OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31.07.2012 - 11 N 1.12 - asyl.net: M20007
https://www.asyl.net/rsdb/M20007
Leitsatz:

Bei der Berechnung des Einkommens einer nachziehenden Frau im Rahmen des § 36 Abs. 2 AufenthG kann nicht auf das Einkommen der mit ihr in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familie ihres volljährigen, deutschen Sohnes abgestellt werden, da die Einstehensvermutung des § 39 Satz 1 SGB XII nur gilt, wenn ein Jahreseinkommen über 100.000,-€ vorhanden ist.

Schlagwörter: Visum, Familiennachzug, türkische Staatsangehörige, Sicherung des Lebensunterhalts, Einkommen, verfügbares Einkommen, Anspruch auf Grundsicherung, Anspruch auf Sozialleistungen, Einstandsgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1 , AufenthG § 6 Abs. 4, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 2 Abs. 3, SGB XII § 41, SGB XII § 39 S. 1, SGB XII § 43 Abs. 1 Hs. 2, SGB XII § 43 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin hat auf der allein maßgeblichen Grundlage der Darlegungen in der Antragsbegründung (vgl. § 124 a Abs. 4 Satz 4, Absatz 5 Satz 2 VwGO) keinen Erfolg. Aus dem Zulassungsvorbringen der Klägerin ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, noch das Vorliegen von Verfahrensfehlern, § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO.

1. Ernstliche Zweifel i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, 1163 f.) und nicht nur die Begründung der angefochtenen Entscheidung oder nur einzelne Elemente dieser Begründung, sondern auch die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung derartigen Zweifeln unterliegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004, Buchholz 310 § 124 Nr. 33). Hat das Verwaltungsgericht seine Entscheidung auf mehrere, jeweils selbständig tragende Gründe gestützt, müssen die Darlegungsanforderungen hinsichtlich jedes einzelnen tragenden Entscheidungsgrundes erfüllt sein. Daran fehlt es hier.

Der rechtliche Ansatz des Verwaltungsgerichts, wonach der geltend gemachte Anspruch der Klägerin auf Familienzusammenführung mit ihrem Sohn nicht nur das Vorliegen der sich aus §§ 27 Abs. 1, 28 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 und § 6 Abs. 4 AufenthG ergebenden besonderen Voraussetzungen, sondern zusätzlich auch das Vorliegen der in § 5 AufenthG normierten allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, darunter insbesondere die Sicherung des Lebensunterhalts gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 3 AufenthG erfordert, wird mit der Zulassungsbegründung nicht beanstandet. Davon ausgehend kann hier dahinstehen, ob die Ausführungen der Klägerin ernstliche Zweifel an der Würdigung des Verwaltungsgerichts hinsichtlich des Begriffes der außergewöhnlichen Härte i.S.d. § 36 Abs. 2 AufenthG begründen könnten. Denn die weitere, den Urteilsspruch selbständig tragende Einschätzung des Verwaltungsgerichts ("Im Übrigen ist nicht ersichtlich …"), dass der Lebensunterhalt der Klägerin nicht als gesichert angesehen werden könne, ist auf der Grundlage des diesbezüglichen Zulassungsvorbringens nicht zu beanstanden.

Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist nach § 2 Abs. 3 AufenthG dann der Fall, wenn der Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich ausreichender Krankenversicherung ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bewältigt werden kann.

Das Verwaltungsgericht hat insoweit angenommen, dass für die Frage der Sicherung des Lebensunterhalts der Klägerin nicht ohne weiteres auf das verfügbare Einkommen der Familie ihres Sohnes abgestellt werden könne, weil die Klägerin, die im Fall ihres Nachzugs Anspruch auf Grundsicherung gem. § 41 SGB XII haben würde, auch bei Zuzug in den Haushalt ihres Sohnes nicht Teil einer aus ihr und der Familie des Sohnes entstehenden Bedarfsgemeinschaft würde. Der dagegen gerichtete Einwand, wonach zwar keine Bedarfs-, dafür aber eine im SGB XII vorgesehene, eine entsprechende Berechnung begründende "Einstandsgemeinschaft" entstehe, trifft nicht zu. Denn die Begründung einer Einstandsgemeinschaft zwischen volljährigen Kindern und ihren Eltern ist vom Gesetzgeber grundsätzlich nicht vorgesehen, wie § 43 SGB XII verdeutlicht. Hiernach gilt die Einstehensvermutung des § 39 Satz 1 SGB XII nicht (§ 43 Abs. 1 Halbsatz 2 SGB XII) und selbst Unterhaltsansprüche gegenüber Kindern bleiben unberücksichtigt, wenn deren Jahreseinkommen unter 100.000 EUR liegt (§ 43 Abs. 2 SGB XII). Dass die gesetzliche Vermutung des Nichtüberschreitens dieser Grenze hier nicht zuträfe, wird mit der Zulassungsbegründung ebenfalls nicht dargelegt.

Schon deshalb vermag die in der Zulassungsbegründung gerade auf der Grundlage des Bestehens einer solchen Einstandsgemeinschaft angestellte Berechnung der Klägerin die erforderliche Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht zu begründen. Zudem wäre auch das angeführte Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Chakroun (EuGH, Urteil v. 4. März 2010, Rs. C-578/08; vgl. auch BVerwG, Urteil v. 16. November 2010 - 1 C 20.09 -, zit. nach juris, Rn 33) entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin auf die vorliegende Fallkonstellation nicht anwendbar. Denn diese Judikatur bezieht sich auf die Auslegung des unionsrechtlichen Begriffs "Sozialhilfe" in Art. 7 Abs. 1 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG, die hier gemäß ihrem Art. 3 Abs. 3 keine Anwendung findet. Im Streit steht vorliegend der Familiennachzug einer Ausländerin zu einem Unionsbürger, da der Sohn der Klägerin die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hat. Dass und ggf. inwiefern ein unionsrechtlicher Begriff der Sozialhilfe unter diesen Umständen von Bedeutung sein könnte, legt die Klägerin nicht dar.

Schließlich ist zum in der Berechnung angesetzten Bedarf der Klägerin anzumerken, dass die auf der Grundlage der Mitteilung der A… vom 18. März 2010 mit 138,50 EUR eingestellten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung erheblich zu gering sein dürften, denn entgegen der dortigen Annahme liegen die Voraussetzungen für eine Versicherungspflicht der Klägerin gem. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht vor: Nach der insoweit für Ausländer geltenden, in der Auskunft der A… nur unvollständig wiedergegebenen Einschränkung gem. § 5 Abs. 11 Satz 1 SGB V wäre Voraussetzung hierfür nämlich nicht nur der Besitz eines unbefristeten oder auf länger als 12 Monate ausgestellten Aufenthaltstitels, sondern auch, dass "für die Erteilung dieser Aufenthaltstitel keine Verpflichtung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes besteht". Diese Voraussetzung wäre hier aber gerade nicht erfüllt. Da ausweislich der vorgelegten Erklärung der A… (auch) eine freiwillige Mitgliedschaft nicht möglich wäre, käme für die Klägerin nur eine - sehr viel teurere - Versicherung im Basistarif einer privaten Krankenversicherung in Betracht. Weiter wären die (anteiligen) Kosten für die Unterkunft gem. § 35 Abs. 1 SGB XII sowie ggf. ein Mehrbedarf wegen Schwerbehinderung gem. § 30 SGB XII bedarfserhöhend zu berücksichtigen.

Dass die Klägerin ihren danach erheblich über 437,50 EUR betragenden Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen sichern kann, hat das Verwaltungsgericht nicht festgestellt und ist auch mit der Zulassungsbegründung nicht nachvollziehbar dargelegt worden. Der bloße Verweis auf eine mögliche Rentenanwartschaft oder mögliche Unterhaltsansprüche gegen den früheren Ehemann können mangels Titulierung und in Anbetracht der Ungewissheit über die Höhe nicht bei der Berechnung der Sicherung des Lebensunterhaltes berücksichtigt werden.

Schließlich hat die Klägerin weder bis zum Zeitpunkt der Entscheidung noch mit der Zulassungsbegründung konkrete Verpflichtungserklärungen ihrer Verwandten zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 68 Abs. 1 AufenthG beigebracht oder dargelegt, dass mit diesen der Lebensunterhalt als gesichert angesehen werden kann. Die Berücksichtigung einer solchen Verpflichtungserklärung im Rahmen der Prüfung der Sicherung des Lebensunterhalts setzt die Leistungsfähigkeit des Verpflichtenden voraus (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 25. Januar 2012 - OVG 2 B 10.11 -, juris, OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 16. Mai 2010 - OVG 2 S 100.09 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 08. September 2009 - OVG 12 M 47.09 -, juris). Bezieht dieser ein Arbeitseinkommen, so dient als Anhaltspunkt für seine Leistungsfähigkeit bei einem angestrebten Daueraufenthalt die für eine ggf. erforderlich werdende Verwaltungsvollstreckung gem. § 5 Abs. 1 VwVG, § 139 AO maßgebliche Pfändungsfreigrenze des § 850c ZPO, d.h. die Bonitätsprüfung des Verpflichtungsgebers kann nur dann zu seinen Gunsten ausgehen, wenn er über pfändungsfreies Einkommen in ausreichender Höhe verfügt (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 25. Januar 2012 - OVG 2 B 10.11 -, juris Rn 45). Davon kann auf der Grundlage der bisher vorgetragenen Einkünfte des Sohnes und der Schwiegertochter der Klägerin – selbst, wenn diese als regelmäßige Einkünfte angesehen werden können, was in Anbetracht des einmaligen Gehaltsnachweises nicht hinreichend erwiesen ist – nicht ausgegangen werden. Der Sohn der Klägerin hätte bei einem monatlichen Einkommen von 1.719,58 EUR und Unterhaltsansprüchen gegenüber einem Kind und seiner Ehefrau ein pfändbares Einkommen von monatlich 31,60 EUR. Ein pfändbares Einkommen der Schwiegertochter der Klägerin ist nicht vorhanden. Das von der Klägerin angesprochene Kindergeld unterliegt als öffentliche Leistung nicht der Verwaltungsvollstreckung und kann deshalb nicht berücksichtigt werden.

Soweit in der Zulassungsbegründung geltend gemacht wird, dass neben dem Sohn S… auch der - ebenfalls in Deutschland lebende - Sohn I… die Klägerin finanziell unterstütze und "alle in Deutschland lebenden Kinder … sich an der Versorgung und Betreuung der Klägerin nach ihrer Übersiedlung beteiligten", vermag dies eine Sicherung des Lebensunterhalts nicht zu begründen, weil entsprechende Verpflichtungserklärungen weder erstinstanzlich noch mit der Zulassungsbegründung vorgelegt wurden und selbst das Vorliegen der dafür maßgeblichen Voraussetzungen, insbesondere der erforderlichen Leistungsfähigkeit, auch auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens nicht feststellbar ist. Insbesondere die erforderliche Leistungsfähigkeit der genannten Kinder ist weder substantiiert dargelegt noch durch Übersendung hinreichender Unterlagen belegt worden. [...]