Rechtsschutz nur nach § 123 VwGO in Anspruch genommen werden (Schock in Schmidt-Aßmann/Pietzner § 80 VwGO Rdn. 309).

Der Erlass der Abschiebungsanordnung ist hier nicht zweifelhaft, da der entsprechende Bescheid in der Behördenakte bereits bei ihrer Übersendung an die Bevollmächtigten des Antragstellers vorhanden war und nur noch seine Zustellung gemäß § 31 Abs. 1 S. 4 AsylVfG ausstand. Sie erfolgt - im Hinblick auf § 34 Abs. 2 AsylVfG - regelmäßig unmittelbar vor der tatsächlichen Durchführung, so dass zu diesem Zeitpunkt regelmäßig kein ordnungsgemäßer Rechtsschutz beim VG mehr erlangt werden kann. Dies wiederum verletzt das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, wie das Bundesverfassungsgericht inzwischen in einer Vielzahl von Fällen aus Anlass von Abschiebungen nach Griechenland entschieden hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.09.2009, 2 BvQ 56/09; BVerfG, Beschluss vom 23.09.2009, 2 BvQ 68/09; BVerfG, Beschluss vom 09.10.2009, 2 BvQ 72/09; BVerfG, Beschluss vom 05.11.2009, 2 BvQ 77/09; BVerfG, Beschluss vom 13.11.2009, 2 BvQ 2603/09; BVerfG, Beschluss vom 08.12.2009, 2 BvQ 2780/09; BVerfG, Beschluss vom 10.12,2009, 2 BvQ 2767/09; BVerfG, Beschluss vom 21.05.2010, 2 BvQ 904/10; BVerfG, Beschluss vom 21.05.2010, 2 BvQ 1036/10; BVerfG, Beschluss vom 25.07.2010, 2 BvQ 1460/10; BVerfG, Beschluss vom 12.10.2010, 2 BvQ 1902/10). Danach müssen nämlich die Fachgerichte ungeachtet der Regelung in § 34 Abs. 2 AsylVfG jedenfalls gegen Abschiebungsanordnungen und deren Vollzug Rechtsschutz gewähren, wenn der Asylsuchende, wie hier, substantiiert und umfassend Tatsachen vorträgt, die erhebliche Zweifel daran begründen, dass es in dem an sich zuständigen Mitgliedsstaat an grundlegenden Voraussetzungen für das Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems fehlt.

Effektiver Rechtsschutz kann nach der Systematik nur im Rahmen von § 80 Abs. 5 VwGO gewährt werden, da nur im Rahmen dieser Regelung dem Verwaltungsgericht ein Entscheidungsspielraum eröffnet ist, der demjenigen gleicht, den das Bundesverfassungsgericht für die Aussetzung des Vollzugs von Abschiebungsanordnungen im Rahmen des Erlasses von einstweiligen Anordnungen gemäß § 32 BVerfGG für sich in Anspruch nimmt. Der fachgerichtliche Rechtsschutz kann nicht dahinter zurückbleiben, weil die Verfassungsbeschwerde kein ordentlicher Rechtsbehelf ist und dem Gebot des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG daher grundsätzlich schon vorher durch die Fachgerichte zu entsprechen ist.

Die vom Bundesverfassungsgericht in Fällen der vorliegenden Art praktizierte und auch vom Instanzgericht vorzunehmende Rechtsfolgenabwägung ist nach der Konzeption des verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes nur mittels des auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gerichteten Verfahrens nach § 80 Abs.5 VwGO möglich, weil eine Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 regelmäßig die Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens in Hauptsache voraussetzt, was aber wegen der geltenden, durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - (BVerfGE 94, 49, 95 ff.) festgestellten Verfassungsrechtslage in Fällen, die, wie der vorliegende, sich noch innerhalb des durch das so bezeichnete Konzept normativer Vergewisserung (a.a.O., S. 95 f.) definierten Rahmens bewegen, von vornherein ohne Erfolg bleiben muss (zutreffend VG Frankfurt, Beschluss vom 17.08.2009 - 3 L 2145/09.F.A; VG Frankfurt, Beschluss vom 04.09.2009 - 2 L 2202/09.F.A).

Weil hier das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die ordnungsgemäße Bekanntgabe der bereits erlassenen Abschiebungsanordnung bis zu dem Zeitpunkt hinauszögern will, zu dem die Abschiebung als Vollziehungsmaßnahme selbst ergriffen wird, vereitelt sie zugleich die rechtzeitige Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in einer Weise, die aus den dargestellten Gründen mit Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG unvereinbar ist. Aus den gleichen Gründen ist die Bestimmung des § 34 Abs. 2 AsylVfG im vorliegenden Fall keine tragfähige Grundlage für eine entsprechende behördliche Praxis und deshalb verfassungskonform auszulegen. Die Antragsgegnerin muss sich hier entsprechend dem Rechtsgedanken des § 162 BGB deshalb so behandeln lassen, als wäre eine Zustellung der Abschiebungsanordnung bereits erfolgt, zumal nicht erkennbar ist, dass behördlicherseits erwogen würde, einen anderen Verwaltungsakt zu erlassen und bekannt zu geben. Deshalb führt in Fällen wie diesem jedenfalls die Übersendung der Behördenakte an den Bevollmächtigten der abzuschiebenden Person, wie dies hier am 03.01.2011 geschehen ist, zur Bekanntgabe der in diesen Akten enthaltenen Abschiebungsanordnung. Dem steht nicht entgegen, dass eine Bekanntgabe grundsätzlich den entsprechenden Bekanntgabewillen der Behörde voraussetzt. Darauf kann es in dieser besonderen Lage aus den genannten verfassungsrechtlichen Gründen nicht ankommen.

Der Antrag ist auch begründet. Das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage überwiegt das Interesse der Antragsgegnerin an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr.3, Abs. 5 VwGO). Denn der Ausgang des Hauptsacheverfahrens gegen die Entscheidung der Antragsgegnerin in Ziffer 1 des Bescheids vom 03.11.2011 ist derzeit - nämlich so lange das Bundesverfassungsgericht erkennen lässt, das Konzept der normativen Vergewisserung einer Evaluation unterziehen zu wollen - offen. Dies wirkt sich bei der nur noch möglichen Folgenabwägung zu Gunsten des Antragstellers aus.

Einerseits ist ein Erfolg in der Hauptsache angesichts der vom Antragsteller unter Bezugnahme auf eine Vielzahl - der Antragsgegnerin größtenteils schon im Verwaltungsverfahren zur Kenntnis gebrachten (81.59-66 BA) - Erkenntnisquellen und Gerichtsentscheidungen, auf welche zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird, umfassend geschilderten Situation der Flüchtlinge in Italien nicht von vornherein ausgeschlossen; die Situation ist mit derjenigen in Griechenland vergleichbar, jedenfalls was den hier relevanten Zugang zu ärztlicher Versorgung und die für eine Ausheilung von Verletzungen notwendigen Begleitumstände angeht. Andererseits ist ein Erfolg in der Hauptsache angesichts des Umstands, dass die Mitgliedsstaaten der EU durch den verfassungsändernden Gesetzgeber selbst zu sicheren Drittstaaten bestimmt worden sind, auch nicht ohne weiteres zu bejahen.

Würde jetzt dem Antragsteller vorläufiger Rechtsschutz versagt, obsiegte er aber in der Hauptsache, könnten möglicherweise bereits eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden. Vorliegend besteht vor allem die Gefahr, dass der Antragsteller, der nach glaubhaftem Vorbringen (Bl. 41-46 GA) wegen einer unzureichenden Versorgung eines Oberschenkelbruchs behandlungsbedürftig ist, in Italien keine oder keine ausreichende medizinische Versorgung haben wird. Dass Flüchtlinge in Italien keine ausreichende Gesundheitsversorgung haben, ergibt sich beispielsweise aus den den stattgebenden Beschlüssen des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 09.11.2010 - 4 L 1455/10.DA und des Verwaltungsgerichts Köln vom 10.01.2011 - 20 L 1920/10.A - zu Grunde liegenden Erkenntnisquellen, die der Antragsgegnerin ebenfalls bekannt sind. Die Nachteile, die entstünden, wenn nach stattgebender Eilentscheidung des erkennenden Gerichts der Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache versagt bliebe, wiegen dagegen weniger schwer, weil gemäß Art. 19 Abs. 2 S. 4 und Art. 20 Abs.1 Buchstabe e Satz 4 der Dublin-Verordnung vorläufiger Rechtsschutz nach innerstaatlichem Recht auch im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems nicht ausgeschlossen sein soll. Außerdem ist der Selbsteintritt des an sich nicht zuständigen Staates gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung ausdrücklich vorgesehen und wird auch praktiziert. In Deutschland gibt es beispielsweise eine dem Gericht bekannte Praxis der Antragsgegnerin, im Rahmen ihres Ermessens hilfsbedürftigen Ausländern den Zugang zum deutschen Asylverfahren zu gewähren, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat kommen, dessen Verfahrensstandards deutlich hinter dem zurückbleiben, was im Rahmen der gemeinsamen Asylpolitik für wünschenswert gehalten wird. Die Antragsgegnerin hat weder in dem angefochtenen Bescheid noch im gerichtlichen Verfahren erläutert, weshalb sie vorliegend diese Voraussetzungen nicht für gegeben erachtet. [...]