VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Beschluss vom 31.03.2011 - RN 6 E 11.30133 - asyl.net: M18411
https://www.asyl.net/rsdb/M18411
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Abschiebung nach Syrien. Es liegt derzeit zwar (noch) kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt wie in Libyen vor, der zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG führt. Hierzu könnte es im maßgeblichen Zeitpunkt der noch nicht terminierten mündlichen Verhandlung im Klageverfahren aber kommen. Eine realistische Prognose ist nicht möglich, die Situation in Syrien muss aber als sehr ernst eingeschätzt werden, weshalb die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers geht.

Schlagwörter: Asylverfahren, Asylfolgeantrag, vorläufiger Rechtsschutz, Syrien, Abschiebungsverbot, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, deutsch-syrisches Rückübernahmeabkommen, Libyen
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet. [...]

2. Ein Anordnungsanspruch ist dann gegeben, wenn zu erwarten ist, dass die Klage des Antragstellers (RN 8 K 11.30058) erfolgreich sein wird und ein Anspruch auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG oder eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG besteht. Die Feststellung eines Bleiberechts könnte dann der Abschiebungsandrohung entgegengehalten werden.

Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Klageverfahren, § 77 Abs. 1 AsylVfG. Ob dann ein derartiger Anspruch besteht, ist derzeit offen.

a) Aufgrund der Schilderung im Asylerstverfahren kann nach der derzeitigen Situation in Syrien nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr mit massiven Übergriffen zu rechnen hat, da er angab, aus der Haft entlassen worden zu sein, weil festgestellt wurde, er sei nicht in einer kurdischen Partei. Er war damit auch nicht hinreichend verdächtig, Regimegegner zu sein.

Nur wegen der Asylantragstellung ist die Gefährdung für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung nicht ausreichend, da mit schwerwiegenden Übergriffen bzw. Inhaftierungen nur in Einzelfällen zu rechnen ist (Auswärtiges Amt, Lagebericht Syrien vom 27.9.2010).

b) Es liegt auch derzeit kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor, der die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 2 AsylVfG ermöglicht. Nachdem maßgeblicher Zeitpunkt aber die noch nicht terminierte mündliche Verhandlung im Klageverfahren ist (s.o.), § 77 Abs. 1 AsylVfG, muss eine Prognose der zu erwartenden Situation erfolgen. Grundsätzlich bleiben bei der Betrachtung der Situation im Heimatland zwar mögliche Änderungen außer Betracht. Die derzeitige Lage ist jedoch sehr gefährlich, da Präsident Assad erklärt hat, "wer die Schlacht will, kann sie haben" (www.spiegel.de vom 30.3.2011). Einige Forderungen der Demonstranten wurden zwar als berechtigt angesehen, insbesondere die Aufhebung der Notstandsgesetze ist aber entgegen vorheriger Ankündigungen bisher nicht erfolgt. Es ist bei der derzeitigen Lage damit zu rechnen, dass weitere Demonstrationen erfolgen, zumal die Rede Assads den Großteil der bisherigen Demonstranten enttäuscht hat. Es kann dann zu der Schlacht kommen, die Präsident Assad androhte. Ihr Umfang ist nicht absehbar, sie kann aber wie in Libyen das Maß erreichen, das die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 2 AsylVfG rechtfertigt.

c) Aufgrund der vorliegenden Situation ist auch offen, ob sich die Situation für abgeschobene Personen nach dem Rückübernahmeabkommen verbessert, weil sich die syrischen Stellen nicht mehr um diesen Personenkreis kümmern können oder verschlechtert, weil von diesem Personenkreis eine weitere Verschärfung der innerstaatlichen Probleme erwartet wird.

d) Eine realistische Prognose der Wahrscheinlichkeit, dass zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Klageverfahren ein Abschiebungsverbot besteht, ist nicht möglich. Die Situation muss aber als sehr ernst eingeschätzt werden. Bei dieser Lage muss eine Abwägung der Interessen der Parteien erfolgen. Hierbei kommt es nicht nur quantitativ auf die Höhe der Wahrscheinlichkeit eines Abschiebungsverbotes, sondern auch qualitativ darauf an, wie hoch in diesem Fall die Gefährdung der betroffenen Rechtsgüter ist.

Vorliegend sind die tangierten Interessen der Antragsgegnerin, dass abgelehnte Asylbewerber ohne Bleiberecht abgeschoben werden können, erheblich, auch wenn zu erwarten ist, dass zumindest in einigen Monaten die innenpolitische Situation in Syrien so weit geklärt ist, dass Abschiebungen nach Syrien prinzipiell wieder möglich sind. Diese Interessen müssen aber gegenüber den Interessen des Antragstellers zurücktreten, da im Falle eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG, Leib und Leben des Antragstellers massiv gefährdet werden und auch keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen dürfte. Wegen der Gewichtigkeit der gefährdeten Rechtsgüter steht nicht entgegen, dass derzeit eine quantitativ überwiegende Wahrscheinlichkeit für ein Abschiebungsverbot nicht festgestellt werden kann.

In der Gesamtabwägung kommt das Gericht damit zu dem Ergebnis, dass der für den Erlass der einstweiligen Anordnung erforderlich Anordnungsanspruch vorliegt. Wegen der unmittelbar bevorstehenden Abschiebung war dem Antrag durch den Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben. [...]