VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 18.05.2011 - 2 A 129/10 - asyl.net: M18583
https://www.asyl.net/rsdb/M18583
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines Journalisten wegen Verfolgungsgefahr im Iran aufgrund exilpolitischer Aktivitäten (Fernsehinterview in deutschem Lokalsender, Beiträge auf Facebook).

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Iran, Exilpolitik, Nachfluchtgründe, Journalist, Glaubhaftmachung, Posttraumatische Belastungsstörung, Sachverständigengutachten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Das Gericht hält die Angaben der Kläger zu den Gründen ihrer Ausreise für unwahr und geht davon aus, dass sie unverfolgt ausgereist sind. Daher fehlt auch den ärztlichen Stellungnahmen zu einer psychischen Erkrankung der Klägerin zu 2. die Grundlage. Weitere Ermittlungen dazu waren deshalb nicht geboten. Wegen seiner vorangegangenen Tätigkeit beim staatlichen Fernsehen, eines kritischen TV-Interviews in Deutschland und seines Internetauftritts mit regimekritischen Beiträgen muss der Kläger jedoch damit rechnen, bei seiner Wiedereinreise in den Iran politisch verfolgt zu werden. Die Klägerinnen zu 2. und 3. können im Falle der bestandskräftigen Flüchtlingsanerkennung des Klägers Familienflüchtlingsschutz beantragen. [...]

Obwohl die Kläger somit nach der Überzeugung des Gerichts unverfolgt ausgereist sind und sich auch nicht in einer latenten Verfolgungssituation befanden, droht dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Allerdings beruht dies nicht allein auf der Asylantragstellung oder dem längeren Auslandsaufenthalt. Denn solche Umstände führen in der Regel nicht zu Verfolgungshandlungen, weil den iranischen Behörden bekannt ist, dass viele Iraner einen Asylantrag stellen, um so einen Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland zu erhalten, den sie auf andere Weise nicht bekommen würden (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. vom 13.05.2011 - 13 LA 176/10 -). Die Rückkehr solcher Personen kann in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt führen, die mit einer ein- bis zweitägigen Haft einhergehen. Es ist jedoch keiner westlichen Botschaft bisher ein Fall bekannt geworden, in dem Zurückgeführte darüber hinaus staatlichen Repressionen ausgesetzt waren und es ist auch kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert wurden (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.02.2011 - Gz. 508-516.80/3 IRN).

Für den Kläger erhöht sich die Gefahr einer Verfolgung bis zu der vom Gericht angenommenen beachtlichen Wahrscheinlichkeit jedoch dadurch, dass in seiner Person weitere Umstände zusammentreffen, die ihn den Augen des Verfolgerstaates als Oppositionellen erscheinen lassen, dessen Wirken nicht reaktionslos hingenommen werden kann, wenn man seiner habhaft wird. Zunächst ist festzuhalten, dass der Kläger nach der Überzeugung des Gerichts tatsächlich beim staatlichen Fernsehen als Kameramann tätig war. Zwar hat er Nachweise in Form von Dokumenten hierfür nicht vorgelegt, doch ist auch die Beklagte ohne Zweifel zu äußern von der Richtigkeit dieser Einlassung ausgegangen. In der von den Klägern überreichten CD mit Aufnahmen ihrer Interviews, die im Lokalsender H1 gezeigt wurden, sind jeweils Szenen eingeblendet, die sie bei ihrer beruflichen Tätigkeit zeigen und erkennen lassen, dass sie zuvor wie behauptet beschäftigt waren. Der Kläger hat sich in seinem Interview kritisch mit den Verhältnissen im Iran auseinandergesetzt und angegeben, er sei Zeuge von Wahlfälschungen geworden. Zudem sei Druck ausgeübt worden, regierungsfreundliche propagandistische Sendungen zu veröffentlichen. Das herrschende Regime fürchte, bei Bekanntwerden der Wahrheit könne es zu Unruhen kommen. Da der Kläger glaubhaft angegeben hat, in seiner Heimatstadt als Kameramann sehr bekannt gewesen zu sein und eine eigene Live-Sendung produziert zu haben, die zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurde, muss davon ausgegangen werden, dass iranische Stellen ihn als einen potenziellen Meinungsführer betrachten, der in der Öffentlichkeit steht, und dessen oppositionelles Wirken nicht sanktionslos hingenommen werden kann. Es muss auch davon ausgegangen werden, dass den iranischen Behörden das lokale Fernsehinterview des Klägers bekannt geworden ist. Denn der iranische Staat beobachtet die im Ausland tätigen Oppositionsgruppen genau (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes a.a.O. S. 34). Zwar hat sich der Kläger keiner Oppositionsgruppe angeschlossen, doch belegt das Interview der Klägerin zu 2., das an einem anderen Tag ausgestrahlt wurde, dass es sich offenbar um eine Sendereihe handelt, in der Exiliraner zu Wort kommen.

Journalisten unterliegen in besonderem Maße staatlichen Verfolgungen, wenn sie sich oppositionell äußern oder betätigen. Gleiches gilt für Regisseure und Filmemacher. Im August 2010 wurde die Tageszeitung Asia geschlossen, im September folgte die reformorientierte Wochenzeitung Bahar-e-Zanjan. Am 07.12.2010 wurden vier Mitarbeiter der reformorientierten Tageszeitung Sharq verhaftet (vgl. Lagebericht a.a.O. S. 19). Der Kläger kann im weiteren Sinn zu der von Verfolgung bedrohten Personengruppe gerechnet werden. Auch die Erkenntnisse des beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bestehenden Informationszentrums Asyl und Migration - IZAM - belegen eine besondere Verfolgungsgefahr für Journalisten und Medienvertreter. So waren im Berichtszeitraum Oktober 2009 bis Januar 2010 im Iran 57 Journalisten inhaftiert. Weitere 50 Journalisten waren in den Monaten zuvor gegen Kaution aus der Haft entlassen worden (vgl. Erkenntnisse IZAM März 2010). Am 08.08.2009 wurde der iranische Journalistenverband auf behördliche Anordnung geschlossen und am 17.08.2009 die größte Oppositionszeitung "Etemad Melli" von der Generalstaatsanwaltschaft verboten (vgl. Erkenntnisse IZAM Juni 2010). Die oppositionelle Webseite Rahesabz berichtete am 01.06.2010 über die Festnahme der Journalistinnen Azam Veisameh und Mahbubeh Khansari, die zuvor für verschieden reformorientierte Tageszeitungen gearbeitet hatten (vgl. Erkenntnisse IZAM Oktober 2010). Am 10.10.2010 wurden in der westiranischen Stadt Tabriz zwei westliche Journalisten festgenommen und am 24.10.2010 berichtet die oppositionelle Webseite Kalameh.com, dass die regierungskritische Journalistin Mahra Amrabadi zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden sei (vgl. Erkenntnisse IZAM Februar 2011). Der Filmemacher Panahi wurde am 20.12.2010 wegen Kritik an der Regierung zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt und der Vorsitzende des iranischen Journalistenverbandes, Mashalla Shamsolwaesin wegen Untergrabung des islamischen Systems zu 16 Monaten Haft (vgl. Erkenntnisse IZAM April 2011).

Für den Kläger kommt gefährdungserhöhend hinzu, dass sich auf seiner Facebook-Seite viele regimekritische Beiträge finden. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (vgl. Lagebericht a.a.O. S. 20) konzentriert sich das Vorgehen der Behörden gegen reformorientierte Medien zunehmend auf das Internet. Jeder, der regimekritische Äußerungen im Internet hinterlässt, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen "Cyber-Krieg" gegen das Land führen zu wollen. Seit dem Erlass eines Gesetzes gegen Cyberkriminalität im Juli 2009 ist u.a. "jede Verbreitung von Propaganda gegen die Staatsordnung" strafbar. Zudem wurde die Vorratsdatenspeicherung eingeführt. Am 13.11.2009 gab der Leiter der Abteilung für Verbrechensbekämpfung im Internet bekannt, dass eine Sondereinheit zur Überwachung des Internets gegründet werde. Bei der Einheit handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine neu gegründete Einheit der Pasdaran (vgl. I 5.). Diese Einheit solle künftig Bereiche wie Betrug, Beleidigung, illegale Werbung und falsche Behauptungen im Netz genau überwachen. Im Fadenkreuz stehen sämtliche oppositionellen Seiten und Blogs. Nach den Ashura-Unruhen wies der Teheraner Polizeichef die Opposition darauf hin, sie "sollte sich darüber im Klaren sein, wohin sie ihre E-Mails und SMS versendet, da diese Systeme überwacht werden." Mitte März 2010 wurde der Sondereinheit ein erster Erfolg attestiert, als ein Schlag gegen einen vermeintlichen im Internet agierenden Verschwörerring bekannt gegeben wurde, bei dem 30 Personen verhaftet wurden. Da der Kläger durch sein kritisches Fernsehinterview beim Sender H1 in das Blickfeld iranischer Stellen geraten sein dürfte, ist es wahrscheinlich, dass auch sein Internetauftritt nicht verborgen geblieben ist. Der Kläger behauptet - was sich allerdings nicht verifizieren lässt - dass seine Seite bereits zweimal gehackt wurde, wobei er als Verursacher iranische Stellen vermutet. Da der Kläger ein in seiner Heimatstadt ... bekannter Kameramann des staatlichen Fernsehens mit eigener Live-Sendung ist, sich in Deutschland im öffentlichen Fernsehen kritisch zum iranischen Staat geäußert hat und auf seiner Webseite zahlreiche regimekritische Beiträge zu finden sind, kumulieren bei ihm mehrere gefahrerhöhende Faktoren, die in der Summe dazu führen, dass für den Fall seiner Rückkehr in den Iran gegenwärtig die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung droht. Deshalb ist er als Flüchtling i.S. des § 60 Abs. 1 AufenthG anzuerkennen.

Für die Klägerin zu 2. gilt nicht dasselbe. Zwar war auch sie beim staatlichen Fernsehen und Rundfunk beschäftigt, doch hat sie nach ihrer unverfolgten Ausreise keine oppositionellen Aktivitäten entfaltet oder sich regimekritisch geäußert. Während ihres Fernsehinterviews in Deutschland hat sie relativ neutral die tatsächlichen Verhältnisse geschildert, ohne dabei den iranischen Staat offen anzugreifen. Auch eine Internetpräsenz besitzt sie nicht. Vielmehr hat sie in der mündlichen Verhandlung ungefragt darauf hingewiesen, dass ausschließlich der Kläger im Internet aktiv sei. Nach der Überzeugung des Gerichts muss sie deshalb im Falle ihrer Rückkehr in den Iran nicht mit einer Verfolgung rechnen. Das gleiche gilt offensichtlich auch für die zweijährige Tochter der Kläger. [...]