VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 06.10.2010 - 5 L 492/10.DA - asyl.net: M18499
https://www.asyl.net/rsdb/M18499
Leitsatz:

Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im vorläufigen Rechtsschutzverfahren; dem Antragsteller ist insbesondere die Ausreise für die Dauer des Visumsverfahrens zuzumuten.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, aufschiebende Wirkung, Suspensiveffekt, öffentliches Interesse, Aufenthaltserlaubnis, Ehegattennachzug, Familiennachzug, Familienzusammenführung, nationales Visum, Visumsverfahren, deutscher Ehegatte, Freizügigkeitsgesetz/EU, freizügigkeitsberechtigt, Freizügigkeitsvermutung, Visumspflicht, drittstaatsangehöriger Ehegatte,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5 S. 1 1. Alt., VwGO § 80 Abs. 5, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist unbegründet.

Das private Interesse des Antragstellers, sich bis zum Abschluss des Klageverfahrens im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, tritt hinter dem öffentlichen Vollzugsinteresse zurück. Die Verfügung der Antragsgegnerin vom 16.03.2010 erweist sich als offensichtlich rechtmäßig und ihre Vollziehung als eilbedürftig.

Der Antragsteller hat nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Ehegattennachzugs zu seiner deutschen Ehefrau (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). [...]

Der Antragsteller ist aufgrund des touristischen Aufenthalts in Tschechien in der Zeit vom 09.01.2010 bis 12.01.2010 mit seiner deutschen Ehefrau nicht entsprechend §§ 2 Abs. 2 Nr. 6, 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Der hier gegebene Sachverhalt weist zwar einen gemeinschaftsrechtlichen Bezug auf: Die deutsche Ehefrau hielt sich gemeinsam mit dem Antragsteller in Tschechien auf, ist sodann mit ihm nach Deutschland zurückgekehrt und hat damit sowohl von dem Recht auf Freizügigkeit aus Art. 21 AEUV (früher: Art. 18 EG) als auch von der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV (früher: Art. 49 EG) Gebrauch gemacht.

Dieser gemeinschaftsrechtliche Bezug reicht aber zur Begründung eines gemeinschaftsrechtlichen Status der Ehefrau, der dem Antragsteller als drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers Freizügigkeit vermitteln könnte, nicht aus (ebenso HessVGH, B. v. 22.10.2010 - 3 B 2948/09 - Juris; VGH BW, B. v. 25.01.2010 - 11 S 2181/09 - Juris; weitere Nachweise zum Ehegattennachzug im Rahmen einer so genannten "Dänemark-Ehe" oder "Express-Heirat", www.miqrationsrecht.net/cat view/350-abhandlungen-und-beitraege.html,). [...]

Der Antragsteller vermag sich weiterhin nicht auf die dem FreizügG/EU immanente Freizügigkeitsvermutung (vgl. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU) zu berufen, da diese auf Familienangehörige Deutscher keine entsprechende Anwendung findet. Das FreizügG/EU geht bei Unionsbürgern und drittstaatsangehörigen Familienangehörigen von einer Freizügigkeitsvermutung aus, die erst erlischt, wenn die Ausländerbehörde eine Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU getroffen hat. Die Gesetzesmaterialien stellen hierzu fest (BT-Drs 15/420 S. 106):

"Auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nicht oder nicht mehr nach Gemeinschaftsrecht freizügigkeitsberechtigt sind und auch kein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 5 genießen, findet dieses Gesetz keine Anwendung, sondern die Betroffenen unterliegen dem allgemeinen Ausländerrecht. Entsprechend dem Grundsatz, dass Unionsbürger und ihre Angehörigen weitestgehend aus dem Geltungsbereich des allgemeinen Ausländerrechts herausgenommen werden, setzt dies einen - nicht notwendigerweise unanfechtbaren - Feststellungsakt der zuständigen Behörde voraus. Damit gilt für den in § 1 beschriebenen Personenkreis zunächst eine Vermutung der Freizügigkeit."

Sperrt das FreizügG/EU auch für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die keine Freizügigkeit beanspruchen können, die Anwendbarkeit des AufenthG bis zum Erlass der Feststellung nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU oder § 6 Abs. 1 FreizügG/EU, so bedeutet dies nicht automatisch, dass diese Regelung entsprechend auf Rückkehrerfälle Anwendung findet. Die Freizügigkeitsvermutung knüpft an einen grenzüberschreitenden Sachverhalt an, der durch den Aufenthalt eines nicht deutschen Unionsbürgers (§ 1 Abs. 1 FreizügG/EU) im Bundesgebiet gekennzeichnet ist. Der Aufenthalt des Unionsbürgers aus einem der Mitgliedstaaten der EU bildet die Grundlage für die Freizügigkeitsvermutung. Demgegenüber fehlt es bei den Rückkehrerfällen an einem gleichwertigen Anknüpfungspunkt für die Freizügigkeitsvermutung. In diesen Fällen ist vielmehr eine genaue Analyse des grenzüberschreitenden Sachverhalts erforderlich, um überhaupt von einem Freizügigkeit vermittelnden Tatbestand ausgehen zu können. Daher scheidet die analoge Anwendung der Vermutung in Rückkehrerfällen aus.

Ist damit das Aufenthaltsgesetz auch ohne Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit anwendbar, so steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bereits das Fehlen der Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 AufenthG entgegen. Für über drei Monate hinausgehende (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) längerfristige Aufenthalte ist grundsätzlich ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird (§ 6 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) und gegebenenfalls einer Zustimmung der für den vorgesehenen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde bedarf (§§ 31 ff. AufenthV). Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Einreise für einen längerfristigen Aufenthalt setzt daher voraus, dass der Ausländer mit dem entsprechenden nationalen Visum eingereist ist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AufenthG).

Diese - auch mit dem Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG grundsätzlich vereinbare (BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, B. v. 04.12.2007 - 2 BvR 2341/06 - InfAusIR 2008, 239) - nationale Visumpflicht gilt allerdings nicht, soweit der Ausländer die Aufenthaltserlaubnis gemäß § 99 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG i. V. m. §§ 39 ff. AufenthV nach der Einreise im Bundesgebiet einholen kann. Außerdem kann von ihrer Erfüllung nach Ermessen abgesehen werden, wenn die - sonstigen - Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).

Der Antragsteller kann sich nicht auf einen der Tatbestände des § 39 AufenthV berufen. [...]

Die Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin, der Einhaltung der Visumvorschriften den Vorrang gegenüber den privaten Interessen des Antragstellers einzuräumen, sind rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere liegen keine besonderen Umstände des Einzelfalles vor, aufgrund derer es dem Antragsteller nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Weder wohnen im Haushalt der Antragsteller kleine Kinder oder pflegebedürftige Personen, deren Betreuung im Fall des notwendigen Auslandsaufenthalts nicht gesichert wäre, noch ist dem Antragsteller die Reise wegen Krankheit, Behinderung oder altersbedingt unzumutbar oder unmöglich. Es bestehen reguläre Reiseverbindungen in das Herkunftsland. In Kasachstan gibt es zudem eine deutsche Auslandsvertretung. Die Kosten der Reise begründen ebenfalls keine Unzumutbarkeit. Ungeachtet der zu erwartenden Dauer des Visumverfahrens ist dem Antragsteller die nur vorübergehende Trennung von seiner Ehefrau zuzumuten. Der Antragsteller hat auch nicht geltend gemacht, dass er für die Betreuung seiner schwangeren Ehefrau im Bundesgebiet verbleiben müsste. Diese könnte ihn in sein Heimatland begleiten, um von dort aus das Visumverfahren zu betreiben, sofern eine Trennung vermieden werden soll. Insoweit sind die Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin nicht zu beanstanden, wenn diese einen kurzfristigen Aufenthalt des Antragstellers in Kasachstan zur Durch10 führung des Visumverfahrens für zumutbar hält. [...]