VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 24.07.2012 - 6 A 423/12.Z - asyl.net: M20024
https://www.asyl.net/rsdb/M20024
Leitsatz:

Bei der nachträglichen Beifügung einer begünstigenden Bedingung im Sinne von § 56 Abs. 4 Satz 1 AufenthG handelt es sich nicht um ein zulässiges Ergänzen von Ermessenserwägungen gem. § 114 Satz 2 VwGO.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: begünstigende Bedingung, Ergänzen von Ermessenserwägungen, Ausweisung, afghanischer Staatsangehöriger, Afghanistan, Ausweisungsverfügung, Ermessen, unerlaubte Einreise, illegaler Aufenthalt, Griechenland, Italien, Ungarn, Österreich,
Normen: AufenthG § 56 Abs. 4 S. 1, VwGO § 114 S. 2, AufenthG § 60a, AufenthG § 23 Abs. 1, AufenthG § 55, AufenthG § 56 Abs. 4 S. 2 Nr. 1, AufenthG § 56 Abs. 4 S. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Dem Beklagten ist es nicht gelungen, die Ergebnisrichtigkeit des erstinstanzlichen Urteils ernsthaft in Zweifel zu ziehen.

Der Beklagte steht auf dem Standpunkt, den Kläger zu Recht mit Verfügung vom 7. Dezember 2010 wegen unerlaubter Einreise und illegalen Aufenthalts ermessensfehlerfrei ausgewiesen zu haben. Er stützt die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zunächst darauf, dass das Verwaltungsgericht von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen sei. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe der Kläger bei der Einreise nicht um Asyl nachgesucht; die Einreise sei ihm auch nicht von der Grenzbehörde gestattet worden, da im Schengengebiet keine Grenzkontrollen mehr stattfänden. Auch im Rahmen seiner Anhörung vor dem Amtsgericht Langen wegen Anordnung der Abschiebungshaft am 7. Dezember 2010 habe der Kläger keinen Asylantrag gestellt; er sei daher - so die Argumentation des Beklagten unter Hinweis auf den Beschluss des Landgerichts Darmstadt vom 23. Januar 2012 (Aktenzeichen 26 T 25/11) in der Abschiebungshaftsache - unerlaubt i. S. v. § 14 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und zunächst vollziehbar ausreisepflichtig gewesen.

Entscheidungserhebliche Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts hat der Beklagte mit dieser Argumentation nicht in Frage gestellt.

Das Verwaltungsgericht hat an keiner Stelle des angegriffenen Urteils positiv festgestellt, dass der Kläger bereits bei der Einreise um Asyl nachgesucht oder dass er einen Asylantrag anlässlich seiner Anhörung am 7. Dezember 2010 gestellt hat oder dass ihm von der Grenzbehörde die Einreise gestattet worden ist. Derartige Feststellungen finden sich weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils. Die Frage, ob der Kläger unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, hat das Verwaltungsgericht an mehreren Stellen der Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils ausdrücklich offen gelassen (vgl. Seite 4 unten und Seite 6 unten und 7 des Urteilsabdrucks). Auch im Zusammenhang mit der Überprüfung der Ermessensentscheidung, deren Fehlerhaftigkeit für das Verwaltungsgericht allein ausschlaggebend gewesen ist, hat es positive Feststellungen der gerügten Art nicht getroffen. Das Verwaltungsgericht ist nicht davon ausgegangen, dass der Kläger im Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung am 7. Dezember 2010 in der Bundesrepublik Deutschland - sei es bei der Einreise oder später - bereits einen Asylantrag i. S. v. § 14 AsylVfG gestellt hatte. Es hat vielmehr die Angaben des Klägers - er habe bereits in Italien, Österreich und Ungarn Asyl beantragt, wo ihm gesagt worden sei, er werde nach Griechenland verbracht - genügen lassen, um dem Beklagten den Vorwurf zu machen, die Umstände der "Asylantragstellung", insbesondere die Umstände seiner Einreise und den Stand seines Asylverfahrens nicht weiter aufgeklärt zu haben. Dabei hat das Verwaltungsgericht erkennbar Bezug genommen auf die Asylgesuche des Klägers in Italien, Österreich, Ungarn und Griechenland und daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass die Angaben des Klägers bereits auf dessen Absicht hingedeutet hätten, auch in Deutschland Asyl beantragen zu wollen.

Darüber hinaus hält der Beklagte die Ausführungen des Verwaltungsgerichts für fehlerhaft, wonach er hätte berücksichtigen müssen, dass sich die Entscheidung des Klägers, sein Heimatland zu verlassen, bei der gegenwärtigen innenpolitischen Situation in Afghanistan als nachvollziehbar erweise ebenso wie die Befürchtung des Klägers, nach Griechenland abgeschoben zu werden. Er - der Beklagte - vertritt die Auffassung, dass die §§ 60a Abs. 1, 23 Abs. 1 AufenthG geschaffen worden seien, um derartige Gründe einheitlich zu handhaben.

Dem ist entgegen zu halten, dass das Verwaltungsgericht dem Beklagten mit dem von ihm gerügten Satz aus den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils nicht die Prüfung von völkerrechtlichen oder humanitären Gründen auferlegen wollte, die zu einer generellen Aussetzung von Abschiebungen nach §§ 60a Abs. 1, 23 Abs. 1 AufenthG führen. Das Verwaltungsgericht hat einen Ermessensfehler bei der Ausweisungsverfügung nach § 55 AufenthG vielmehr darin gesehen, dass der Beklagte nicht alle Ermittlungen zur Asylantragstellung in den vom Kläger genannten Ländern sowie die Umstände seiner Einreise aufgeklärt habe, bevor er den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland auswies.

Dabei handelt es sich um die tragenden Erwägungen der erstinstanzlichen Entscheidung, die der Beklagte nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hat.

Hätte der Beklagte die vorgenannten Umstände aufgeklärt und die Asylantragstellung in Deutschland, die sich bereits zuvor andeutete und tatsächlich am nächsten Tag - dem 8. Dezember 2010 - erfolgte, in seine Ermessenserwägungen mit einbezogen, so wäre die Frage, ob ein etwaiger Verstoß gegen Einreisevorschriften eine Ausweisung des Klägers rechtfertigte, möglicherweise anders zu beantworten gewesen. Von der prozessualen Möglichkeit, diese Ermessenserwägungen gem. § 114 Satz 2 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu ergänzen, hat der Beklagte weder im erstinstanzlichen Verfahren noch in der Zulassungsantragsbegründung Gebrauch gemacht.

Schließlich sind auch die Ausführungen des Beklagten im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 56 Abs. 4 AufenthG nicht geeignet, die Ergebnisrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung ernstlich zweifelhaft erscheinen zu lassen.

Dabei nimmt der Beklagte Bezug auf Seite 7 des erstinstanzlichen Urteils und erklärt:

"Die Verfügung vom 07.12.2010 wird hiermit derart abgeändert, dass die Ausweisung unter der aufschiebenden Bedingung erfolgt, dass das Asylverfahren des Klägers unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG abgeschlossen wird."

Auch mit dieser Erklärung hat der Beklagte nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Ermessenserwägungen gem. § 114 Satz 2 VwGO in zulässiger Weise zu ergänzen. Bei der nachträglichen Beifügung einer begünstigenden Bedingung im Sinne von § 56 Abs. 4 Satz 1 AufenthG handelt es sich nicht um ein zulässiges Ergänzen von Ermessenserwägungen gem. § 114 Satz 2 VwGO. Die Vorschrift des § 56 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bestimmt zwar, dass ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nur unter der Bedingung ausgewiesen werden "kann", dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG abgeschlossen wird; es sei denn, dass ein Absehen von der Bedingung gem. § 56 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 oder 2 AufenthG gerechtfertigt ist. Trotz des Wortes "kann" handelt es sich bei der Regelung in § 56 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht um eine Ermessensbestimmung. Die Vorschrift ist vielmehr so auszulegen, dass ein Asylantragsteller während des laufenden Asylverfahrens grundsätzlich nur unter der aufschiebenden Bedingung ausgewiesen werden darf, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG abgeschlossen wird (so ausdrücklich Alexy in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, Handkommentar, 2008, § 56 AufenthG Rdnr. 38). Die in der Zulassungsantragsbegründung abgegebene Erklärung des Beklagten zur Abänderung der Ausweisungsverfügung und der Beifügung einer aufschiebenden Bedingung im vorgenannten Sinne stellt demzufolge keine Ergänzung von Ermessenserwägungen dar.

Im Übrigen ist es Sache des Klägers, aus der Änderung eines bereits gerichtlich angefochtenen Bescheides die prozessualen Konsequenzen zu ziehen und - ggfs. - den Bescheid in seiner geänderten Form zum Gegenstand des Anfechtungsantrags zu machen (vgl. dazu: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.05.2007 - 13 S 152/07 -, NVwZ-RR 2007, 633 m.w.N.). Unabhängig davon, ob eine solche Antragsänderung auch im Zulassungsverfahren noch in Betracht käme, hat der Kläger von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, sondern im Schriftsatz vom 24. April 2012 darauf hingewiesen, dass ihm eine entsprechende Änderungsverfügung nicht zugestellt worden sei. [...]