VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Beschluss vom 31.05.2011 - 11 B 1163/11 - asyl.net: M18609
https://www.asyl.net/rsdb/M18609
Leitsatz:

1. Das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Elternteils eines minderjährigen Deutschen aus Art. 20 AEUV setzt nicht voraus, dass der Sachverhalt einen Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat der EU als Deutschland aufweist. Insbesondere ist nicht erforderlich, dass das deutsche Kind Deutschland jemals in Richtung eines anderen EU-Staates verlassen hat oder dies konkret beabsichtigt.

2. Das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Elternteils eines minderjährigen Deutschen aus Art. 20 AEUV gilt nicht schrankenlos, sondern kann - insbesondere aus Gründen der öffentlichen Sicherheit - unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingeschränkt werden. Der erhöhte Ausweisungsschutz aus Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG findet insoweit keine (analoge) Anwendung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltsrecht, Familienangehörige, deutsches Kind, Unionsbürger, Türkei, Ausweisung, Sperrwirkung, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Achtung des Familienlebens, Verhältnismäßigkeit, EuGH
Normen: AEUV Art. 20, RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 4, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 53 Nr. 1, AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 1a
Auszüge:

[...]

Auch ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK zum Schutz des Familienlebens des Antragstellers und seines deutschen Sohnes M. besteht nicht. Zwar kann die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG gemäß dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut abweichend von der Sperrwirkung der Ausweisung erteilt werden. Ob die Behörde von der Sperrwirkung einer Ausweisung absieht, ist eine Ermessensentscheidung (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 4. Januar 2010 - 8 ME 217/09 -; VG Oldenburg, Beschluss vom 1. November 2010 - 11 B 2363/10 -; Storr u.a., Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl., § 11 AufenthG Rn. 3; Burr, GK-AufenthG, § 25 Rn. 183). Bei dieser Ermessensentscheidung hat sie abzuwägen, ob zum Entscheidungszeitpunkt trotz der Ausweisung die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Frage kommt. Sie muss einerseits die Bedeutung und das Gewicht des jeweiligen tatsächlichen oder rechtlichen Ausreisehindernisses in den Blick nehmen und das gesetzgeberische Ziel berücksichtigen, Kettenduldungen zu vermeiden, wenn unverschuldete Ausreisehindernisse für längere Zeit bestehen. Diesen Interessen hat sie andererseits das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Sperrwirkung entgegenzustellen. Im Falle einer Ausweisung hängt dieses Interesse wesentlich vom Gewicht des jeweils verwirklichten Ausweisungsgrundes ab. Je nach Ausweisungsgrund ist zu fragen, ob vom Ausländer noch eine konkrete und schwere Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht oder ob der mit der Ausweisung verfolgte Zweck bereits erreicht ist (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 4. Januar 2010 - 8 ME 217/09 -; Hamburgisches OVG, Urteil vom 18. Dezember 2008 - 4 Bf 69/08 - juris, Rn. 42; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2000 - 13 S 1726/99 -, juris, Rn. 16; Burr, in: GK-AufenthG, § 25 Rn. 183 f.). Auch der Zeitablauf und das Verhalten des Ausländers seit der Ausweisung sind dabei zu berücksichtigen (vgl. Burr, in: GKAufenthG, § 25 Rn. 184; BVerfG, Beschluss vom 27. August 2010 - 2 BvR 130/10, NVwZ 2011, 35 37>).

Diesen Anforderungen genügen die Ermessenserwägungen des Antragsgegners in der Antragserwiderung vom 27. Mai 2011 (S. 5 f.). Der Antragsgegner hat den Umstand, dass ihm Ermessen zusteht, sowie die betroffenen öffentlichen und privaten Interessen erkannt. Er hat diese Belange gegeneinander abgewogen, ohne dabei ihr objektives Gewicht zu verkennen, und ist schließlich vertretbar zu dem Ergebnis gelangt, dass das öffentliche Interesse am Vollzug der Ausreisepflicht höher zu bewerten sei als das private Interesse des Antragstellers an einem Verbleib in Deutschland.

Der Antragsgegner hat die familiären Bindungen des Antragstellers in Deutschland, insbesondere den Umstand, dass er ein deutsches Kind hat, berücksichtigt. Er verweist aber zutreffend darauf, diese Bindungen insofern geschwächt sind, als der Antragsteller seine Familie schon im Herbst 2002 - und damit deutlich vor seiner Inhaftierung im März 2003 - verlassen hat, eine echte familiäre Gemeinschaft nun seit fast neun Jahren nicht mehr besteht und der Antragsteller auch nach seiner illegalen Wiedereinreise im Jahre 2009 anscheinend nicht bei seiner Lebensgefährtin und den Kindern wohnte, sondern bei einem Cousin in W.. Diesen geschwächten familiären Bindungen stellt er andererseits die Schwere der Straftat des Antragstellers (Überfall auf eine Sparkasse mit einer (ungeladenen) Pistole), die zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren führte und damit sogar deutlich (nämlich um ein Drittel) über der unteren Grenze der "Ist-Ausweisung" nach § 53 Nr. 1 AufenthG liegt, sowie den Umstand, dass der Antragsteller nach seiner Abschiebung aus der Haft illegal nach Deutschland zurückgekehrt ist und damit eine weitere Straftat (§ 95 Abs. 2 Nr. 1 a) AufenthG) begangen hat, gegenüber. Der Antragsgegner kommt dann zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller, entsprechend einer im November 2010 getroffenen Vereinbarung, noch für einen begrenzten und überschaubaren Zeitraum von ein bis zwei Jahren aus dem Bundesgebiet ferngehalten werden soll. Ob eine andere, dem Antragsteller günstigere Ermessensentscheidung möglich und ebenfalls sachgerecht gewesen wäre, hat das Gericht nicht zu überprüfen. Es hat lediglich festzustellen, dass die vom Antragsgegner getroffene Ermessensentscheidung nicht rechtswidrig war (vgl. Kopp/ Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 114 Rn. 4).

Auch aus Art. 20 AEUV und dem Umstand, dass sein Sohn M. als Deutscher zugleich Unionsbürger ist, kann der Antragsteller kein Aufenthaltsrecht ableiten.

Zwar hat der EuGH in der Rechtssache "Z.", C-34/09, Urteil vom 8. März 2011, NVwZ 2011, 545 ff. entschieden, dass Art. 20 AEUV es einem Mitgliedstaat verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der seinen minderjährigen Kindern, die Unionsbürger sind, Unterhalt gewährt, den Aufenthalt im Wohnsitzmitgliedstaat der Kinder, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, zu verweigern. Die Kammer ist auch - anders als der Antragsgegner - der Ansicht, dass der Antragsteller sich grundsätzlich auf diese Rechtsprechung berufen kann, ungeachtet des Umstandes, dass der Sachverhalt keinen Bezug zu einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union als Deutschland aufweist. Denn der Gerichtshof verlangt in der Z.-Entscheidung für die Anwendbarkeit des Art. 20 AEUV gerade nicht, dass der Unionsbürger, von dem der Drittstaatsangehörige ein Aufenthaltsrecht ableiten will, den Staat seiner Staatsangehörigkeit jemals verlassen hat oder dies konkret beabsichtigt. Entsprechende Einwände der Kommission und einiger Mitgliedstaaten (vgl. Ziff. 37 des Urteils) hat er nicht aufgenommen (vgl. zu dieser Frage ausführlich die Schlussanträge der Generalanwältin S. vom 30. September 2010, Zoff. 69-101; a.A. wohl OVG Münster, Beschluss vom 29. April 2011 - 18 B 377/11 -, juris Rn. 3 ff.).

Das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV gilt aber nicht schrankenlos (so im Ergebnis auch VGH Mannheim, Urteil vom 4. Mai 2011, 11 S 207/11; vgl. auch EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - G 135/08 - Inf. AuslR 2010, 185). Der EuGH selbst hat in dem überaus knappen Urteil Z. zwar keinerlei Ausführungen zu diesen Schranken gemacht. Den Schlussanträgen der Generalanwältin S. vom 30. September 2010 kann jedoch entnommen werden, dass das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingeschränkt werden kann, insbesondere aus Gründen der öffentlichen Sicherheit (vgl. Ziff. 108, 110 f., 116; vgl. ferner Ziff. 59). Frau S. betont mehrfach, dass der Kläger des vom EuGH zu entscheidenden Verfahrens nicht vorbestraft war und keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Belgien darstellte (vgl. Ziff. 64 f.; 113). Dagegen hat der Antragsteller des vorliegenden Verfahrens eine äußerst schwerwiegende Straftat begangen und auch durch sein seitheriges Verhalten (illegale Wiedereinreise) gezeigt, dass er nicht gewillt ist, die deutsche Rechtsordnung zu akzeptieren. Aus den oben im Rahmen von § 25 Abs. 5 AufenthG dargestellten Gründen ist es daher nicht unverhältnismäßig, sein Recht aus Art. 20 AEUV auf Aufenthalt im Bundesgebiet für einen überschaubaren weiteren Zeitraum einzuschränken. Der Antragsteller kann insbesondere nicht verlangen, dass die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung am erhöhten Maßstab von Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG gemessen wird (offen gelassen von VGH Mannheim, aaO.). Der EuGH hat im Urteil Z., aaO., Ziff. 39 ausdrücklich klargestellt, dass diese Richtlinie - anders als Art. 20 AEUV - in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der Unionsbürger sich ausschließlich im Land seiner Staatsangehörigkeit aufhält, nicht zur Anwendung kommt. [...]