OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 28.06.2011 - 1 A 141/11 - asyl.net: M18858
https://www.asyl.net/rsdb/M18858
Leitsatz:

Der Aufenthaltsbeendigung eines in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Ausländers kann Art. 8 EMRK entgegen stehen. Die Schrankenprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK verlangt eine umfassende Würdigung der Verhältnisse des Einzelfalls. Dass der Aufenthalt des betreffenden Ausländers in der Vergangenheit geduldet war, macht diese Prüfung nicht entbehrlich.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Verwurzelung, Achtung des Privatlebens, Duldung, rechtmäßiger Aufenthalt, Täuschung über Identität, minderjährig, Integrationsprognose, Unmöglichkeit der Ausreise, Verhältnismäßigkeit, notwendig in einer demokratischen Gesellschaft, Sicherung des Lebensunterhalts, Werbungskostenpauschale, Freibetrag, Ausweisungsgrund, Prognose, Straftat, atypischer Ausnahmefall
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8, AufenthG § 25 Abs. 5 S. 4, AufenthG § 104a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 6, AufenthG § 1 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1, SGB II § 11b Abs. 2 S. 1, SGB II § 11b Abs. 3, SGB II § 22 Abs. 5, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

II.

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK wegen Verwurzelung. Nach § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist (Satz 1). Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist (Satz 2). Die Aufenthaltserlaubnis darf allerdings nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Ein Verschulden liegt insbesondere vor, wenn der Ausländer falsche Angaben macht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht (Satz 3 und 4).

1. Der Anwendung von § 25 Abs. 5 AufenthG steht nicht entgegen, dass das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 01.12.2010 unter Abänderung der vorangegangenen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Bremen vom 14.11.2006 und des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 22.12.2006 die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Versagung des Aufenthaltstitels angeordnet und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung wiederhergestellt hat. Seitdem ist der Kläger nicht mehr vollziehbar ausreisepflichtig (§ 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG); die Beklagte ist nach der Rechtsprechung des Senats verpflichtet, dem Kläger eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG auszustellen (OVG Bremen, B. v. 17.09.2010, 1 B 140/10 - InfAuslR 2011, 11, 14 17/18>). Bis zu diesem Zeitpunkt bestand, nachdem der Verlängerungsantrag mit Bescheid vom 30.09.2004 abgelehnt worden war, eine sofortige Ausreisepflicht des Klägers. Sein Aufenthalt war in dieser Zeit lediglich geduldet.

Die verfahrensrechtliche Besserstellung, die durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 01.12.2010 eingetreten ist, hat nicht dazu geführt, dass der Kläger aus dem Anwendungsbereich des § 25 Abs. 5 AufenthG herausgefallen wäre. Die Vorschrift ist nämlich auch dann - entsprechend - anzuwenden, wenn das Gericht die sofortige Vollziehung eines Ablehnungsbescheids im Rahmen eines einstweiligen Rechtschutzverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO ausgesetzt hat. Der dadurch bewirkte verfahrensrechtliche Status lässt den materiell-rechtlichen Maßstab, nach dem das Aufenthaltserlaubnisbegehren sich beurteilt, unberührt. Nur auf diese Weise lassen sich sinnwidrige Ergebnisse vermeiden (zur Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG vgl. B. d. Senats v. 22.11.2010 - 1 B 154/10 - juris, Rn 61; zur vergleichbaren Problematik nach § 104a AufenthG jetzt auch BVerwG, U. v. 11.01.2011 - 1 C 22/09 - InfAuslR 2011, 240 242>).

2. Die unzutreffenden Angaben über die Identität und die Staatsangehörigkeit, durch die die Eltern des Klägers für sich und ihre minderjährigen Kinder in der Vergangenheit eine Duldung sowie ein befristetes Aufenthaltsrecht erlangten (Bescheide vom 07.10.1997 und vom 29.09.1999), stehen bezüglich des Klägers ebenfalls nicht der Anwendung von § 25 AufenthG entgegen. Die Staatsangehörigkeit der Familie ist inzwischen seit längerem geklärt. Das türkische Generalkonsulat hat sich am 17.07.2007 bereit erklärt, Passersatzpapiere auszustellen. Der Kläger, der zum Zeitpunkt der Täuschungshandlungen seiner Eltern minderjährig war, dem also in seiner Person eine Täuschung der deutschen Behörden nicht vorgehalten werden kann, beruft sich im vorliegenden Verfahren überdies auf eigene, von den Eltern unabhängige Aufenthaltsgründe. Der Ausschlusstatbestand des § 25 Abs. 5 Satz 4 AufenthG ist deshalb nicht gegeben.

3. Schließlich ist dem Kläger die Berufung auf § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK nicht deshalb verwehrt, weil er - legt man die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Integrationsprognose nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zugrunde - die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift nicht erfüllt. § 104a Abs. 2 AufenthG enthält eine Altfallregelung für volljährige ledige Kinder geduldeter Ausländer, die sich am 01.07.2007 mindestens 8 bzw. 6 Jahre im Bundesgebiet aufgehalten haben. Der Kläger, der am X.X.2008 volljährig geworden ist, fällt in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift.

Eine positive Integrationsprognose scheidet nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen des § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in aller Regel aus, wenn die Verurteilung zu einer Strafe doppelt so hoch ist wie die Tagessatz-Grenze in § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG (BVerwG, U. v. 27.01.2009 - 1 C 40/07 - BVerwGE 133, 72 80>; dazu kritisch OVG Bremen, B. v. 22.11.2010 - 1 B 154/10 - juris, Rn 50). Diese Tagessatz-Grenze überschreitet der Kläger, der durch Urteil des Jugendschöffengerichts Bremen vom 09.04.2008 zu einer Jugendstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt worden ist, deutlich.

Aus der Existenz von Bleiberechts- und Altfallregelungen ergibt sich jedoch keine Sperrwirkung für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK (BVerwG, U. v. 27.01.2009 - a.a.O. - 81>; OEufach0000000041, B. v. 22.11.2010 - 1 B 383/09 - juris, Rn 11; VGH Mannheim, U. v. 13.12.2010 - 11 S 2359/10 - DVBl 2011, 370 371>). Die genannten Regelungen befreien die Verwaltung und die Gerichte insbesondere nicht von der Verpflichtung, die sich aus dem Völkervertragsrecht - hier Art. 8 EMRK - ergebenen Bindungen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B. v. 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 - BVerfGE 111, 307 329>).

4. Im Falle des Klägers besteht nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK wegen Verwurzelung ein Ausreisehindernis. Eine behördlich veranlasste Aufenthaltsbeendigung würde unverhältnismäßig in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens eingreifen. Damit sind die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erfüllt.

(1) Das Recht auf Achtung des Privatlebens in Art. 8 Abs. 1 EMRK gibt einem Ausländer nach ständiger Spruchpraxis des EGMR keinen Anspruch darauf, sich einen Aufenthaltsort in einem Konventionsstaat frei zu wählen. Vielmehr ist den Konventionsstaaten grundsätzlich ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt, ob und unter welchen Voraussetzungen sie Einwanderung in ihr Hoheitsgebiet zulassen wollen. Die Vertragsstaaten haben nach den allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen das Recht, über Einreise, den Aufenthalt und die Aufenthaltsbeendigung fremder Staatsangehöriger zu entscheiden (vgl. EGMR, U. v. 16.09.2004 - 11103/03 - (Ghiban), NVwZ 2005, 1046; U. v. 07.10.2004 - 33743/03 - (Dragan), NVwZ 2005, 1043 1045>).

Allerdings kann einem Ausländer bei fortschreitender Aufenthaltsdauer aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens eine von dem Vertragsstaat zu beachtende Rechtsposition zuwachsen. Dieses Recht umfasst die Summe der persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für die Persönlichkeit eines jeden Menschen konstitutiv sind (EGMR, U. v. 09.10.2003 - 48321/99 <Slivenko>, EuGRZ 2006, 560 561>) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, B. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - BVerfGK 11, 153 159> und B. v. 21.02.2011 - 2 BvR 1392/10 - InfAuslR 2011, 235 236>; BVerwG, U. v. 27.01.2009, a.a.O., 82>). Eine Aufenthaltsbeendigung kann in diesem Fall einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen, der sich daran messen lassen muss, ob es sich um eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme handelt, die durch dringende öffentliche Interessen gerechtfertigt ist und mit Blick auf das verfolgte Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (BVerfG, B. v. 10.05.2007, a a.O. 160>; B. v. 21.02.2011, a.a.O., 236>).

Eine solche Schrankenprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist insbesondere dann geboten, wenn der Ausländer in dem Vertragsstaat geboren und aufgewachsen ist, d. h. die für seine Persönlichkeit maßgebliche Prägung in diesem Staat erfahren hat. Zwar vermittelt Art. 8 EMRK keiner Kategorie von Ausländern - auch nicht jenen, die im Gastland geboren wurden - einen absoluten Schutz vor einer Aufenthaltsbeendigung. Die Vorschrift verlangt aber, dass die besondere Situation von Ausländern, die den größten Teil oder ihre gesamte Kindheit im Gastland verbracht haben, berücksichtigt wird (EGMR, U. v. 23.06.2008 - 1638/03 - (Maslov II), InfAuslR 2008, 333 334>). Das Interesse an der Aufrechterhaltung der faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten persönlichen Bindungen ist in diesen Fällen mit den öffentlichen Interessen an einer Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) und einer Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwägen. Kriterien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung sind dabei u.a. (vgl. BVerwG, U. v. 27.01.2009, a.a.O., 83/84>): Die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, der Stand der gesellschaftlichen und sozialen Integration (Sprachkenntnisse, Schule/Beruf), das strafrechtlich relevante Verhalten sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betreffenden. Darüber hinaus ist in die Prüfung einzubeziehen, wie die Schwierigkeiten zu bewerten sind, auf die dieser bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat treffen würde. Je stärker danach das Ausmaß der Verwurzelung bzw. je nachteiliger die für den Ausländer mit einer Aufenthaltsbeendigung verbundenen Folgen sind, desto schwerer müssen die öffentlichen Interessen wiegen, die die Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen.

Eine solche Abwägung ist auch dann erforderlich, wenn der Aufenthalt des hier geborenen und aufgewachsenen Ausländers in der Vergangenheit überwiegend oder vollständig geduldet war. Zwar kann der aufenthaltsrechtliche Status, den der Ausländer bislang besessen hat, durchaus ein Kriterium sein, das für die Ermittlung des Ausmaßes der Verwurzelung von Relevanz ist. So kann ein lediglich geduldeter Aufenthalt dazu führen, dass die Schutzwürdigkeit des Interesses an den Fortbestand des Aufenthalts sich mindert. Maßgeblich sind insoweit aber stets die Verhältnisse des Einzelfalls. Nach der Rechtsprechung des EGMR, der auf die Gesamtheit der entstandenen persönlichen Bindungen abstellt, kann nicht angenommen werden, dass der Duldungsstatus einen hier aufgewachsenen Ausländer von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ausschließt. Zwar hat der EGMR wiederholt hervorgehoben, dass Personen, die ohne den geltenden Gesetzen zu entsprechen, die Behörden des Vertragsstaates mit ihrer Anwesenheit konfrontieren, im allgemeinen nicht erwarten können, dass ihnen ein Aufenthaltsrecht zugesprochen wird (EGMR, U. v. 16.09.2004, a.a.O. 1046>; U. v. 07.10.2004, a.a.O. 1045>). Auch in diesen Fällen hat der EGMR aber stets auf die Verhältnisse des Einzelfalles abgestellt, d. h. ist der Frage nachgegangen, ob bei dem Betreffenden ein schutzwürdiges Vertrauen in den Fortbestand des Aufenthalts entstanden ist (vgl. EGMR, U. v. 31.01.2006 - 50435/99 - (da Silva und Hoogkamer), InfAuslR 2006, 298 299>; U. v. 08.04.2008 - 21878/05 - <Nnyanzi>, ZAR 2010, 189 191>). Dass sich diese Frage in besonderer Weise bei hier geborenen und aufgewachsenen Ausländern stellt, die ihre für die Persönlichkeit maßgebliche Prägung in Deutschland erfahren haben, liegt auf der Hand (vgl. OVG Bremen, B. v. 22.11.2010 - 1 A 383/09 - juris, Rn 15). In diesem Sinne hat der EGMR jüngst noch einmal klargestellt, dass es bei im Vertragsstaat aufgewachsenen Ausländern für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht auf die Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthalts, sondern auf dessen die Persönlichkeit des Ausländers prägenden Charakter ankommt (EGMR, U. v. 14.06.2011 - 38058/09 - (Osman), www.echr.coe.int, Rn 65)). Auch das Bundesverwaltungsgericht macht die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK zwar "grundsätzlich" von einem rechtmäßigen Aufenthalt abhängig (U. v. 30.04.2009 - 1 C 3/08 - InfAuslR 2009, 333 335>), lässt dies aber nicht ausnahmslos gelten. Es hat zu Recht auf das Erfordernis einer individuellen Würdigung der Lebensumstände des Betreffenden hingewiesen und sich dagegen gewandt, einzelne Umstände zu isolieren und ihnen gleichsam den Charakter eines Ausschlusskriteriums beizumessen (BVerwG, B. v. 19.01.2010 - 1 B 25/09 - NVwZ 2010, 707 708>; vgl. B. v. 14.12.2010 - 1 B 30/10 - juris, Rn 3).

Soweit teilweise die Ansicht vertreten wird, die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK setze - auch bei Ausländern, die in dem Vertragsstaat geboren und aufgewachsen sind - stets einen formell legalisierten Aufenthalt voraus (vgl. etwa OVG Lüneburg, B. v. 12.08.2010 - 8 PA 182/10 - juris, Rn 6; Fritzsch, Die Grenzen des völkerrechtlichen Schutzes sozialer Bindungen von Ausländern nach Art. 8 EMRK, ZAR 2010, 14 16>), widerspricht dies der Forderung des EGMR nach einer konkreten Betrachtung der Lebensumstände des betreffenden Ausländers.

(2) Nach vorstehendem Maßstab kann es nicht zweifelhaft sein, dass der Kläger sich auf sein Recht auf Achtung des Privatlebens berufen kann, d. h. eine Aufenthaltsbeendigung einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen würde. Der jetzt 21 Jahre alte Kläger wurde in Deutschland geboren, ging hier zur Schule und übt inzwischen eine berufliche Tätigkeit aus. Er hat seine maßgebliche Prägung als Kind und Jugendlicher in Deutschland erfahren. Damit ist der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK eröffnet.

Die im Rahmen der Schrankenprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmende Abwägung führt zu dem Ergebnis, dass eine Aufenthaltsbeendigung im Falle des Klägers unverhältnismäßig wäre. Im Einzelnen ergibt sich das aus Folgendem:

Die für die Persönlichkeit des Klägers konstitutiven Bindungen sind in Deutschland begründet. Der Kläger hat hier von seiner Einschulung an bis zum 18. Lebensjahr die Schule besucht. Er hat zwar keinen Schulabschluss erlangt, gleichwohl aber die Fähigkeiten erworben, die ihn in die Lage versetzen, hier einer regulären Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die berufliche Tätigkeit als Reinigungskraft, die er seit August 2009 ausübt, belegt, dass er willens ist, seine Fähigkeiten einzusetzen und für sich selbst Verantwortung zu übernehmen.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht, dass er in Deutschland sein zu Hause sieht, und dies ist nach den vorhandenen Bindungen auch nachvollziehbar. Zwar kann ihm mit zunehmender Reife nicht unverborgen geblieben sein, dass er das Aufenthaltsrecht, das er vom 07.10.1997 bis zum 28.09.2001 besaß, aufgrund einer Täuschungshandlung seiner Eltern erlangt hatte und sein nachfolgender Aufenthalt in Deutschland ungesichert war. Das ändert aber nichts daran, dass er aufgrund seines langjährigen Aufenthalts die für seine Persönlichkeit maßgeblichen Bindungen faktisch hier begründet hat.

Den Verhältnissen in der Türkei, in der er sich bislang selbst zu Besuchszwecken nicht aufgehalten hat, ist der Kläger demgegenüber vollständig entwurzelt. Er beherrscht die deutsche Sprache in Wort und Schrift und spricht arabisch, verfügt aber über keinerlei Kenntnisse der türkischen Sprache. In der Türkei wäre er in der Situation eines Analphabeten.

Zwar existieren in der Türkei Verwandte des Klägers. Seine Eltern, bei denen er noch lebt, sowie seine jüngeren Geschwister, mit denen er aufgewachsen ist, leben aber in Bremen. Seine Eltern und seine jüngeren Schwestern sind im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG, lediglich bei seinem jüngeren Bruder hat das Gericht das Berufungsverfahren im Hinblick auf ein laufendes Strafverfahren ausgesetzt.

Aus der Geburt und dem Aufwachsen in dem Vertragsstaat folgt indes nicht, dass in jedem Fall von der Aufenthaltsbeendigung des Ausländers abgesehen werden müsste. In die Schrankenprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK, d. h. die nach dieser Vorschrift gebotene Prüfung der Verhältnismäßigkeit, sind die gegenläufigen öffentlichen Interessen einzubeziehen.

Dazu gehört unter anderem die Prüfung, ob von dem betreffenden Ausländer Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen. Die Vertragsstaaten sind berechtigt, auch den Aufenthalt dort geborener und aufgewachsener Ausländer zu beenden, wenn der Betreffende Straftaten von erheblichem Gewicht begangen hat und damit gerechnet werden muss, dass es zu weiteren erheblichen Straftaten kommt. In einem solchen Fall kann das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung die durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers überwiegen (EGMR, U. v. 25.03.2010 - 40601/05 - (Mutlag), InfAuslR 2010, 325 326>). Eine solche Fallkonstellation ist hier aber nicht gegeben.

Das strafrechtliche Fehlverhalten, das der Kläger in der Vergangenheit gezeigt hat, hat fraglos Gewicht. So ist der Kläger mit Urteil des Jugendschöffengerichts Bremen vom 09.04.2008 wegen verschiedener im Laufe des Jahres 2007 begangener bzw. versuchter Diebstähle zu einer Jugendstrafe von einem Jahr, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt worden. Das Jugendgericht hat es aufgrund der Art und der Vielzahl der vom Kläger begangenen Vermögensdelikte als dringend geboten angesehen, nachhaltig erzieherisch auf ihn einzuwirken (Seite 11 des Urteils vom 09.04.2008). Gleichwohl kam es bereits im April und Mai 2008 zu weiteren Diebstählen, die das Jugendschöffengericht Bremen durch Urteil vom 31.08.2009 mit einem 19-tägigen Jugendarrest ahndete. In diesem Urteil wird allerdings zugleich festgestellt, dass beim Kläger inzwischen eine deutliche Stabilisierung und eine positive Entwicklung eingetreten sei. Er habe in der Hauptverhandlung vom 31.08.2009 gezeigt, dass er sich von seinem bis Mitte 2008 gezeigten strafrechtlichen Fehlverhalten deutlich distanziere und er aus seinen Fehlern gelernt habe (Seite 11 des Urteils vom 31.08.2009). Das Oberverwaltungsgericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 28.06.2011 aufgrund der Einlassungen des Klägers den Eindruck gewonnen, dass in dieser Hinsicht bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine weitere Festigung des Klägers erfolgt ist. Bis auf den Vorfall vom 17.01.2010 - bei einer Personenkontrolle des Klägers wurden in einer Sporttasche drei Ampullen Testosteron entdeckt; das strafrechtliche Verfahren ist nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden - ist es zu keinem weiteren strafrechtlichen Fehlverhalten gekommen. Bei den vom Kläger in der Vergangenheit gezeigten strafrechtlichen Auffälligkeiten handelt es sich damit ersichtlich um Jugenddelinquenz. Dass von ihm im gegenwärtigen Zeitpunkt die Gefahr erneuter Straftaten ausgeht, kann nicht angenommen werden.

Das öffentliche Interesse an der wirksamen Steuerung des Zuzugs von Ausländern steht ebenfalls nicht der Annahme eines Aufenthaltsrechts nach Art. 8 EMRK entgegen. Zwar darf nicht übersehen werden, dass die Eltern des Klägers durch die von ihnen begangenen Täuschungshandlungen gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen haben, die für die Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern von erheblicher Bedeutung sind. Die Vertragsstaaten der EMRK haben ein legitimes Interesse daran, dass ihre einwanderungsrechtlichen Bestimmungen nicht unterlaufen werden (vgl. EGMR, U. v. 31.07.2008 - 265/07 - (Omoregie), InfAuslR 2008, 421 422>). Im vorliegenden Fall ist jedoch zu beachten, dass die Täuschungshandlungen nicht vom Kläger, sondern von seinen Eltern begangen wurden und der Kläger mit 21 Jahren nicht mehr in einem Alter ist, in dem er das aufenthaltsrechtliche Schicksal der Eltern teilt. Ab welchem Alter es insoweit geboten ist, im Hinblick auf den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK Jugendliche und Heranwachsende selbständig, d. h. losgelöst von der aufenthaltsrechtlichen Stellung ihrer Eltern zu betrachten, mag hier dahinstehen (vgl. dazu Eckertz-Höfer, Neuere Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung zum Schutz des Privatlebens, ZAR 2008, 41 45>). Der Kläger hat diese Grenze jedenfalls deutlich überschritten.

5. Der Kläger erfüllt bis auf die Passpflicht die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG.

(1) Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Das ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Fall, wenn der Ausländer seinen Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Dies erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den voraussichtlich zur Verfügung stehenden Mitteln. Bedarfs- und Einkommensermittlung richten sich dabei grundsätzlich nach den Maßstäben des Sozialrechts (BVerwG, U. v. 16.11.2010 - 1 C 21/09 - InfAuslR 2011, 144 146>).

Der Kläger ist seit dem 01.08.2009 vollzeit bei einer Reinigungsfirma beschäftigt und erzielt einen Monatslohn von brutto 1.200,00 Euro. Unter Berücksichtigung der steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Abzüge beträgt sein Nettolohn 909,42 Euro im Monat. Dem steht - ohne die Kosten der Unterkunft - ein Bedarf von 625,80 Euro gegenüber (364,00 Euro Regelsatz nach § 20 Abs. 2 SGB II - neugefasst durch Bekanntmachung vom 13.05.2011, BGBl I, Seite 850 -; 100,00 Euro Werbungskostenpauschale nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II; 161,09 Euro Erwerbstätigenfreibetrag nach § 11b Abs. 3 SGB II). Da der Kläger das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, kann ihm sozialrechtlich grundsätzlich zugemutet werden, bei seinen Eltern zu wohnen (vgl. § 22 Abs. 5 SGB II). Das ist vorliegend auch der Fall. Der Mietanteil, den der Kläger deswegen zu erbringen hat, beträgt 113,62 Euro (vgl. Mitteilung des Sozialzentrums Süd vom 16.09.2009), so dass die Einkünfte den Bedarf in jedem Fall übersteigen.

Unabhängig davon spricht einiges dafür, dass im Falle der Verwurzelung (§ 25 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK) der humanitäre Aufenthaltszweck auch die Frage berührt, ob von einer Sicherung des Lebensunterhalts ausgegangen werden kann. Ist der betreffende Ausländer - wie vorliegend der Kläger - vollzeit erwerbstätig und gelingt es ihm gleichwohl nicht - aufgrund seiner Beschäftigung im Niedriglohnsektor - die maßgebliche Bedarfsgrenze zu überschreiten, liegt es nahe, eine Ausnahme von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG anzunehmen.

Da der Kläger seinen Lebensunterhalt durch eigene Einkünfte sichern kann, kommen die Vorschriften über die Ermittlung des sozialrechtlichen Bedarfs bei einer Bedarfsgemeinschaft nicht zur Anwendung (vgl. §§ 7 Abs. 3 Nr. 4, 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II).

(2) Nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis weiter in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Ein Ausweisungsgrund in der Funktion eines Versagungsgrundes, der die Erteilung des Aufenthaltstitels in der Regel ausschließt, ist grundsätzlich bereits dann gegeben, wenn ein Ausweisungstatbestand abstrakt erfüllt ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer im konkreten Fall rechtsfehlerfrei ausgewiesen werden könnte (vgl. BVerwG, U. v. 16.07.2002 - 1 C 8/02 - BVerwGE 116, 378 385>; U. v. 28.09.2004 - 1 C 10/03 - BVerwGE 122, 94 98>).

Allerdings kann der Ausweisungsgrund der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegengehalten werden, wenn eine von der Regel abweichende Ausnahme gegeben ist. Das ist der Fall, wenn besondere Umstände vorliegen, die das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen. Das Vorliegen einer Ausnahme beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Dabei sind einerseits das Gewicht, das der Ausweisungsgrund hat, und andererseits die persönlichen Belange des Ausländers, insbesondere ein ihm nach Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK zustehender Schutz, in die Abwägung einzubeziehen. Das Gewicht des Ausweisungsgrundes bestimmt sich dabei maßgeblich nach einer aktuellen Prognose der von dem Ausländer ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (OEufach0000000041, B. v. 27.10.2009 - 1 B 224/09 - InfAuslR 2010, 29 31>; zuletzt B. v. 12.08.2010 - 1 B 160/10 - n. v.). Die Frage, ob eine Ausnahme von der Regel vorliegt, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung; der Ausländerbehörde steht insoweit kein Ermessensspielraum zu (vgl. BVerwG, U. v. 30.04.2009 - 1 C 3.08 - InfAuslR 2009, 333 334>). Erst wenn ein Ausnahmefall zu verneinen ist, stellt sich - in den Fällen des § 25 Abs. 5 AufenthG - die Frage, ob im Wege des der Ausländerbehörde nach § 5 Abs 3 Satz 2 AufenthG eingeräumten Ermessens von der Anwendung des § 5 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden kann.

Der Kläger hat, weil er wiederholt straffällig geworden ist (vgl. Urteile des Jugendschöffengerichts Bremen vom 09.04.2008 und 31.08.2009), einen Ausweisungsgrund verwirklicht. Der Regelversagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt in seinem Fall indes nicht zur Anwendung, weil ein Ausnahmefall gegeben ist. Der Kläger hat zwar als Jugendlicher ein erhebliches strafrechtliches Fehlverhalten gezeigt. Inzwischen hat er sich jedoch - wie oben im Einzelnen dargelegt - von dem in der Vergangenheit gezeigten Verhalten abgewandt. Bei ihm ist eine durchgreifende persönliche Festigung und Stabilisierung eingetreten. Dies rechtfertigt es - auch mit Rücksicht auf seine nach Art. 8 Abs. 1 EMRK schutzwürdigen Bindungen - eine Ausnahme im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG anzunehmen.

(3) Der Kläger erfüllt mithin, bis auf die Erfüllung der Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK. Gründe, von der Sollvorschrift des § 25 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abzusehen, bestehen nicht. Die mangelnde Spruchreife beruht allein darauf, dass der Kläger derzeit noch keinen gültigen Pass besitzt. [...]