OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 13.04.2011 - 13 LB 66/07 - asyl.net: M18624
https://www.asyl.net/rsdb/M18624
Leitsatz:

Ob die derzeitige Situation im Irak landesweit oder auch nur regional die Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG rechtfertigt, kann offen bleiben. Selbst bei Annahme eines solchen Konflikts besteht ein Abschiebungsverbot nur dann, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben "im Rahmen" dieses Konflikts ausgesetzt ist. Dies lässt sich im Fall der Klägerin nicht feststellen.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Irak, Dohuk, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, subsidiärer Schutz, erhebliche individuelle Gefahr, minderjährig, Sicherheitslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift, mit der die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines "subsidiären Schutzstatus" bzw. "subsidiären Schutzes" in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. An diesen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall. [...]

Die Frage, ob die derzeitige Situation im Irak die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, kann offenbleiben, da selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nur besteht, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben "im Rahmen" dieses Konflikts ausgesetzt ist. Eine solche Gefahr lässt sich im Fall der Klägerin nicht feststellen.

Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.7.2009 - 10 C 9.08 - (BVerwGE 134, 188) kann sich die nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG erforderliche Individualisierung der sich aus einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ergebenden allgemeinen Gefahr nicht nur aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann vielmehr unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Gefahrerhöhende Umstände in ihrer Person bestehen für die in Deutschland geborene Klägerin nicht. Soweit sie auf ihre westliche Prägung verweist, teilt sie dieses Merkmal mit einer Vielzahl der im westlichen Ausland geborenen bzw. dort seit langer Zeit lebenden Kurden. Eine individualisierte konkrete Gefährdung lässt sich daraus ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht herleiten. Zudem ist davon auszugehen, dass die Klägerin schon aufgrund ihres kindlichen Alters ohne weiteres in der Lage sein wird, sich den kulturellen Gegebenheiten ihrer Heimatregion anzupassen. [...]

Die erforderliche Individualisierung ergibt sich auch nicht aus einem besonders hohen Grad der der Klägerin in ihrer Heimatregion drohenden Gefahren, vor denen sie auch in den übrigen Teilen des Irak keinen Schutz finden könnte. Ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, lässt sich jedoch für die Provinz Dohuk, aus welcher die Eltern der Klägerin stammen, nicht feststellen.

Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 28.November 2010 hat sich die Sicherheitslage im Irak zwar erheblich verbessert, sie sei aber - außer in der Region Kurdistan Irak - immer noch verheerend. [...]

Nach Einschätzung des UNHCR in seinem Positionspapier vom 13. Mai 2009 ist die Sicherheitslage in den drei unter kurdischer Verwaltung stehenden Provinzen derzeit relativ stabil. Aufgrund verschiedener politischer und sicherheitsrelevanter Umstände bleibe die Gesamtsituation jedoch angespannt und die weitere Entwicklung unvorhersehbar. Amnesty International bezeichnet im Amnesty Report 2010 die Lage in der halbautonomen Region Kurdistan ebenfalls als generell besser und stabiler als im Rest des Landes, wenn auch im Jahr 2009 neue Menschenrechtsverletzungen gemeldet worden seien. [...]

Um den sich aus dieser Situation ergebenden Gefahrengrad abschätzen zu können, muss die Zahl der Opfer von Anschlägen in Relation zu der Zahl der gesamten Bevölkerung des Irak gesetzt werden. Nach dem in der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts zitierten Bericht der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count, die seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der irakischen Zivilbevölkerung zählt, sind diese im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen. Im Jahr 2009 habe die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei etwa 4.645 gelegen. Im Jahr 2008 habe die Zahl noch über 9.000 betragen. Das Informationszentrum Asyl und Migration zitiert ferner einen Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums vom Juni 2009, in dem bezogen auf den Zeitraum März bis Mai 2009 eine durchschnittlichen Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung von 9,2 pro Tag genannt wird. In einen späteren Bericht vom September 2009, der sich auf den Zeitraum Juni bis August 2009 beziehe, sei von durchschnittlich 204 Anschlägen pro Woche gegen die Zivilbevölkerung, die irakischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen die Rede, die damit um 19 % gegenüber dem vorangegangenen Berichtszeitraum zurückgegangen seien. Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung sei in diesem Zeitraum allerdings leicht auf 9,5 Tote pro Tag angestiegen. In der Provinz Dohuk, in der insgesamt 954.087 Menschen lebten, habe es im Jahr 2009 keinen einzigen Anschlag gegeben. Neben der Provinz Muthanna sei Dohuk in diesem Zeitraum die einzige irakische Provinz ohne Anschläge gewesen. Im Jahr 2008 habe es je 100.000 Einwohner 0,20 Tote gegeben. Die Sicherheitslage sei vor diesem Hintergrund als gut zu bezeichnen.

Nach diesen Erkenntnissen kann selbst bei Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Irak nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt in der Heimatregion der Klägerin und ihrer Eltern - der Provinz Dohuk - ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. [...]