VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 14.10.2010 - 10 K 2387/09 - asyl.net: M18333
https://www.asyl.net/rsdb/M18333
Leitsatz:

Zum Ermessen hinsichtlich der Länge der Befristung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung.

Schlagwörter: Befristung, Sperrwirkung, Ausweisung, Ermessen, Straftat, Jugendstrafe, Freiheitsstrafe, deutscher Ehegatte, deutsches Kind, Sorgerecht, Allgemeine Verwaltungsvorschriften
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 27 Abs. 1, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

1. Rechtsgrundlage für die Befristung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG ist § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG.

Dabei steht die Bestimmung der Länge der Frist im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.9.2007, 1 C 21/07 in Juris Rn. 19; OVG Bremen, Beschl. v. 16.7.2009, 1 B 217/09 in Juris Rn. 33 m.w.N.; neuerdings bezweifelt von Pfaff ZAR 2010, 183 ff.).

2. Die Beklagte hat dieses Ermessen zwar erkannt, seine Ausübung ist indes fehlerhaft.

a) Die Beklagte geht in den angefochtenen Bescheiden in Übereinstimmung mit 11.1.4.6.1 der VV-AufenthG in Fällen wie dem vorliegenden (Ausweisungstatbestand nach § 53 AufenthG; hier: Nr. 1) in Ausübung ihres Ermessens von einer Regelfrist von 10 Jahren aus (kritisch hierzu Pfaff, a.a.O.; VG Darmstadt, Urt. v. 17.12.2009, 5 K 115/09.DA in Juris).

b) Ebenfalls in Übereinstimmung mit der VV-Aufenthaltsgesetz und der Rechtsprechung geht die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden im Grundsatz davon aus, dass eine kürzere Frist in Betracht kommt, wenn ohne Ausweisung ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels bestünde oder sonstige schutzwürdige Belange des Ausländers eine frühere Wiedereinreisemöglichkeit zwingend gebieten.

c) Wenn die Beklagte im Weiteren dann im vorliegenden Fall einen gesetzlichen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und deshalb eine Verkürzung der Frist verneint, weil die Aufnahme einer ehelichen bzw. familiären Lebensgemeinschaft des Klägers in Deutschland nicht zu erwarten sei (von der Beklagten offenbar verstanden i. S. e. häuslichen Gemeinschaft), übersieht sie § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 27 Abs. 1 AufenthG: Danach ist dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Der Kläger ist Vater eines minderjährigen ledigen Deutschen, nämlich seines Sohnes ..., für den er das Sorgerecht hat. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger seine Absicht, das Sorgerecht auszuüben, nur vorgibt, sind weder benannt noch lassen sich solche sonst feststellen. Im Gegenteil: Der Jugendhilfeakte lassen sich wiederholte Bemühungen über Angehörige des Klägers um Kontaktaufnahme zu dem Kind entnehmen, die aber vom Jugendamt jeweils vereitelt wurden.

Gelangte das Kind des Klägers im Übrigen auch nach dessen Rückkehr nach Deutschland womöglich nicht zu ihm, sondern verbliebe es weiterhin bei den Pflegeeltern, stünde dies dem Tatbestand von § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht entgegen. Eine häusliche Gemeinschaft ist nicht vorausgesetzt entgegen der bei der Beklagten offenbar noch immer verbreiteten Auffassung (vgl. hierzu im Zusammenhang mit Art. 6 GG etwa: BVerfG, Beschl. v. 30.1.2002, 2 BvR 231/00; Beschl. v. 8.12.2005, 2 BvR 1001/04; Beschl. v. 1.12.2008, 2 BvR 1830/08; Beschl. v. 9.1.2009, 2 BvR 1064/08 - alle in Juris). Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger in Ausübung seines Sorgerechtes sich – entgegen seinen bisherigen Bekundungen – nicht in dem Maße an der Betreuung des Kindes beteiligen würde, das erforderlich ist, um den Schutzbereich von Art. 6 GG zu erfüllen, bestehen nicht. Dass dieses bislang nur prognostisch zu beurteilen ist, liegt im Rahmen von § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Natur der Sache.

Dass das Sorgerecht des Klägers derzeit ruht, steht dem Tatbestand von § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht entgegen, da das Ruhen nur Folge seiner zwangsweisen Abwesenheit ist.

d) Da die Beklagte sich wesentlich aufgrund dieser rechtlichen Fehleinschätzung über das Vorliegen eines gesetzlichen Anspruchs des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (ohne die Ausweisung) daran gehindert gesehen hat, eine kürzere als die von ihr angenommene Regelfrist für das Ende der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung zu bestimmen, und nach ihrer eigenen Vorgabe zumindest nicht auszuschließen ist, dass sie ohne diese Fehleinschätzung eine kürzere Frist bestimmt hätte, ist ihre Ermessensbetätigung fehlerhaft und sie zur Neubescheidung zu verpflichten, bei der sie den fraglichen Umstand angemessen zu berücksichtigen haben wird. [...]