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EuGH, Urteil vom 19.07.2012 - C-451/11 - asyl.net: M20049
https://www.asyl.net/rsdb/M20049
Leitsatz:

Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das – am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und von den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnete und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 geschlossene, gebilligte und bestätigte – Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass sich ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der Staatsangehöriger eines anderen Drittlands als der Türkei ist, im Aufnahmemitgliedstaat auf die sich aus dieser Bestimmung ergebenden Rechte berufen kann, wenn alle anderen darin vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: türkische Arbeitnehmer, Türkischer Arbeitnehmer, Familienangehörige, Zugang zum Arbeitsmarkt, ordnungsgemäßer Wohnsitz, regulärer Arbeitsmarkt, Arbeitsmarkt, Familienzusammenführung, Familiennachzug, Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, Arbeitsmarktzugang, drittstaatsangehöriger Ehegatte, Drittstaatsangehörige, Türkei,
Normen: ARB 1/80 Art. 7 Abs. 1, GR-Charta Art. 7,
Auszüge:

[...]

27 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass sich ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der Staatsangehöriger eines anderen Drittlands als der Türkei ist, im Aufnahmemitgliedstaat auf die sich aus dieser Bestimmung ergebenden Rechte berufen kann, wenn alle anderen darin vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind.

28 Nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 haben die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers vorbehaltlich der Erfüllung der in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen ein eigenes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat. Hierzu hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die Rechte, die Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers hinsichtlich der Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat verleiht, notwendig das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Betroffenen voraussetzen, da dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung sonst jede Wirkung genommen würde (vgl. u.a. Urteile vom 18. Juli 2007, Derin, C-325/05, Slg. 2007, I-6495, Randnr. 47, und vom 22. Dezember 2010, Bozkurt, C-303/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 36).

29 Nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 unterliegt der Erwerb der in dieser Bestimmung vorgesehenen Rechte drei kumulativen Voraussetzungen:

• die betreffende Person muss Familienangehöriger eines bereits dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers sein;

• sie muss von den zuständigen Behörden dieses Staates die Genehmigung erhalten haben, zu diesem zu ziehen, und

• sie muss seit einer bestimmten Zeit ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat haben.

30 Im Ausgangsverfahren war, wie aus der Vorlageentscheidung und insbesondere dem Wortlaut der Vorlagefrage selbst hervorgeht, Frau Dülger mit einem türkischen Arbeitnehmer verheiratet, der dem regulären Arbeitsmarkt Deutschlands angehörte, und sie lebte mit diesem Arbeitnehmer ununterbrochen seit ihrer Eheschließung im September 2002 bis zu ihrer Trennung im Juni 2009 zusammen, nachdem sie die Erlaubnis erhalten hatte, in diesen Mitgliedstaat zu ihm zu ziehen. Die in der vorhergehenden Randnummer aufgeführten Voraussetzungen scheinen damit auf den ersten Blick erfüllt zu sein.

31 Die deutsche, die italienische und die österreichische Regierung machen jedoch geltend, dass der Begriff "Familienangehörige" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nur die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers erfasse, die ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit besäßen. Die thailändische Staatsangehörigkeit von Frau Dülger hindere diese daher daran, die in dieser Bestimmung vorgesehenen Rechte geltend zu machen.

32 Dieser These kann nicht gefolgt werden.

33 Nach gefestigter Rechtsprechung ist Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 integrierender Bestandteil des Unionsrechts (Urteile vom 20. September 1990, Sevince, C-192/89, Slg. 1990, I-3461, Randnrn. 8 und 9, und vom 29. März 2012, Kahveci und Inan, C-7/10 und C-9/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 23).

34 Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 enthält weder eine Definition des Begriffs "Familienangehörige" des Arbeitnehmers noch einen ausdrücklichen Verweis auf die Rechte der Mitgliedstaaten, um den Sinn und die Tragweite dieses Begriffs zu bestimmen. Die Vorschrift unterstellt die Staatsangehörigkeit der Familienangehörigen auch keiner Voraussetzung.

35 Ferner geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Bedeutung des Begriffs "Familienangehörige" des Arbeitnehmers nicht auf dessen Blutsverwandte beschränkt ist (vgl. Urteil vom 30. September 2004, Ayaz, C-275/02, Slg. 2004, I-8765, Randnr. 46).

36 Unter diesen Umständen ist, um die homogene Anwendung des Begriffs "Familienangehörige" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in den Mitgliedstaaten sicherzustellen, dieser Begriff auf der Ebene des Unionsrechts autonom und einheitlich auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil Ayaz, Randnr. 39).

37 Wie der Gerichtshof entschieden hat, ist die Bedeutung des Begriffs "Familienangehörige" des Arbeitnehmers nach dem mit ihm verfolgten Zweck und dem Zusammenhang, in den er sich einfügt, auszulegen (Urteil Ayaz, Randnr. 40).

38 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das System des schrittweisen Erwerbs von Rechten nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 einem doppelten Zweck dient.

39 Erstens sollen nach der genannten Vorschrift bis zum Ablauf des ersten Zeitraums von drei Jahren Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers die Möglichkeit erhalten, bei diesem zu leben, um so durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu begünstigen (vgl. u. a. Urteil Kahveci und Inan, Randnr. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40 Zweitens soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Der damit verfolgte Hauptzweck ist also, die Stellung des Familienangehörigen, der sich in dieser Phase bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, dadurch zu festigen, dass er die Mittel erhält, um dort selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen und sich folglich eine gegenüber der Stellung des Wanderarbeitnehmers selbständige Stellung aufzubauen (vgl. u. a. Urteile vom 11. November 2004, Cetinkaya, C-467/02, Slg. 2004, I-10895, Randnr. 25, sowie Kahveci und Inan, Randnr. 33).

41 Somit spielt die Familienzusammenführung in der durch Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Regelung eine zentrale Rolle.

42 Da es sich bei der Familienzusammenführung, in deren Genuss türkische Arbeitnehmer gelangen, die dem Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten angehören, um ein unerlässliches Mittel zur Ermöglichung des Familienlebens handelt, trägt sie sowohl zur Verbesserung der Qualität ihres Aufenthalts als auch zu ihrer Integration in diesen Staaten bei und fördert auf diese Weise den sozialen Zusammenhalt der betreffenden Gesellschaft.

43 Die deutsche Regierung macht jedoch geltend, dass sowohl der Sinn als auch der Zweck des Assoziierungsabkommens und des Beschlusses Nr. 1/80 dagegen sprächen, dass Art. 7 Abs. 1 dieses Beschlusses auch für andere als türkische Staatsangehörige gelte. Dieses Abkommen diene in erster Linie wirtschaftlichen Zwecken. Die Regelung des Aufenthaltsrechts des aus einem Drittland stammenden Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers sei daher kein derzeitiges Problem einer solchen Zwecken dienenden Assoziation.

44 Dieses Argument greift nicht durch.

45 Auch wenn das Assoziierungsabkommen gemäß seinem Art. 2 Abs. 1 dazu dient, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei zu fördern, ändert dies doch nichts daran, dass sich die Vertragsparteien dadurch, dass sie in Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 für die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers die Möglichkeit vorgesehen haben, in den Mitgliedstaat zu ihm zu ziehen, in dem er arbeitet, auf Gründe gestützt haben, die eindeutig über rein wirtschaftliche Erwägungen hinausgehen.

46 Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 steht nämlich in Abschnitt 1 des Kapitels II dieses Beschlusses, das die Überschrift "Soziale Bestimmungen" trägt. Dieser Abschnitt behandelt Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.

47 Die Vorteile, die die Familienzusammenführung für das Familienleben, die Qualität des Aufenthalts und die Integration des türkischen Arbeitnehmers in dem Mitgliedstaat, in dem er arbeitet und wohnt, mit sich bringt, sind offenkundig unabhängig von der Staatsangehörigkeit seiner Familienangehörigen, die die Erlaubnis erhalten haben, in diesem Staat zu ihm zu ziehen.

48 Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die sozialen Bestimmungen des Beschlusses Nr. 1/80, zu denen Art. 7 Abs. 1 gehört, einen weiteren durch die Art. 45 AEUV, 46 AEUV und 47 AEUV geleiteten Schritt zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer bilden und dass daher die im Rahmen dieser Artikel geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, die die in diesem Beschluss eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Januar 1997, Tetik, C-171/95, Slg. 1997, I-329, Randnr. 20, und vom 17. April 1997, Kadiman, C-351/95, Slg. 1997, I-2133, Randnr. 30).

49 Ebenfalls nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Bestimmung der Bedeutung des Begriffs "Familienangehöriger" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auf die dem gleichen Begriff im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten der Union gegebene Auslegung abzustellen, insbesondere auf die Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1612/68 zuerkannte Bedeutung (Urteil Ayaz, Randnr. 45).

50 Art. 10 Abs. 1 dieser Verordnung sah vor, dass die Familienangehörigen eines Arbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, das Recht haben, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit bei diesem in dem Mitgliedstaat Wohnung zu nehmen, in dem er beschäftigt ist.

51 Diese Bestimmung wurde aufgehoben, doch stellen die Art. 6 Abs. 2 und 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ebenfalls den Grundsatz auf, dass die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, das Recht haben, diesen in den Aufnahmemitgliedstaat zu begleiten oder ihm nachzuziehen.

52 Eine etwaige Beschränkung des Rechts auf Familienzusammenführung, die sich notwendigerweise dann ergäbe, wenn die durch Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 begründeten Rechte allein für die Familienangehörigen gelten würden, die die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, würde den Zweck dieser Bestimmung beeinträchtigen.

53 Eine solche Beschränkung würde auch dem in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zuwiderlaufen. Da Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 integrierender Bestandteil des Unionsrechts ist, haben die Mitgliedstaaten die Verpflichtungen aus Art. 7 der Charta zu beachten, der Art. 6 Abs. 1 EUV rechtliche Gleichrangigkeit mit den Verträgen zuerkennt.

54 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 50 bis 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist diese Auslegung des Begriffs "Familienangehöriger" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 umso mehr gerechtfertigt, als sie sich auch für den Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige (ABl. 1983, C 110, S. 60) aufdrängt.

55 Art. 1 Buchst. a des Beschlusses Nr. 3/80 sieht nämlich insbesondere vor, dass für die Anwendung dieses Beschlusses der Ausdruck Familienangehöriger die Bedeutung hat, wie sie in Art. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), definiert ist.

56 Der Gerichtshof hat, soweit er mit der Auslegung des persönlichen Geltungsbereichs der Verordnung Nr. 1408/71 befasst war, wiederholt entschieden, dass Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung zwei deutlich unterschiedene Personengruppen behandelt, nämlich die Arbeitnehmer auf der einen und ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen auf der anderen Seite. Erstere fallen unter die Verordnung, wenn sie Angehörige eines Mitgliedstaats oder in einem Mitgliedstaat ansässige Staatenlose oder Flüchtlinge sind. Dagegen hängt die Anwendbarkeit der Verordnung auf Familienangehörige oder Hinterbliebene von Arbeitnehmern, die Gemeinschaftsangehörige sind, nicht von deren Staatsangehörigkeit ab (vgl. u. a. Urteile vom 30. April 1996, Cabanis-Issarte, C-308/93, Slg. 1996, I-2097, Randnr. 21, und vom 25. Oktober 2001, Ruhr, C-189/00, Slg. 2001, I-8225, Randnr. 19).

57 Zudem hat der Gerichtshof auch entschieden, dass sich die Definition des persönlichen Geltungsbereichs des Beschlusses Nr. 3/80 in Art. 2 an die entsprechende Definition in Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 anlehnt (Urteil vom 4. Mai 1999, Sürül, C-262/96, Slg. 1999, I-2685, Randnr. 84).

58 Eine mit diesen Erwägungen in Einklang stehende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 kann nicht dadurch in Zweifel gezogen werden, dass, wie das vorlegende Gericht ausführt, der Gerichtshof in mehreren Urteilen, die zur Anwendung dieser Bestimmung ergangen sind, auf die türkische Staatsangehörigkeit der Familienangehörigen eines Arbeitnehmers Bezug genommen hat (vgl. Urteile vom 16. März 2000, Ergat, C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Randnr. 67, vom 22. Juni 2000, Eyüp, C-65/98, Slg. 2000, I-4747, Randnr. 48, Derin, Randnr. 48, und Bozkurt, Randnr. 46).

59 Allen diesen Urteilen lagen nämlich Ausgangsverfahren zugrunde, in denen es um die Frage ging, ob die im Beschluss Nr. 1/80 vorgesehenen Vergünstigungen Kindern oder Ehegatten eines türkischen Arbeitnehmers zu gewähren waren, die selbst ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit besaßen. Infolgedessen kam der Bezugnahme des Gerichtshofs auf die Staatsangehörigkeit der Familienangehörigen keine spezielle Bedeutung zu.

60 Die deutsche, die italienische und die österreichische Regierung machen ferner geltend, dass eine extensive Auslegung von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den persönlichen Geltungsbereich dieses Beschlusses übermäßig ausweiten würde, indem sie es Staatsangehörigen von Drittstaaten, deren Zahl schwer zu bestimmen sei, erlaubte, sich auf diese Bestimmung zu berufen.

61 Hierzu genügt der Hinweis, dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 die Familienzusammenführung ausdrücklich von einer gemäß den Anforderungen der Regelung des Aufnahmemitgliedstaats erteilten Genehmigung für den Nachzug zum türkischen Wanderarbeitnehmer abhängig macht (Urteile Ayaz, Randnrn. 34 und 35, und Derin, Randnr. 63).

62 Diese Regelung, die bezweckt, diejenigen Familienangehörigen des türkischen Arbeitnehmers vom Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auszunehmen, die unter Verstoß gegen die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet eingereist sind und dort wohnen (Urteil Cetinkaya, Randnr. 23), ist damit zu erklären, dass im Rahmen der Assoziierung EWG–Türkei die Familienzusammenführung kein Recht der Familienangehörigen des türkischen Wanderarbeitnehmers ist, sondern im Gegenteil von einer Entscheidung der nationalen Behörden abhängt, die allein in Anwendung des Rechts des betreffenden Mitgliedstaats getroffen wird, vorbehaltlich der Einhaltung der Menschenrechte (vgl. in diesem Sinne Urteil Derin, Randnr. 64).

63 Aus dem gleichen Grund kann auch nicht geltend gemacht werden, dass der Umstand, dass die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, die nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, vom Geltungsbereich von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfasst werden, eine gegen Art. 59 des Zusatzprotokolls verstoßende günstigere Behandlung dieser Familienangehörigen im Vergleich zu den Familienangehörigen eines Unionsbürgers darstelle, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen.

64 Entgegen der für die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers geltenden Regelung verfügen nämlich die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die Staatsangehörige von Drittstaaten sind, nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 über ein Recht auf Einreise in die Mitgliedstaaten unter der alleinigen Voraussetzung, dass sie über ein Einreisevisum oder eine gültige Aufenthaltskarte verfügen.

65 Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass sich ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der Staatsangehöriger eines anderen Drittlands als der Türkei ist, im Aufnahmemitgliedstaat auf die sich aus dieser Bestimmung ergebenden Rechte berufen kann, wenn alle anderen darin vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das – am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und von den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnete und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 geschlossene, gebilligte und bestätigte – Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass sich ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der Staatsangehöriger eines anderen Drittlands als der Türkei ist, im Aufnahmemitgliedstaat auf die sich aus dieser Bestimmung ergebenden Rechte berufen kann, wenn alle anderen darin vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind.