BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 28.06.2011 - 1 C 18.10 - asyl.net: M18900
https://www.asyl.net/rsdb/M18900
Leitsatz:

Zuständigkeitsregelung in Baden-Württemberg für Aufenthaltsbeendigung bei Unionsbürgern wirksam.

Schlagwörter: Zuständigkeit, Ausländerbehörde, Unionsbürger, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Baden-Württemberg, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung,
Normen: AufenthG § 71 Abs. 1, AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1, FreizügG/EU § 2, FreizügG/EU § 6 Abs. 1, FreizügG/EU § 11, AAZuVO § 6 Abs. 3, RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3
Auszüge:

[...]

1. Die vom Kläger angefochtene Verlustfeststellung ist nicht formell rechtswidrig. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wurde der Bescheid von der zuständigen Behörde erlassen. Die Verlustfeststellung findet ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU. Die sachliche Zuständigkeit für derartige Feststellungen ist in Baden-Württemberg nach § 6 Abs. 3 der Verordnung der Landesregierung und des Innenministeriums über Zuständigkeiten nach dem Aufenthaltsgesetz, dem Asylverfahrensgesetz und dem Flüchtlingsaufnahmegesetz sowie über die Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer (Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung - AAZuVO) vom 2. Dezember 2008 (GBl Baden-Württemberg S. 465) bei den Regierungspräsidien konzentriert. Diese landesrechtliche Zuständigkeitsregelung beruht auf der bundesgesetzlichen Ermächtigung in § 71 Abs. 1 AufenthG. Danach sind für aufenthalts- und passrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen nach diesem Gesetz und nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen die Ausländerbehörden zuständig (Satz 1). Die Landesregierung oder die von ihr bestimmte Stelle kann bestimmen, dass für einzelne Aufgaben nur eine oder mehrere bestimmte Ausländerbehörden zuständig sind (Satz 2).

§ 71 Abs. 1 AufenthG gilt auch für Maßnahmen und Entscheidungen nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 findet das Aufenthaltsgesetz zwar grundsätzlich keine Anwendung auf Unionsbürger. Dies steht nach der genannten Regelung aber unter dem Vorbehalt, dass nicht "durch Gesetz" etwas anderes bestimmt ist. Solch eine gesetzliche Regelung ist § 71 Abs. 1 AufenthG. Diese Vorschrift enthält ausdrücklich eine über das Aufenthaltsgesetz hinausgehende, generalklauselartige Kompetenzzuweisung, die auch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen nach dem Freizügigkeitsgesetz erfasst. Insoweit bedurfte es daher entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts keiner Rückverweisung in § 11 FreizügG/EU auf das Aufenthaltsgesetz.

Mit dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, wonach das Aufenthaltsgesetz keine Anwendung findet auf Ausländer, deren Rechtsstellung von dem Freizügigkeitsgesetz/EU geregelt ist, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist, ist es ohne Weiteres zu vereinbaren, nicht nur die Rückverweisungen auf das Aufenthaltsgesetz im Freizügigkeitsgesetz/EU, sondern auch eine im Aufenthaltsgesetz selbst getroffene abweichende Regelung - wie die in § 71 Abs. 1 AufenthG - zu erfassen. Der Wortlaut des § 71 Abs. 1 AufenthG macht seinerseits deutlich, dass sich die Zuständigkeitsregelung nicht nur Geltung beimisst im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes, sondern auch für ausländerrechtliche Bestimmungen "in anderen Gesetzen".

Zusätzlich spricht der systematische Zusammenhang zwischen § 71 Abs. 1 AufenthG und § 11 FreizügG/EU dafür, dass sich die fragliche Zuständigkeitsregelung über das Aufenthaltsgesetz hinaus auch auf aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen gegenüber Unionsbürgern - also auch auf Verlustfeststellungen wie hier - bezieht. Dass eine Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme bzw. Entscheidung nach einer ausländerrechtlichen Bestimmung in einem anderen Gesetz (als dem Aufenthaltsgesetz) im Sinne des § 71 Abs. 1 AufenthG darstellt, bedarf keiner weiteren Begründung. Zudem setzt das Freizügigkeitsgesetz/EU die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG ersichtlich voraus. Das Freizügigkeitsgesetz/EU enthält selbst keine eigene Zuständigkeitsregelung, sondern knüpft an die Regelungen im Aufenthaltsgesetz an. So spricht das Freizügigkeitsgesetz/EU in § 11 Abs. 2 von der für Verlustfeststellungen zuständigen "Ausländerbehörde". Auch in § 5 Abs. 3 und § 7 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht von der nach Landesrecht zuständigen Behörde, sondern ausdrücklich von der (zuständigen) "Ausländerbehörde" die Rede. Insofern ist nach dieser gesetzlichen Systematik davon auszugehen, dass die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG nicht auf Maßnahmen und Entscheidungen nach diesem Gesetz beschränkt ist, sondern als allgemeine Kompetenzzuweisung auch im Bereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU Anwendung findet. Wegen des unmittelbaren Zusammenhangs mit der Zuständigkeitsregelung in Satz 1 gilt dies ebenfalls für die Konzentrationsermächtigung in § 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.

Weiterhin streiten auch Sinn und Zweck der maßgeblichen Vorschriften dafür, § 71 Abs. 1 AufenthG als generalklauselartige Kompetenzzuweisung zu verstehen, die über das Aufenthaltsgesetz hinausgeht. Es kann nicht angenommen werden, dass der Bundesgesetzgeber den Vollzug des Freizügigkeitsgesetzes/EU aus dem Aufgabenbündel, das er den Ländern mit dem bundesrechtlichen Begriff der "Ausländerbehörde" vorgegeben hat, herausnehmen wollte. Dagegen spricht vor allem der eigene Zuständigkeitsbereich des Bundes für die Erteilung von Einreisevisa an Familienangehörige von Unionsbürgern (vgl. § 2 Abs. 4 FreizügG/EU und § 71 Abs. 2 AufenthG). Hätte der Gesetzgeber die Regelungen in § 71 AufenthG auf Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz beschränken wollen, hätte er seine originäre Zuständigkeit für diesen Aufgabenbereich teilweise aufgegeben. Dabei handelt es sich aber um eine Zuständigkeit, die jedenfalls im Ausland von Landesbehörden nicht wahrgenommen werden kann.

Die Entstehungsgeschichte der Vorschriften steht dieser Auslegung nicht entgegen. Zwar findet sich in der Begründung zum Entwurf des Freizügigkeitsgesetzes/EU das Ziel, eine vom allgemeinen Ausländerrecht weitestgehend losgelöste Regelung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen zu erreichen (BTDrucks 15/420 S. 102). Ähnlich geht der Gesetzentwurf zum Aufenthaltsgesetz in seiner Begründung davon aus, dass aufgrund der fortschreitenden Einigung Europas und der weitreichenden Sonderstellung des Freizügigkeitsrechts Unionsbürger grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes ausgenommen werden. Eine Anwendung komme nur in Betracht, wenn "ein anderes Bundesgesetz" Vorschriften dieses Gesetzes ausdrücklich für anwendbar erkläre (BTDrucks 15/420 S. 68). Diese Zielvorstellungen haben im Wortlaut der Vorschriften, insbesondere in § 1 Abs. 2 AufenthG, aber jedenfalls hinsichtlich der Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG keinen Niederschlag gefunden. Die unionsrechtliche Ausrichtung der Gesetzesbegründungen bezieht sich bei verständiger Würdigung zudem auf die Ausgestaltung des materiellen Rechts und nicht auf Zuständigkeitsreglungen. Denn das Gemeinschaftsrecht überlässt es in aller Regel den Mitgliedstaaten, die behördlichen Vollzugskompetenzen selbst zu regeln. Für diese Deutung spricht auch, dass in der Gesetzesbegründung zu § 71 AufenthG ausdrücklich auf die inhaltsgleiche Vorgängervorschrift in § 63 AuslG 1990 Bezug genommen worden ist, die auch den Anwendungsbereich des vor dem Freizügigkeitsgesetz/EU geltenden Aufenthaltsgesetz/EWG erfasste (BTDrucks 15/420 S. 94).

2. Die materielle Rechtmäßigkeit der vom Kläger angefochtenen Verlustfeststellung kann im Revisionsverfahren mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil nicht abschließend beurteilt werden. Da der Kläger seinen Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Bundesgebiet hatte, kann eine Verlustfeststellung in Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 - sog. Unionsbürgerrichtlinie - nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden (§ 6 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Was unter zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit in diesem Sinne zu verstehen ist, ist dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 23. November 2010 in der Sache Tsakouridis (Rs. C-145/09 - InfAuslR 2011, 45) zu entnehmen. Hierbei ist zu beachten, dass der EuGH die Anforderungen an derartige zwingende Gründe teilweise anders beurteilt hat als der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen. Das Berufungsgericht wird in diesem Zusammenhang insbesondere den Hintergründen der vom Kläger zu verantwortenden Tat und der Tatbegehung nachzugehen haben. [...]