VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.09.2011 - A 11 S 2172/11 - asyl.net: M19026
https://www.asyl.net/rsdb/M19026
Leitsatz:

1. Zulassung der Berufung des BAMF gegen Urteil des VG Stuttgart vom 29.6.2011 - A 7 K 3804/10 - (M18716), mit welchem ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG für Kurden wegen Verfolgungsgefahr in Syrien aufgrund der allgemeinen Lage festgestellt wurde, wegen grundsätzlicher Bedeutung.

2. Ablehung des Berufungszulassungsantrags des Klägers gegen die Versagung von § 60 Abs. 1 AufenthG. Die geltend gemachte Divergenz liege nicht vor, allerdings weise der Kläger zurecht darauf hin, dass der vom VG festgestellte Sachverhalt den Schluss nahe legt, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr in Syrien menschenrechtswidrige Behandlung allein wegen seiner (vermuteten) oppositionellen Haltung und damit in Anknüpfung an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal droht.

Schlagwörter: Berufungszulassung, Grundsätzliche Bedeutung, Abschiebungsverbot, Syrien, Kurden, Yeziden, Asylantrag, Verfolgungsgefahr, Verfolgungsgrund, erhebliche individuelle Gefahr, politische Verfolgung
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 60 Abs. 2, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

1. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung ist zulässig und begründet. Die Beklagte hat in ihrem innerhalb der Antragsfrist (§ 78 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG) gestellten Antrag in einer den formellen Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 3 und 4 AsylVfG genügenden Weise dargelegt, dass die Rechtssache insbesondere bezüglich des vom Verwaltungsgericht angenommenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG hat, die auch in der Sache vorliegt.

2. Der auf den Zulassungsgrund der Divergenz gestützte Zulassungsantrag des Klägers bleibt hingegen ohne Erfolg. Nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG ist die Berufung wegen Divergenz nur zuzulassen, wenn das Urteil von einer Entscheidung des übergeordneten Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine Abweichung ist gegeben, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift ausdrücklich oder konkludent von einem in der Rechtsprechung eines der genannten Gerichte aufgestellten Rechtssatz mit einem widersprechenden Rechtssatz abgerückt ist und die angegriffene Entscheidung auf dieser Abweichung beruht; unerheblich ist dabei, ob die Abweichung bewusst oder unbewusst erfolgt ist. Zur Darlegung der Rechtssatzdivergenz ist es erforderlich, dass ein die angefochtene Entscheidung tragender abstrakter Rechtssatz aufgezeigt wird, der zu einem ebensolchen Rechtssatz in der Entscheidung des höheren Gerichts in Widerspruch steht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.1997 - 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328). Entsprechendes gilt für eine Divergenz in Bezug auf Tatsachenfragen, d.h. verallgemeinerungsfähige Tatsachenfeststellungen und -bewertungen. Erforderlich ist ferner, dass die Divergenz unter Durchdringung des Prozessstoffs erläutert bzw. erklärt wird. Die Unvereinbarkeit der im angefochtenen Urteil und in der Entscheidung des höheren Gerichts dargelegten Rechtssätze muss aufgezeigt werden, d.h. es muss ausgeführt werden, worin nach Auffassung des Antragstellers die Abweichung liegen soll (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.1997 - a.a.O.). Andererseits stellt nicht jeder Rechtsverstoß die Einheit der Rechtsprechung infrage, weshalb die Verkennung oder fehlerhafte Anwendung eines Rechtssatzes keine Divergenzrüge eröffnet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17.01.1995 - 6 B 39.94 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 342; vom 10.07.1995 - 9 B 18.95 - NVwZ-RR 1997, 191; vom 19.08.1997 - a.a.O.). Das bloße Aufzeigen einer nur fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die eines der genannten Gerichte in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt dem Darlegungserfordernis einer Divergenzrüge nicht.

Nach diesen Maßstäben bleibt der Antrag ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, der Kläger müsse im Fall einer Abschiebung nach Syrien aufgrund seiner Ausreise aus Syrien, seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und der Asylantragstellung in Deutschland mit eingehender Befragung durch den syrischen Geheimdienst und ggfs. mit Inhaftierung rechnen, in deren Verlauf schon in der Vergangenheit die konkrete Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bestanden habe. In Ansehung der Erkenntnislage über die derzeitige Lage in Syrien, in der die Sicherheitskräfte mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchten, Protestbewegungen zu unterdrücken, sei nach Überzeugung des Gerichts die Gefahr von Übergriffen nochmals erhöht. Im Rahmen der derzeitigen aufgeheizten Situation würden Personen, die im Ausland einen Asylantrag gestellt oder sich lange Zeit im Ausland aufgehalten hätten oder der kurdischen Minderheit angehörten, die im Nordosten des Landes an den derzeitigen Protesten beteiligt sei, noch stärker als bisher Veranlassung zur Überprüfung geben, ob sie Gegner des syrischen Systems seien oder ob von ihnen eine weitere Verschärfung der innerstaatlichen Probleme erwartet werden könne - mit der geschilderten Gefahr von Inhaftierung und menschenrechtswidriger Behandlung durch den syrischen Geheimdienst (siehe im Übrigen im Einzelnen Urteil S. 10 f.).

Das Verwaltungsgericht nimmt das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG an, weil dem Kläger im Rahmen der Überprüfung, ob er Gegner des syrischen Systems sei, die konkrete Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung drohe. Die Frage der Erheblichkeit dessen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist jedoch im Urteil nicht berücksichtigt worden. Der vom Verwaltungsgericht festgestellte Sachverhalt legt - worauf der Kläger zurecht hinweist - den Schluss nahe, dass ihm menschenrechtswidrige Behandlung im Fall einer Rückkehr allein wegen (vermuteter) oppositioneller Haltung und damit in Anknüpfung an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal drohe. Bei einem vom Verfolger gehegten Verdacht der Trägerschaft von asylerheblichen Merkmalen dürfen die zur Aufklärung dieses Verdachts eingesetzten Mittel jedoch nicht als asylerheblich unbeachtlich qualifiziert werden (BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - juris Rn. 20; Kammerbeschluss vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - juris Rn. 19). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Kläger von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 - juris Rn. 10 ff. sowie Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG). Ob die Verfolgung wegen eines asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Merkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerfG, Kammerbeschluss vom 28.01.1993, a.a.O., Rn. 24; BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 13).

Von diesen vom Kläger in der Beschwerdebegründung aufgezeigten Rechtssätzen ist das Verwaltungsgericht ausdrücklich nicht abgewichen. Auf der Grundlage der Darlegungen des Klägers ist auch nicht anzunehmen, das Verwaltungsgericht habe stillschweigend einen hiervon divergierenden allgemeinen Rechtssatz dahingehend aufgestellt, für die erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und flüchtlingsrelevantem Merkmal sei eine lediglich unterstellte politische Überzeugung nicht hinreichend. Vielmehr ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs. 1 AufenthG allgemein davon ausgeht, dass eine lediglich unterstellte politische Überzeugung und die zur entsprechenden Aufklärung eingesetzten Mittel zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft führen können. Dass es die oben genannten Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts und Bundesverfassungsgerichts seiner Rechtsprechung zugrunde legt, zeigt die Prüfung hinsichtlich der Frage, ob der Kläger wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit oder yezidischen Religionszugehörigkeit politischer Verfolgung ausgesetzt ist sowie die hierzu zitierte Rechtsprechung; auf diesen Kontext geht der Zulassungsantrag nicht ein. Insoweit liegt zwar - was die Relevanz der angenommenen drohende menschenrechtswidrige Behandlung des Klägers bei einer Rückkehr anbelangt - eine unrichtige Rechtsanwendung nahe; eine Divergenz ist aber nicht aufgezeigt. [...]