VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 23.05.2012 - 1 K 388/11.WI.A - asyl.net: M19931
https://www.asyl.net/rsdb/M19931
Leitsatz:

Die ursprünglich angenommene Gefahr einer Retraumatisierung der Klägerin bei Rückkehr in ihr Heimatland entfällt und ist jedenfalls dann auch nicht mehr konkret zu befürchten, wenn die Klägerin jedes Jahr mehrfach und für längere Zeit ihr Heimatland zu Besuchszwecken bereist.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Retraumatisierung, Besuchsreise, Besuch, Montenegro, Heimatland, Herkunftsland, Widerruf, Abschiebungsschutz, subsidiärer Schutz, Änderung der Sachlage, Posttraumatische Belastungsstörung,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3, AufenthG § 60Abs. 2-7,
Auszüge:

[...]

Ob der Widerruf den materiellen Voraussetzungen entspricht, bestimmt sich nach § 73 Abs. 3 AsylVfG i.d.F. des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970). Danach ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3,5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Der der Klägerin gewährte Abschiebungsschutz ist somit zu widerrufen, wenn sich die Sachlage so verändert hat, dass die Voraussetzungen für das vom Bundesamt im April 2004 festgestellte Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 entfallen sind und auch keine anderen nationalen Abschiebungsverbote vorliegen.

§ 73 Abs. 3 AsylVfG verlangt für den Widerruf eines Abschiebungshindernisses eine beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse. Durch neue Tatsachen muss sich eine andere Grundlage für die Gefahrenprognose bei dem jeweiligen Abschiebungsverbot ergeben.

Vorliegend liegen weder im Zeitpunkt der Widerrufsentscheidung vom 23.03.2011, worauf primär abzustellen ist, noch im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung die Voraussetzungen weiterhin vor, die entsprechend dem Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 05.02.2004, umgesetzt mit Bescheid des Bundesamts vom 04.06.2004, zur Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) geführt haben.

Grundlage der Feststellung des Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG durch das Bundesamt vom 04.06.2004 war die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 05.02.2004 gewesen (3 E 2252/02.A), mittels derer die Verpflichtung des Bundesamts zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG hinsichtlich Serbien und Montenegro ausgesprochen worden war. Dem lag der Sachverhalt zugrunde, dass die Klägerin aufgrund einer in ihrer Heimat stattgefundenen Vergewaltigung an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt und bei einer Rückkehr nach - damals - Serbien und Montenegro die Gefahr einer Retraumatisierung bestand. Zwischenzeitlich hat sich der gesundheitliche Zustand der Klägerin erheblich gebessert. Sie trug im Verfahren selbst vor, dass die psychiatrische Behandlung weitgehend erfolgreich gewesen sei und sie zur Zeit diese Behandlung nicht benötige. Zudem hat die Klägerin selbst vorgetragen, dass sie regelmäßig nach Montenegro reist, um ihren Vater und die Verwandten dort zu besuchen. Ihr Sohn und der von ihr wegen der Vorkommnisse im Heimatland getrennt lebende Ehemann befinden sich zwischenzeitlich wieder in Montenegro.

Somit ist insgesamt die Grundlage für die damalige Entscheidung, ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 6 AuslG für Serbien und Montenegro festzustellen, angesichts der Gesundung der Klägerin und ihrer Reisen in ihr Heimatland entfallen; es liegt eine beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse vor.

Ist der Bescheid also zu widerrufen, ist zu prüfen, ob auch keine anderen nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3 vorliegen. Das Bundesverwaltungsgericht führt hierzu aus (Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 24/10 -, zitiert nach Juris):

"Sind die tatsächlichen Voraussetzungen für das konkret festgestellte Abschiebungshindernis entfallen, ist zu prüfen, ob nationaler Abschiebungsschutz aus anderen Gründen besteht (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3). Des Weiteren bestimmt sich der Widerruf ausschließlich nach den Vorschriften des nationalen Rechts. Weder dem Gesetzestext noch den Materialien zum Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19.08.2007 lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber Vorgaben des Unionsrechts - namentlich Art. 16 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 zum Erlöschen des subsidiären Schutzes - über die unionsrechtlich begründeten Tatbestände des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG hinaus auch auf den nationalen Abschiebungsschutz erstrecken wollte."

Vorliegend sind in der Person der Klägerin keine nationalen Abschiebungsverbote gegeben.

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG kommt vorliegend nicht in Betracht.

Soweit die Klägerin vorträgt, bei einem Aufenthalt in Montenegro ohne Möglichkeit der Rückkehr nach Deutschland bestehe die Gefahr der psychischen Dekompensation, so kann das Gericht dem nicht folgen; ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor.

Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Für die Bestimmung der "Gefahr" gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die drohende Rechtsgutsverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Eine Gefahr ist "erheblich", wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland eintreten wird. Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- und Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib und Leben besteht, mit einzubeziehen. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann sich bei einer psychischen Erkrankung auch wegen einer zu erwartenden sog. Retraumatisierung aufgrund der Konfrontation mit den Ursachen eines Traumas ergeben. Dass in diesem Fall an sich im Zielstaat vorhandene Behandlungsmöglichkeiten unerheblich sind, wenn sie für den Betroffenen aus für ihn in der Erkrankung selbst liegenden Gründen, nämlich wegen der Gefahr der Retraumatisierung, nicht erfolgversprechend sind, ist inzwischen in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 28.06.2011 - 8 LB 221/09 -, zitiert nach Juris).

Vorliegend hat sich der Gesundheitszustand der Klägerin erheblich verbessert; einer ärztlichen Behandlung bedarf sie nicht mehr. Ausgehend von der ursprünglich schweren Traumatisierung der Klägerin würde auch bei einer Gesundung normalerweise nicht unbedingt von einer Rückkehrmöglichkeit ohne Retraumatisierung ausgegangen werden können. Ausschlaggebend ist hier jedoch, dass die Klägerin seit dem Jahr 2005 jedes Jahr, mehrfach und für längere Zeit in ihr Heimatland reist, um dort ihren Vater und andere Verwandte zu besuchen. So war sie z.B. im Winter 2005 vom 25.12.2005 bis 07.01.2006 und im Sommer 2008 für 3 bis 4 Wochen in Montenegro; weitere Aufenthalte ergeben sich aus den Ausreisestempeln im Reisepass der Klägerin in der Akte der Ausländerbehörde. Ihre Aufenthalte dort zeigen, dass die konkrete Gefahr einer Retraumatisierung im Falle der dauerhaften Rückkehr der Klägerin nicht gegeben ist.

Anderweitige Probleme bei einer Rückkehr der Klägerin sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der Vater der Klägerin, der zwar schon fortgeschrittenen Alters ist, einer ihrer volljährigen Söhne sowie weitere Verwandtschaft leben in Montenegro - wie ihre Besuchsreisen ja auch zeigen -,so dass die Klägerin dort auch nicht allein auf sich gestellt sein wird. [...]