VG Oldenburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 07.09.2011 - 11 A 2205/10 - asyl.net: M18997
https://www.asyl.net/rsdb/M18997
Leitsatz:

1. Die Haftung für den Lebensunterhalt eines Ausländers nach § 68 AufenthG erstreckt sich grundsätzlich auch auf Zeiten der asylverfahrenrechtlichen Aufenthaltsgestattung. Sie erlischt aber für diesen Zeitraum rückwirkend, wenn der Ausländer als Asylberechtigter oder Flüchtling anerkannt wird.

2. Bestätigt der Erklärende bei Abgabe der Verpflichtungserklärung ausdrücklich, dass er aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse zu der Verpflichtung in der Lage ist, kann er der Behörde später nicht entgegenhalten, dass diese seine Leistungsfähigkeit nicht geprüft hat.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Kostenerstattung, Asylantrag, Asylverfahren, Aufenthaltsgestattung, Erlöschen, Besuchsvisum, Visum, Aufenthaltszweck
Normen: AufenthG § 68, AsylVfG § 55 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 55 Abs. 3, AufenthG § 25 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Beklagten steht aus § 68 Abs. 1 AufenthG ein Anspruch gegen die Klägerin auf Erstattung sämtlicher Mittel, die die Beklagte für den Lebensunterhalt der Frau .... einschließlich der Versorgung mit Wohnraum aufgewendet hat, zu. Diesen Anspruch kann die Beklagte durch Leistungsbescheid geltend machen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 33.97 -, InfAuslR 1999, 182 182 f.>; Funke-Kaiser, GK-AufenthG, § 68 Rn. 33).

Eine wirksame Verpflichtungserklärung der Klägerin, die den hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 19. Mai 2009 bis zum 31. August 2010 umfasst, liegt vor.

Die Verpflichtungserklärung erstreckte sich nicht nur auf den Geltungszeitraum des Touristenvisums der Frau … (17. Januar bis 14. Februar 2009). Der Geltungsdauer des Visums kommt keine entscheidende Bedeutung für die zeitliche Ausdehnung der Haftung des Verpflichtungsgebers zu. Denn die Verpflichtungserklärung soll einer Belastung der öffentlichen Kassen während des gesamten sich an die Einreise anschließenden Aufenthalts des Ausländers in Deutschland vorbeugen. Die Verpflichtung endet in der Regel erst mit dem Ende des Aufenthalts oder dann, wenn der ursprüngliche Aufenthaltszweck durch einen anderen ersetzt und dies aufenthaltsrechtlich anerkannt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 33.97 -, InfAuslR 1999, 182 184>). Sie ist nur dann auf die Geltungsdauer des Besuchervisums, zu dessen Erteilung sie abgegeben wurde, beschränkt, wenn der Erklärende dies eindeutig zum Ausdruck gebracht hat. Eine solche Haftungsbeschränkung versteht sich nicht von selbst. Da es nicht ungewöhnlich ist, dass ein Ausländer nach Ablauf seines Besuchervisums einen Daueraufenthalt in Deutschland anstrebt, ist es für die Behörden bei der Entscheidung über ein Visum durchaus von Bedeutung, dass die Übernahme der Lebensunterhaltskosten auch für diesen Fall gesichert ist (ähnl. Nds. OVG, Urteil vom 20. Juli 2005 - 7 LB 182/02 - InfAuslR 2005, 485 486>; Funke-Kaiser, GK-AufenthG, § 68 Rn. 20). Ob es für den Verpflichtungsgeber absehbar war, dass der Ausländer nach seiner Einreise einen Asylantrag stellen wird, ist in diesem Zusammenhang irrelevant (Nds. OVG, Urteil vom 20. Juli 2005 - 7 LB 182/02 - InfAuslR 2005, 485 488>).

Eine besondere Haftungsbeschränkung kann der Verpflichtungserklärung der Klägerin nicht entnommen werden. Unter "Dauer der Verpflichtung" steht dort: "vom Beginn der voraussichtlichen Visumsgültigkeit [hier wurde Januar 2009 eingetragen] bis zur Beendigung des Aufenthalts des o.g. Ausländers/in oder bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck". Damit war eindeutig eine über die Geltungsdauer des Visums hinausgehende Verpflichtung im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung gemeint.

Auch dass die finanzielle Leistungsfähigkeit der Klägerin von der Stadt ... nicht geprüft wurde, als sie die Verpflichtungserklärung entgegen nahm, führt nicht zur Unwirksamkeit der Erklärung, sondern hat allenfalls zur Folge, dass höhere Anforderungen an die Ermessensentscheidung der Beklagten, ob sie die Klägerin in Anspruch nehmen will, zu stellen sind (vgl. Dienelt, in: Renner, AuslR, 9. Aufl., § 68 Rn. 9; Funke-Kaiser; GK-AufenthG, § 68 Rn. 15; Nds. OVG, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 11 LC 88/06 -, juris; ähnl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 33.97 -, InfAuslR 1999, 182 187 ff.>; s. zum Ermessen näher unten). Anders wäre es möglicherweise, wenn die Klägerin sich bei der Abgabe der Verpflichtungserklärung in einer psychischen Zwangslage befunden hätte, so dass die Annahme der Erklärung durch die Stadt … ohne vorherige Prüfung der Leistungsfähigkeit gegen die guten Sitten verstieß (vgl. Eberle, in: Storr u.a., Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl., § 68 AufenthG Rn. 13; krit. zu dieser Rechtsfigur BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 33.97 -, InfAuslR 1999, 182 185 f.>). Hierfür gibt es aber keine Anhaltspunkte. Namentlich stand die Klägerin nicht in einer engen persönlichen oder verwandtschaftlichen Beziehung zu Frau …, aufgrund derer sie sich trotz Leistungsunfähigkeit sittlich zur Abgabe der Verpflichtungserklärung gezwungen gefühlt haben könnte (vgl. dazu auch Funke-Kaiser, GK-AufenthG, § 68 Rn. 23 f.). Die beiden Frauen kannten sich nach ihren übereinstimmenden Angaben kaum.

Eine Verpflichtungserklärung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts außerdem unwirksam, wenn der Erklärende von vornherein erkennbar wirtschaftlich außerstande war, irgendeine Haftung zu übernehmen (vgl. Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 33.97 -, InfAuslR 1999, 182 187>). Auch dies ist hier aber nicht ersichtlich. Der Erklärungsvordruck, den die Klägerin unterschrieben hat, enthält ausdrücklich folgenden Passus: "Ich bestätige, zu der Verpflichtung aufgrund meiner wirtschaftlichen Verhältnisse in der Lage zu sein." Es ist ein treuwidriges "venire contra factum proprium", wenn die Klägerin den Behörden nun vorwirft, dass sie sich auf die Richtigkeit dieser Erklärung verlassen haben.

Und schließlich kann die Klägerin nicht einwenden, die Verpflichtungserklärung sei unwirksam, weil die Stadt … sie damals nicht ausreichend über den zeitlichen und inhaltlichen Umfang der Haftung aufgeklärt habe. Eine solche Aufklärungspflicht besteht nicht, wenn sich Inhalt und Umfang der Haftung schon hinreichend deutlich aus dem Text der Erklärung selbst ergeben (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 20. Juli 2005 - 7 LB 182/02 - InfAuslR 2005, 485 486 f.>; a.A. wohl Funke-Kaiser, GKAufenthG, § 68 Rn. 14). Hier ist - wie oben ausgeführt - dem Erklärungstext eindeutig zu entnehmen, dass die Verpflichtungserklärung den gesamten Aufenthalt der Ausländerin in Deutschland auch über den Ablauf des Visums hinaus erfassen soll. Im Übrigen steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass die Klägerin von der Stadt … über Umfang und Dauer der Haftung informiert wurde. Dies ergibt sich aus folgenden Indizien:

In dem von der Klägerin unterschriebenen Erklärungsformular heißt es ausdrücklich:

"Ich wurde von der Ausländerbehörde/ Auslandsvertretung hingewiesen auf: - den Umfang und die Dauer der Haftung und die Bindungswirkung dieser Verpflichtung."

Zwar ist das Erklärungsformular keine öffentliche Urkunde, die nach § 98 VwGO i.V.m. § 415 Abs. 1, 418 Abs. 1 ZPO den vollen Beweis erbringt, dass eine solche Aufklärung tatsächlich stattgefunden hat (vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 16. April 2008 - 11 A 5223/06 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Februar 2006, 11 S 1857/05 -, juris). Der Umstand, dass die Klägerin damals selbst bestätigt hat, hinreichend aufgeklärt worden zu sein, ist aber dennoch ein erhebliches Indiz in diese Richtung. [...]

Eine Verpflichtungserklärung verliert ihre Wirksamkeit allerdings, wenn der Ausländer in eine Position hineinwächst, in der er unabhängig von der Lebensunterhaltssicherung einen Anspruch auf Verlängerung oder Erteilung eines Aufenthaltstitels hat. Sie kann daher nicht mehr Grundlage eines Erstattungsanspruchs hinsichtlich solcher Mittel sein, die nach diesem Zeitpunkt aufgewendet wurden (VG Ansbach, Urteil vom 21. August 2008 - AN 5 K 08.01116 - juris Rn. 20; VG Köln, Urteil vom 12. Dezember 2008 - 5 K 3672/07 -, juris Rn. 28; VG Hannover, Urteil vom 20. November 2001 - 3 A 3320/01 -, InfAuslR 2002, 195 f.; Funke-Kaiser, GK-AufenthG, § 68 Rn. 5). Während des Zeitraums, für den die Klägerin hier in Anspruch genommen wird (19. Mai 2009 bis 31. August 2008), war der Aufenthalt der Frau ... in Deutschland (mit Ausnahme der letzten vierzehn Tage) gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unabhängig von der Lebensunterhaltssicherung gestattet. In Rechtsprechung und Literatur wird teilweise vertreten, dass der Verpflichtungsgeber nicht für Zeiten eines asylverfahrensrechtlich gestatteten Aufenthalts hafte, weil auch die Gestattung ein von der Lebensunterhaltssicherung unabhängiges Aufenthaltsrecht sei (vgl. Funke-Kaiser, GK-AufenthG, § 68 Rn. 21; VG Minden, Urteil vom 11. November 2002 - 11 K 1203/02 - juris Rn. 24; Bay. VGH, Urteil vom 3. März 1998 - 12 B 96.3002 -, juris Rn. 26). Teilweise wird dies aber anders gesehen, da die Aufenthaltsgestattung kein Aufenthaltstitel ist (vgl. Bay LSG, Beschluss vom 12. November 2008 - L 11 B 845/08 AY ER -, juris Rn. 28; im Ergebnis wohl ebenso, aber ohne ausdrücklich Auseinandersetzung mit dem Problem Nds. OVG, Urteil vom 20. Juli 2005 - 7 LB 182/02 - InfAuslR 2005, 485 ff.).

Nach Auffassung des erkennenden Gerichts muss danach differenziert werden, ob der Asylantrag des Ausländers erfolgreich oder erfolglos ist. Der Vorschrift des § 55 Abs. 3 AsylVfG kann der Rechtsgedanke entnommen werden, dass die Zeit der asylverfahrensrechtlichen Aufenthaltsgestattung dann - aber auch nur dann - einem rechtmäßigen Aufenthalt gleichstehen soll, wenn der Antragsteller als Asylberechtigter oder Flüchtling anerkannt wird. Diesem Rechtsgedanken würde es widersprechen, wenn die Aufenthaltsgestattung schon als solche - also unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens - die Haftung des Verpflichtungsgebers erlöschen ließe. Eine solche Ansicht würde auch dem Schutzbedürfnis der öffentlichen Hand nicht hinreichend gerecht. Dass ein Ausländer nach Ablauf seines Visums versucht, den Aufenthalt in Deutschland durch einen Asylantrag zu verlängern, und der Staat in dieser Zeit für seinen Lebensunterhalt aufkommen muss, gehört zu den typischen Gefahren, die mit der Erteilung eines Touristenvisums verbunden sind. Es wäre widersinnig, wenn die Verpflichtungserklärung gerade in diesem Fall nicht gelten sollte. Daher kann die mit der Stellung eines Asylantrags verbundene Aufenthaltsgestattung noch nicht als solche zu einem Erlöschen der Haftung führen. Diese erlischt erst, wenn dem Ausländer die Asylberechtigung oder Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird und er einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG erhält, dann allerdings nach dem Rechtsgedanken des § 55 Abs. 3 AsylVfG rückwirkend auch für die Zeit der asylverfahrensrechtlichen Aufenthaltsgestattung. Ein bereits erlassener Kostenbescheid müsste dann wegen der rückwirkend eingetretenen Rechtswidrigkeit von Amts wegen nach § 48 VwVfG aufgehoben werden (vgl. auch Kopp/ Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., § 48 Rn. 57).

Da das Asylverfahren der Frau … inzwischen bestandskräftig negativ abgeschlossen ist, steht fest, dass die Klägerin auch für den Lebensunterhalt während der Zeit des gestatteten Aufenthalts haften muss.

Damit haftet die Klägerin nach § 68 Abs. 1 AufenthG für sämtliche Mittel, die die Beklagte für den Lebensunterhalt der Frau … aufgewendet hat und die nicht auf einer Beitragsleistung beruhen. Einwände gegen die Höhe der Forderung der Beklagten hat die Klägerin nicht erhoben. Auch das Gericht hat in dieser Hinsicht keine Bedenken.

Die Entscheidung der Beklagten, die Klägerin aus der Verpflichtungserklärung in Anspruch zu nehmen, war auch nicht ermessensfehlerhaft. Im Regelfall ist der Verpflichtete zur Erstattung heranzuziehen, ohne dass es Ermessenserwägungen bedarf. Nur in atypischen Fällen ist eine Ermessensentscheidung zu treffen. Ein Regelfall liegt vor, wenn die Voraussetzungen des Aufenthaltstitels einschließlich der finanziellen Belastbarkeit des Verpflichteten im Verwaltungsverfahren voll und individuell geprüft worden sind und nichts dafür spricht, dass die Heranziehung zu einer unzumutbaren Belastung des Verpflichteten führen könnte (BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 33.97 - InfAuslR 1999, 182 188>). Ferner spricht für einen Regelfall, wenn der Aufenthalt des Ausländers in D ausschließlich privaten Zwecken dient (Nds. OVG, Urteil vom 20. Juli 2005 - 7 LB 182/02 -, InfAuslR 2005, 485 487>). Allerdings kann gerade bei Verpflichtungserklärungen, die für einen Kurzaufenthalt zu Besuchszwecken abgegeben wurden, ein Ausnahmefall in Betracht kommen, wenn die Behörde bei Entgegennahme der Erklärung die finanzielle Leistungsfähigkeit des Erklärenden nicht geprüft und insofern eine bewusste Risikoentscheidung getroffen hat (vgl. Dienelt, in: Renner. AuslR, 9. Aufl., § 68 Rn. 9; Funke-Kaiser; GK-AufenthG, § 68 Rn. 15; Nds. OVG, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 11 LC 88/06 -, juris; ähnl. auch BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 33.97 -, InfAuslR 1999, 182 187 ff.>).

Vorliegend ist ein Regelfall gegeben, in dem die Heranziehung der Klägerin keiner Ermessenserwägungen bedurfte. [...]

Die Klägerin wird durch die Heranziehung zu Kosten von insgesamt 6.519,52 EUR auch angesichts ihrer aktuellen finanziellen Verhältnisse nicht unzumutbar belastet, wenn man berücksichtigt, dass sie die Verpflichtung ohne jeden erkennbaren sittlichen oder moralischen Zwang aus freien Stücken und zu einem rein privaten Zweck einging. In welcher Höhe von der Klägerin nach ihren derzeitigen Verhältnissen Raten verlangt bzw. Vermögensgegenstände gepfändet werden können, ist im Einzelnen dem Vollstreckungsverfahren vorzubehalten. Für das Festsetzungsverfahren reicht es aus, dass die Diskrepanz zwischen Forderung und Vermögen nicht so exorbitant ist, dass eine Tilgung praktisch ausgeschlossen erscheint. [...]