VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 06.05.2011 - A 7 K 510/09 - asyl.net: M18603
https://www.asyl.net/rsdb/M18603
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG für Kurden wegen konkreter Verfolgungsgefahr in Syrien aufgrund der allgemeinen Lage. In der derzeitigen aufgeheizten Situation sind Personen, die im Ausland einen Asylantrag gestellt oder sich dort lange aufgehalten haben oder der kurdischen Minderheit angehören, noch stärker als bisher gefährdet. In absehbarer Zeit ist keine Besserung zu erwarten, daher ist über die entscheidungsreife Asylklage zu entscheiden.

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Die Berufung gegen diese Entscheidung wurde vom VGH Baden-Württemberg zugelassen (Beschluss vom 12.7.2011 - A 11 S 1795/11 -, asyl.net, M18857).

Schlagwörter: Asylverfahren, Abschiebungsverbot, Syrien, Kurden, deutsch-syrisches Rückübernahmeabkommen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Beim Kläger liegt im Hinblick auf die Arabische Republik Syrien zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung jedoch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG vor. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes Bescheid war deshalb insoweit aufzuheben.

Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Ausländer, die wie der Kläger ihr Heimatland unverfolgt verlassen haben, genießen Abschiebungsschutz nur, wenn ihnen bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei der Rückkehr in ihr Heimatland die genannte Gefahr konkret droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.08.1990 - 9 B 100.90 -, juris). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ist dann anzunehmen, wenn bei zusammenfassender Bewertung die für eine solche Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht haben und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen; maßgeblich ist in dieser Hinsicht letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, juris).

Gemessen an diesen Maßstäben droht dem Kläger nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen und vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Syrien, deren Änderung nicht absehbar ist, derzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefahr im obigen Sinn.

Nach dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.9.2010 (S. 19 f.) werden Personen, die im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen deutsch-syrischen Rückübernahmeabkomnnens nach Syrien zurückgeführt werden, bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt; diese Befragungen können sich über mehrere Stunden hinziehen. In manchen Fällen wird der Betroffene für die folgenden Tage nochmals zu einer Befragung einbestellt. In Einzelfällen werden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten. Dies dauert in der Regel "nicht länger als zwei Wochen".

Im o.g. Lagebericht sowie in der Stellungnahme des Bundesinnenministeriums vom 26.04.2011 auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke u.a. und der Fraktion DIE LINKE zu Abschiebungen nach Syrien wird von mehreren Fällen berichtet, in denen es zu Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung gekommen ist.

Im September 2009 wurde eine Person sieben Tage lang in der Geheimdienststelle ihres Heimatorts inhaftiert und verhört sowie danach unmittelbar an die Erste Staatsanwaltschaft nach Damaskus überstellt. Im Februar 2010 wurde sie darin wegen "Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind", von einem Militärgericht zu einer Haftstrafe von vier Monaten verurteilt. Nach Angaben des Anwalts sowie des Betroffenen stützen sich die Anklage und das Urteil auf den Vorwurf, er habe in Deutschland an einer Demonstration gegen das deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen teilgenommen. Nach seinen - vom Auswärtigen Amt bisher nicht verifizierbaren - Angaben wurde er während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt (zur systematischen Anwendung von Gewalt und in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.9.2010, Seite 16).

In einem weiteren Fall wurde eine Familie nach ihrer Rückführung am Flughafen Damaskus festgenommen und inhaftiert. Auf Nachfrage der Deutschen Botschaft in Damaskus nach den Haftgründen verwiesen die syrischen Behörden in einer Verbalnote auf die seinerzeit erfolgte illegale Ausreise der Familie. In einem nach der Haftentlassung mit der Familie geführten Telefonat gab diese an, dass sie mehrere Wochen inhaftiert gewesen und mehrfach zu ihren Ausreisegründen, den Grund des Aufenthalts in Deutschland und fehlenden Personaldokumenten befragt worden sei. Der Fall wird auch im Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vorn 22.12.2010 (A 5 K 495/10) aufgegriffen. Nach den dort gewonnenen Erkenntnissen habe die verhaftete Familie einen Teil der Haftzeit in Räumen ohne Tageslicht verbringen müssen. Sie sei beschimpft und mit Schlägen bedroht worden. Eine Person sei aufgrund ihrer Zuckerkrankheit kollabiert.

Zwei weitere Personen, die im Februar 2011 aus Hildesheim abgeschoben worden waren, wurden danach 10 bzw. 31 Tage in Syrien in Haft genommen, obwohl gegen sie von syrischer Seite keine Vorwürfe vorliegen.

Nach alledem liegen bereits aus der Zeit vor dem Erstarken der Protestbewegung gegen die syrische Regierung im März/April 2011 (vgl. dazu im Einzelnen "Revolte in Syrien 2011" , Wikipedia Stand 05.05.2011) ernst zu nehmende Erkenntnisse über willkürliche Verhaftungen durch die syrischen Stellen bei abgeschobenen syrischen Staatsangehörigen vor, wobei sich ein bestimmter Verfolgungsmodus nicht erkennen lässt. Die Verhaftungen betreffen sowohl exilpolitisch tätige Exilsyrer als auch Personen, die sich im Ausland nicht exilpolitisch betätigt haben. Soweit konkrete Vorwürfe gegenüber den Betroffenen überhaupt erhoben werden, reichen diese vom Vorwurf des illegalen Verlassens des Landes bis hin zum Vorwurf der wissentlichen Verbreitung von falschen oder übertriebenen Informationen im Ausland. Während der Haftzeit kommt es zu körperlichen und psychischen Misshandlungen (vgl. dazu auch VG Chemnitz, Urteil vom 22.12.2010, a.a.O.; VG Regensburg, Urteil vom 09,03.2011 - RO 6 K 10.30350).

Die Gefährdungslage bei Rücküberstellungen nach Syrien hat sich nach Überzeugung des Gerichts durch die dortigen aktuellen politischen Ereignisse weiter verschärft. Die Unruhen in Syrien haben sich ausweislich der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen spätestens seit den Massenprotesten in Daraa im April 2011 zu einer Revolte entwickelt, die von den Sicherheitskräften blutig und mit allen Mitteln bekämpft wird (vgl. dazu "Revolte in Syrien 2011 Wikipedia Stand 05.05.2011; Auswärtiges Amt, Reisewarnung Syrien, Stand 05.05.2011: "Unruhen gehen weiter", Hamburger Abendblatt vom 01.05.2011; "Syrische Regierung kündigt Reformen an", Focus online vom 01.05.2011; "Massenproteste fordern bereits mehr als 500 Opfer", Spiegel online vom 30.04.2011; "USA bringen Botschaftspersonal in Sicherheit", Spiegel online vom 26.04.2011; "Syriens Diktator zündelt am Pulverfass", Spiegel vom 26.04.2011). Danach wird von Sicherheitskräften wahllos auf Demonstranten geschossen; Stadtteile und Städte wie etwa Daraa und Banias werden von Armeepanzern und Sicherheitskräften abgeriegelt und ohne Strom, Wasserversorgung, Telefon- und Internetverbindung gelassen; es gibt nächtliche Hausdurchsuchungen mit Verhaftungen und Verschleppungen von Regimegegnern. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen haben die Demonstrationen gegen das Regime mittlerweile etwa 500 Menschen das Leben gekostet. Der Uno-Menschenrechtsrat billigte am 20.04.2011 Ermittlungen zur blutigen Niederschlagung der Proteste in Syrien. Zudem wurde die Regierung aufgefordert, umgehend alle politischen Gefangenen freizulassen und die Beschränkungen für Journalisten und das Internet aufzuheben. Wegen "fortgesetzter Menschenrechtsverletzungen" haben die USA Sanktionen gegen Vertraute von Präsident Assad verhängt. Auch die EU brachte Sanktionen gegen das syrische Regime auf den Weg (vgl. im Einzelnen Spiegel online vom 30.04.2011, a.a.O.; Hamburger Abendblatt vom 01.05.2011, s. auch "Wieder Tote bei Protesten", Stuttgarter Zeitung vom 07.05.2011: "Syrische Armee besetzt Städte", Stuttgarter Zeitung vom 09.05.2011). Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen nach Syrien und empfiehlt allen Deutschen in Syrien dringend die sofortige Ausreise.

Ausweislich eines Schreibens des Bundesinnenministeriums vom 28.04.2011 u.a. an die Ministerien und Senatsverwaltungen für Inneres der Länder sieht vor dem Hintergrund der aktuellen Lageentwicklung das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorläufig davon ab, Asylentscheidungen zum Herkunftsland Syrien zu treffen. Darüber hinaus erscheine es aus Sicht des Bundesinnenministeriums ratsam, vorläufig bis zur Klärung der Verhältnisse in Syrien tatsächlich keine Abschiebungen vorzunehmen.

Der Kläger muss im Falle einer Abschiebung nach Syrien auf Grund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit, des langen Verbleibens im Ausland und der Asylantragstellung in Deutschland im Falle der Abschiebung mit eingehenden Befragung durch den syrischen Geheimdienst und ggf. Inhaftierung rechnen, in deren Verlauf schon in der Vergangenheit die konkrete Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bestand. In Ansehung der o.g. Erkenntnisse über die derzeitige Lage in Syrien, in der die Sicherheitskräfte mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, Protestbewegungen zu unterdrücken, ist nach Überzeugung des Gerichts die Gefahr von Übergriffen nochmals erhöht. In der derzeitigen aufgeheizten Situation werden Personen, die im Ausland einen Asylantrag gestellt oder sich lange Zeit im Ausland aufgehalten haben oder die der kurdischen Minderheit angehören, die im Nordosten des Landes an den derzeitigen Protesten beteiligt ist, noch stärker als bisher Veranlassung zur Überprüfung geben, oh sie Gegner des syrischen Regimes sind oder ob von ihnen eine weitere Verschärfung der innerstaatlichen Probleme erwartet werden kann - mit der geschilderten Gefahr von Inhaftierung und menschenrechtswidriger Behandlung durch den syrischen Geheimdienst.

Dass angesichts der aktuellen Lage Abschiebungen nach Syrien nicht sicher und dem Betroffenen zumutbar sind, sieht offensichtlich auch das Bundesministerium des Inneren so, da andernfalls nicht mit Rundschreiben vom 26.04.2011 ein faktischer Abschiebungsstopp angeraten worden wäre, auch wenn "die zwingende Notwendigkeit einer förmlichen Beschlussfassung nach § 60a Abs. 1 AufenthG derzeit nicht gesehen" wird. Da nicht erkennbar ist, dass sich in absehbarer Zeit die Situation in Syrien zum Besseren wenden wird, hat der Kläger einen Anspruch darauf, dass das Gericht über seine entscheidungsreife Asylklage entscheidet und das vorliegend gegebene Abschiebungshindernis förmlich feststellt. [...]