BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - asyl.net: M19183
https://www.asyl.net/rsdb/M19183
Leitsatz:

Es liegt ein Verstoß gegen das Willkürverbot vor, wenn ein Gericht es versäumt, eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg zu der Frage einzuholen, ob europarechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen die Möglichkeit eingeräumt werden muss, gegen sie ergangene Ausweisungsverfügungen im Rahmen behördlicher Widerspruchsverfahren anzufechten.

Schlagwörter: Unionsbürgerrichtlinie, Willkür, EuGH, gesetzlicher Richter, Ausweisung, Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, türkische Staatsangehörige, Willkürverbot, Straftat, Vorlagebeschluss
Normen: GG Art. 3 Abs. 1, GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3, FreizügG/EU § 6 Abs. 5 S. 3, EG Art. 234 Abs. 3, AEUV Art. 267 Abs. 3, ARB 1/80 Art. 7 S. 2
Auszüge:

[...]

b) Nach diesem Maßstab sind die angegriffenen Entscheidungen mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar.

aa) Der Verwaltungsgerichtshof und das Verwaltungsgericht unterstellen, dass Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie und die entsprechende nationale Regelung in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU auf den Beschwerdeführer anwendbar seien, er sich aber nicht darauf berufen könne, weil schon wegen seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten ein zwingender Grund der öffentlichen Sicherheit vorliege. Mit der Frage einer an die Feststellung eines derartigen zwingenden Grundes anschließenden Ermessens- oder Abwägungsentscheidung befassen sie sich nicht, sondern gehen davon aus, dass bereits die verwirkte Freiheitsstrafe zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt. Das Berufungsgericht betont dabei ausdrücklich, der nationale Gesetzgeber habe bestimmt, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit "stets" dann vorlägen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Taten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden sei. Es teilt damit die schon der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zugrunde liegende Ansicht, die sich ebenfalls in der Feststellung erschöpft, dass der Beschwerdeführer die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU erfülle, weil er zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt worden sei.

bb) Soweit die Gerichte davon ausgehen, dass eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren gleichsam automatisch zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt, ist dies schon nach dem Wortlaut des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU nicht gerechtfertigt. Danach "können" zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit nur dann vorliegen, wenn der Betroffene unter anderem wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wurde. Eine entsprechende Verurteilung ist danach notwendige Voraussetzung für die Annahme zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit, genügt dafür aber nicht. Allein dieses Normverständnis steht auch in Einklang mit Wortlaut und Systematik des § 6 FreizügG/EU insgesamt, der in den Absätzen 2 und 3 Kriterien formuliert, die bei der Entscheidung über die Feststellung des Verlusts des Aufenthaltsrechts gemäß Absatz 1 zu berücksichtigen sind. Für die Unionsbürger, die einen zehnjährigen Aufenthalt aufzuweisen haben und deren Ausweisung von verschärften Voraussetzungen abhängt, gilt nichts anderes, wie sich zweifelsfrei aus Absatz 5 Satz 1 ergibt: Danach darf der Verlust des Aufenthaltsrechts nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Mithin knüpft das Gesetz an deren Vorliegen nicht ohne Weiteres die Rechtsfolge des Verlusts des Aufenthaltsrechts. Vielmehr normiert § 6 Abs. 5 FreizügG/EU für den dort genannten Personenkreis zusätzliche Anforderungen, unter denen überhaupt eine Feststellung des Verlusts des Aufenthaltsrechts in Betracht kommt, ohne hingegen eine Prüfung ihrer Voraussetzungen im Übrigen entbehrlich zu machen.

Die in den angegriffenen Entscheidungen vertretene Ansicht widerspricht darüber hinaus der Gesetzesbegründung zu § 6 FreizügG/EU (BTDrucks 16/5065, S. 211, zu Nummer 7, Buchstabe b), in der es heißt:

"Das Vorliegen der zwingenden Gründe führt nicht automatisch zum Verlust des (Dauer-) Aufenthaltsrechts. Es muss eine Ermessensentscheidung nach Absatz 1 getroffen werden, bei der die Vorgaben der Absätze 2 und 3 zu beachten sind."

Dieser Äußerung folgend wird auch in der Literatur und der veröffentlichten Rechtsprechung ausnahmslos vertreten, dass der Verlust des Rechts, in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union einzureisen und sich dort aufzuhalten, nicht schon dann festgestellt werden kann, wenn der nach §§ 1 und 2 FreizügG/EU Berechtigte einen der in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU geregelten zwingenden Gründe erfüllt. Vielmehr Ist die Ausländerbehörde auch bei Vorliegen dieser Gründe angehalten, unter Abwägung sämtlicher Gesichtspunkte des Einzelfalls eine individuelle Entscheidung zu treffen (vgl. VG München, Urteil vom 19. Juni 2008 - M 12 K 09.967 -, juris, Rn. 43; VG Ansbach, Beschluss vom 22. April 2008 - AN 19 K 08.00315 -, juris, Rn. 30; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Bd. 4, § 6 FreizügG/EU, Rn, 63 <Oktober 2007>; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 3. Aufl. 2007, S. 913 f.; Hoppe, in: Hypertextkommentar zum Ausländerrecht, § 6 FreizügG/EU, Ziff. 3.3; Brinkmann, in; Huber, Aufenthaltsgesetz, Kommentar, 1. Aufl. 2010, § 6 FreizügG/EU, Rn, 28; Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, Kommentar, 9. Aufl. 2011, § 6 FreizügG/EU, Rn, 57).

Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof haben damit die Norm des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU in krasser Weise missdeutet. Da sie zudem nicht auf den entsprechenden Vortrag des Beschwerdeführers eingegangen sind, der sich ausführlich mit dem Wortlaut des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU und den darauf folgenden Rechtsfolgen befasst hat, liegt nach alledem der Schluss nahe, dass die gerichtlichen Entscheidungen auf sachfremden Erwägungen und nicht nur auf einer lediglich unrichtigen Anwendung der besagten Vorschrift beruhen.

cc) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der willkürlichen Auslegung des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU. Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Gerichte zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gelangt wären, wenn sie die gerichtliche Kontrolle, wie geboten, auf die Berücksichtigung sämtlicher Gesichtspunkte des Einzelfalls erstreckt hätten. Zwar hat das Verwaltungsgericht bei der Überprüfung der von der Ausländerbehörde nach § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG getroffenen Ermessensentscheidung ausgeführt, das bisherige Verhalten des Beschwerdeführers rechtfertige die Annahme, dass er auch in Zukunft schwerwiegende Straftaten begehen werde, die ein Grundinteresse der Gesellschaft beeinträchtigten, und dieser Erwägung eine Betrachtung der für und gegen die Aufenthaltsbeendigung des Beschwerdefahrers sprechenden Interessen folgen lassen. In seinen Erwägungen zu Art. 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU wird jedoch nicht ansatzweise deutlich, dass diese Abwägung auch vor dem Hintergrund der Privilegierung gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU dazu berechtigt, dem Beschwerdeführer das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet abzusprechen.

2. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs verletzt den Beschwerdeführer darüber hinaus in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil das Gericht die Notwendigkeit einer Vorlage der Sache an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (nunmehr: Gerichtshof der Europäischen Union; im Folgenden: Gerichtshof) missachtet hat.

a) Der Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 366 f.>). Diesem gesetzlichen Richter kann ein Beteiligter dadurch entzogen werden, dass das mit der Sache befasste Gericht der Pflicht zur Vorlage gemäß Art. 234 Abs. 3 EG (nunmehr Art. 267 Abs. 3 AEUV) nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 82, 159 195>).

aa) Die Möglichkeit, dass eine Vorlageverpflichtung besteht, wirkt sich auch auf die Entscheidung über die Zulassung von Rechtsmitteln aus. Die Vorlagepflicht kann hier nur bei dem Gericht eintreten, das letztinstanzlich über die Zulassung des Rechtsmittels entscheidet. Für die Zwecke des Zulassungsverfahrens ist dieses Gericht Ietztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 234 Abs. 3 EG (Art. 267 Abs. 3 AEUV); dass sich nach erfolgter Rechtsmittelzulassung - insbesondere nach Zulassung der Berufung - eine weitere Instanz anschließen kann, ändert daran nichts (BVerfGK 14, 148 151 f.>). Wird das Rechtsmittel nicht zugelassen, so ist diese Entscheidung an den verfassungsrechtlichen Maßstäben für die Handhabung der Vorlageverpflichtung letztinstanzlicher Gerichte zu messen (vgl. BVerfGE 82, 159 196>; BVerfGK 14, 148 152>). Das gilt auch für die Ablehnung der Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht (vgl, BVerfGK 14, 148 152>), Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, wenn die aufgeworfene Frage die Auslegung von Gemeinschafts-(Unions-) recht betrifft und sich für das letztinstanzliche Gericht deswegen voraussichtlich die Notwendigkeit ergeben würde, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einzuholen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 1996 - BVerwG 3 NB 2.94 -, Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 111).

bb) Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung des Art. 234 Abs. 3 EG (Art. 287 Abs. 3 AEUV), wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar sind. Dies ist insbesondere der Fall, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der seiner Auffassung nach bestehenden Entscheidungserheblichkeit der gemeinschafts- (unions-) rechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt oder es für den Fall, dass eine einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen des Gemeinschafts-(Unions-) rechts noch nicht vorliegt oder eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage noch nicht erschöpfend beantwortet oder eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit erscheint, seinen Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (vgl. BVerfGE 82, 159 194 ff.>; 126, 286 315 ff.>; BVerfGK 8, 401 404 f.>; 14, 148 152 f.>). [...]

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Verwaltungsgerichtshof die Vorlageverpflichtung in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt. Der Beschwerdeführer hatte ihm eine gemeinschaftsrechtliche Frage unterbreitet, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ungeklärt ist und die der Verwaltungsgerichtshof als entscheidungserheblich behandelt hat. Die Erwägungen, mit denen er die Klärungsbedürftigkeit und damit das Vorliegen des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO verneint hat, überschreiten den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen.

aa) Der Beschwerdeführer hat dem Verwaltungsgerichtshof die gemeinschaftsrechtliche Frage unterbreitet, ob sich ein türkischer Staatsangehöriger, der eine Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 innehat und dessen Ausweisung nach Inkrafttreten der Unionebürgerrichtlinie ausgesprochen worden ist, weiterhin auf Art. 9 Abs. 1 der nach Art. 38 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie aufgehobenen Richtlinie 64/221/EWG berufen kann. [...]