OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 02.11.2012 - 3 B 199/12 - asyl.net: M20204
https://www.asyl.net/rsdb/M20204
Leitsatz:

Ein Visumsverfahren ist im Sinne des Kindeswohls nicht hinnehmbar, wenn ein Vater dadurch für voraussicihtlich drei Monate von seinem Kleinkind getrennt wird. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Kindesvater in der Vergangenheit Trennungszeiten von bis zu vier Wochen von seinem Kind auf sich genommen hat.

Schlagwörter: Kindeswohl, einwanderungspolitische Belange, Schutz von Ehe und Familie, Visumsverfahren, Trennung, Kleinkind,
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der Antragsgegner und ihm folgend das Verwaltungsgericht gewichten die einwanderungspolitischen Belange, die wegen der Verstöße gegen die Einreisevorschriften für eine Aufenthaltsbeendigung zwecks Nachholung des Visumverfahren sprechen, zu Unrecht höher als die zumindest derzeit noch überwiegenden Kindeswohlinteressen. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG) regelmäßig einwanderungspolitische Belange selbst dann verdrängt, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat, nunmehr aber zu erwarten ist, dass er bei legalisiertem Aufenthalt keine weiteren Verstöße begehen wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30. Januar 2002, NVwZ 2002, 849). Diese Regel greift jedenfalls bei gewichtigen familiären Belangen, wenn Kinder oder andere existentiell hilfebedürftige Familienangehörige auf die Aufrechterhaltung zu ihrem Wohl angewiesen sind und keine anderen öffentlichen Interessen als das einwanderungspolitische Interesse an der Einhaltung des Visumverfahrens entgegenstehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23. Januar 2006, NVwZ 2006, 682; Beschl. v. 17. Mai 2011, NVwZ-RR 2011, 585). Bei Kindern sind deren und ihrer Eltern Belange im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen. Ein hohes gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung dabei insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG, Beschl. v. 9. Januar 2009, NVwZ 2009, 387). Diese Erwägung gilt in einem Alter, in dem das Kind noch kein zeitliches Vorstellungsvermögen entwickelt hat, unabhängig davon, ob das nachzuholende Visumverfahren voraussichtlich eine übliche Zeitdauer überschreiten wird oder nicht (a.A. OVG Bremen, Beschl. v. 16. Juli 2009, InfAuslR 2009. 383). In diesem Sinne hat der Senat bereits früher darauf hingewiesen, dass er bei Kleinkindern von unter drei Jahren, bei denen ein halbes Jahr mehr als ein Sechstel des eigenen Lebens ausmacht, dazu tendiert, selbst einen solchen Trennungszeitraum für dem Kindeswohl abträglich und die Verhältnismäßigkeit regelmäßig eher dadurch für gewahrt zu halten, dass mit der Nachholung des Visumverfahrens zugewartet wird, bis das Kind dem Kleinkindalter entwachsen ist und ihm Möglichkeiten offen stehen, den Kontakt zu der Bezugsperson anderweitig, etwa brieflich oder telefonisch, weiter aufrecht zu erhalten (SächsOVG, Beschl. v. 8. März 2011 - 3 B 230/10 -. juris Rn. 6).

Hieran gemessen begründet auch im vorliegenden Fall der Schutz der Familie und insbesondere des Kindeswohls derzeit noch ein rechtliches Abschiebungshindernis. Dabei vermag der Senat nicht nachzuvollziehen, worauf das Verwaltungsgericht seine Annahme gestützt hat, dass die Nachholung des Visumverfahrens von Vietnam aus lediglich einen Zeitraum von ein bis vier Wochen in Anspruch nehmen würde. Der Senat sieht bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ausreichenden summarischen Prüfung von eigenen Ermittlungen hierzu ab und unterstellt, dass die Nachholung des Visumverfahrens den vom Antragsgegner in der Beschwerdeerwiderung angenommenen Richtwert von drei Monaten nicht übersteigen würde. Diese Trennungsdauer ist dem Antragsteller zu 2 nicht bereits deshalb zumutbar, weil er unter dem Zeitraum von sechs Monaten liegt, über den der Senat in dem zitierten Beschluss vom 8. März 2011 zu entscheiden hatte. Der Beschluss ist nicht dahin zu verstehen, dass Trennungszeiten unter einem halben Jahr dem Wohl von Kleinkindern grundsätzlich nicht entgegenstehen. Der vom Verwaltungsgericht gezogene Vergleich mit Auslandseinsätzen von Eltern unter dreijähriger Kinder ist schon deshalb nicht geeignet, die Zumutbarkeit einer vorübergehenden Trennung von halbjähriger Dauer zu rechtfertigen (zweifelnd schon Senatsbeschl. v. 8. März 2011 a.a.O.), weil der gebotene Schutz der Familie den Staat in aller Regel auch hier an einer Entsendung des Elternteils gegen seinen Willen hindert.

Dass eine dreimonatige Trennung von den Antragstellern im Streitfall hinzunehmen wäre, folgt auch nicht aus dem vom Verwaltungsgericht angeführten Umstand, dass der Kindesvater in der Vergangenheit "freiwillig" Trennungszeiten von bis zu vier Wochen von seinen Sohn auf sich genommen habe. Das betraf ersichtlich die dreimonatige Krankenhausaufenthaltszeit nach der Frühgeburt des Antragstellers zu 2 in der Tschechischen Republik und kommt seit dem im April 2011 erfolgten Zuzug der Antragsteller in die gemeinsame Wohnung in ... nicht mehr vor. Auch die Tatsache, dass der Kindesvater seither arbeitsbedingt mit den Antragstellern nur die Wochenenden ("etwa jedes zweite Wochenende") verbringen kann, führt ebenfalls nicht dazu, dass eine dies ausschließende dreimonatige Trennung das Kindeswohl nicht erheblich tangieren könnte. Dem Senat sind hierzu weder entwicklungspsychologische Studien bekannt noch kann er zur Einschätzung auf eine Stellungnahme des Jugendamts zurückgreifen. Es ist zwar denkbar, aber nicht zwingend, dass bei einem regelmäßigen täglichen Familienleben das Trennungsempfinden eines Kleinkindes, das noch nicht über ein zeitliches Vorstellungsvermögen verfügt, stärker betroffen ist, wenn der ihm gewohnte tägliche Umgang plötzlich abbricht. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass es auf die Entwicklung eines Kleinkindes ohne Bedeutung sei, wenn der an jedem zweiten Wochenende gewohnte Umgang mit einem Elternteil für es in zeitlicher Hinsicht ebenfalls unverständlicherweise nicht mehr stattfindet. Ohne weitere im einstweiligen Rechtsschutz nicht tunliche Abklärung der möglicherweise gravierenden Folgen kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass das Kindeswohl derzeit hinter dem Interesse des Antragsgegners an der Nachholung des Visumsverfahrens zurückstehen müsste. [...]