VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 12.03.2013 - 10 CE 12.2697, 10 C 12.2700 (= ASYLMAGAZIN 5/2013, S. 175 ff.) - asyl.net: M20634
https://www.asyl.net/rsdb/M20634
Leitsatz:

Für Kinder, die in der Bundesrepublik geboren und aufgewachsen sind, kann eine Abschiebung unverhältnismäßig sein, wenn sie keine Beziehung zum Herkunftsland ihrer Eltern haben und die Eltern nicht in der Lage sind, bei der Rückkehr die erforderliche Integrationshilfe zu leisten.

Schlagwörter: freie Entfaltung der Persönlichkeit, Achtung des Privatlebens, Privatleben, Verwurzelung, Herkunftsland, Herkunftsstaat, Verhältnismäßigkeit, unverhältnismäßiger Eingriff, minderjährig, Kind, familiäre Beistandsgemeinschaft, Recht auf Familienleben, Achtung des Familienlebens, Schutz von Ehe und Familie, Abschiebung, Kosovo,
Normen: GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 1 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

aa) Die minderjährigen Antragstellerinnen zu 3 und 4 würden durch ihre Abschiebung derzeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in ihrem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und auf Privatleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK verletzt. Denn die Abschiebung stellt sich gegenwärtig als unverhältnismäßiger Eingriff in dieses Recht dar.

aaa) Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK, der bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als Auslegungshilfe zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfG a.a.O., Rn. 12 f.), schützen das Recht, Beziehungen zu anderen Menschen und zur Außenwelt aufzunehmen und zu entwickeln. Sie können Aspekte der sozialen Identität einer Person umfassen und beziehen die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen Zuwanderern und der Gesellschaft, in der sie leben, in ihren Schutz mit ein, so dass die Abschiebung eines Zuwanderers in dessen Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf Privatleben eingreift (vgl. EGMR, U.v. 14.6.2011 - Osman/ Dänemark, Nr. 38058/09 - NVwZ 2012, 947/948 Rn. 55).

bbb) Der in der Abschiebung der Antragstellerinnen zu 3 und 4 liegende Eingriff ist derzeit auch unverhältnismäßig. Zwar ist ihre Abschiebung geeignet und erforderlich, das legitime Ziel der Einwanderungskontrolle zu erreichen. Sie ist den Antragstellerinnen zu 3 und 4 aber derzeit nicht zumutbar.

Von einer Unzumutbarkeit der Abschiebung ist zwar insbesondere dann auszugehen, wenn die Verwurzelung des Ausländers in Deutschland infolge fortgeschrittener beruflicher und sozialer Integration bei gleichzeitiger Unmöglichkeit seiner (Re-)Integration im Herkunftsland dazu führt, dass das geschützte Privatleben nur noch im Bundesgebiet geführt werden kann. Dies setzt auch grundsätzlich eine abgeschlossene und gelungene Integration des Ausländers in die Lebensverhältnisse in Deutschland voraus, wobei eine solche Konstellation insbesondere bei Ausländern der zweiten Generation denkbar ist, die in Deutschland aufgewachsen sind und keinerlei Beziehung zum Herkunftsstaat der Eltern haben (vgl. BayVGH, B.v. 13.7.2010 - 19 ZB 10.1129 - juris Rn. 7; B.v. 22.7.2010 -19 C 10.1496 - juris Rn. 6). Maßgeblich ist aber letztlich eine Abwägung der besonderen Umstände der Beteiligten und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (vgl. EGMR, U.v. 14.6.2011 - Osman/Dänemark, Nr. 38058/09 - NVwZ 2012, 947/948 Rn. 54 m.w.N.). Unzumutbar und damit unverhältnismäßig ist die Abschiebung dabei, wenn sie keinen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen des Einzelnen und der Gemeinschaft insgesamt herbeiführt (vgl. EGMR a.a.O. Rn. 53). Nach diesen Maßstäben erwiese sich die Abschiebung der Antragstellerinnen zu 3 und 4 derzeit aber als mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar.

Beide sind in der Bundesrepublik geboren und aufgewachsen. Sie haben sich ihr gesamtes bisheriges Leben in Deutschland aufgehalten. Soweit ersichtlich, haben sie die Bundesrepublik nie verlassen. Im Kosovo, dem Herkunftsland ihrer Eltern, sind sie nie gewesen. Die elfjährige Antragstellerin zu 3 besucht im Bundesgebiet die Grundschule. Nach dem Jahreszeugnis über den Besuch der 3. Klasse im Schuljahr 2011/12 ist sie eine höfliche und ruhige Schülerin, die in der Klassengemeinschaft recht gut zurechtkam. Sie erzielte durchgehend gute und befriedigende Ergebnisse. Im Fach Deutsch erhielt sie zwar nur die Note ausreichend, es wurde ihr aber bestätigt, dass auch hier die Note zu "befriedigend" tendiere. Die vierjährige Antragstellerin zu 4 ist noch nicht schulpflichtig. Dass die Antragstellerinnen zu 3 und 4 sich im Übrigen nicht in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik einfügen würden, etwa weil sie Straftaten begehen würden, ist nicht ersichtlich. Auch wenn man berücksichtigt, dass die Antragstellerinnen nie über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt haben, sondern sich immer nur geduldet im Bundesgebiet aufgehalten haben und dass die Familie ihren Lebensunterhalt aus öffentlichen Mitteln bestreitet, wiegt im Hinblick darauf, dass die in Deutschland geborenen Antragstellerinnen zu 3 und 4 bisher ausschließlich in der Bundesrepublik gelebt haben und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie sich nicht ihrem Alter entsprechend integriert hätten, ihr Interesse am Verbleib in der Bundesrepublik derzeit schwerer als das öffentliche Interesse an einer geregelten und kontrollierten Einwanderung.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass minderjährige Kinder grundsätzlich aufenthaltsrechtlich das Schicksal ihrer Eltern teilen. Zwar ist regelmäßig davon auszugehen, dass auch ein Minderjähriger, der im Bundesgebiet geboren wurde oder lange dort gelebt hat und vollständig in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik integriert ist, dessen Eltern aber wegen ihrer mangelnden Integration kein Aufenthaltsrechts zusteht, auf die von den Eltern nach der Rückkehr im Familienverband zu leistenden Integrationshilfen im Heimatland verwiesen werden kann. Es kann jedoch ausnahmsweise etwas anderes gelten, wenn kein Elternteil in der Lage sein wird, diese Hilfen zu erbringen (vgl. BayVGH, B.v. 13.7.2010 - 19 ZB 10.1129 - juris Rn. 7; VGH BW, U.v. 22.7.2009 - 11 S 1622/07 - juris Rn. 81). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier derzeit aber vor. Denn weder Vater noch Mutter sind gegenwärtig in der Lage, die bei einer Rückkehr der Antragstellerinnen zu 3 und 4 in den Kosovo erforderliche Integrationshilfe zu leisten.

Der Vater der Antragstellerinnen verbüßt seit Mai 2011 in der Bundesrepublik eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten und kann deshalb derzeit nicht mit seinen Kindern in den Kosovo zurückkehren. Seine Ehefrau, die Antragstellerin zu 1 und Mutter der Antragstellerinnen zu 3 und 4, leidet an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, bedarf immer wieder der stationären psychiatrischen Behandlung und steht deshalb unter Betreuung. Die Betreuung erstreckt sich auf die Aufgabenkreise Vermögenssorge, Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge, behördliche und postalische Angelegenheiten, Versicherungsangelegenheiten sowie die Entscheidung über unterbringungsähnliche Maßnahmen. Es ist daher nicht ersichtlich, wie die Antragstellerin zu 1, die zur Wahrnehmung ihrer eigenen Angelegenheiten der Hilfe eines Betreuers bedarf, in der Lage sein soll, den Antragstellerinnen zu 3 und 4 bei einer Rückkehr in den Kosovo die erforderliche Integrationshilfe zu leisten.

Schließlich ist den Antragstellerinnen zu 3 und 4 eine Rückkehr in den Kosovo auch nicht deshalb zumutbar, weil ihre volljährigen Geschwister, die Antragstellerinnen zu 2 und 5 sowie der Antragsteller zu 6, ihnen die erforderliche Integrationshilfe leisten könnten. Denn abgesehen davon, dass bereits zweifelhaft ist, ob diese dazu in der Lage wären, weil sie selbst nie oder im Falle der Antragstellerin zu 5 nur bis zum Alter von zwei Jahren im Kosovo gelebt haben und deshalb anders als ihre Eltern mit den dortigen Verhältnissen nicht vertraut sind, sind sie wohl weder sorgeberechtigt noch als in gerader Linie mit den Antragstellern zu 3 und 4 verwandt diesen gegenüber unterhaltspflichtig (vgl. § 1601 BGB).

bb) Die Abschiebung der Antragstellerin zu 1 würde gegen den Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und das Recht auf Familienleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK verstoßen.

Nach der in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltenen wertentscheidenden Grundsatznorm braucht ein Ausländer es nicht hinzunehmen, unter unverhältnismäßiger Vernachlässigung seiner familiären Bindungen daran gehindert zu werden, bei seinen im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen Aufenthalt zu nehmen. Eingriffe in seine diesbezügliche Freiheit sind nur insoweit zulässig, als sie unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich sind (vgl. BVerfG, B.v. 17.5.2011 - 2 BvR 2625/10 - juris Rn. 13). Erfüllt die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und kann dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange mit der Folge zurück, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen sich als unverhältnismäßig erweisen (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 15; B.v. 1.8.1996 - 2 BvR 1119/96 - juris Rn. 5). Diese Voraussetzungen sind hier derzeit mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit erfüllt.

Die familiäre Lebensgemeinschaft der Antragstellerin zu 1 mit den Antragstellerinnen zu 3 und 4 erfüllt im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil die minderjährigen Antragstellerinnen zu 3 und 4 auf die Lebenshilfe ihrer Mutter, der Antragstellerin zu 1, angewiesen sind, auch wenn diese dazu aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung nur mit Einschränkungen in der Lage ist. Dies gilt um so mehr, als der Vater der Antragstellerinnen zu 3 und 4 die elterliche Sorge wegen seiner Inhaftierung ebenfalls nur sehr eingeschränkt wahrnehmen kann. Der erforderliche Beistand kann auch nur in der Bundesrepublik erbracht werden, weil den Antragstellerinnen zu 3 und 4 ein Verlassen der Bundesrepublik ohne ihre Eltern, wie ausgeführt, derzeit nicht zumutbar ist.

Da das Recht auf Familienleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK wie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG eine Abwägung nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen verlangt, bei der die besonderen Umstände der Beteiligten zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, U.v. 30.3.2010 - 1 C 8.09 - juris Rn. 34 m.w.N. zur Rechtsprechung des EGMR), verstieße die Abschiebung der Antragstellerin zu 1 im Übrigen auch mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK.

cc) Schließlich wäre die Abschiebung der Antragstellerinnen zu 2 und 5 sowie des Antragstellers zu 6 unter den derzeitigen Umständen mit ihrem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und ihrem Recht auf Privatleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK unvereinbar, weil sie in diese Rechte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zum jetzigen Zeitpunkt in unverhältnismäßiger Weise eingreifen würde.

Zwar ist die Integration der Antragstellerinnen zu 2 und 5 und des Antragstellers zu 6 in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik bisher wohl nicht hinreichend gelungen. Sowohl die 23 Jahre alte Antragstellerin zu 5 als auch der 20 Jahre alte Antragsteller zu 6 und die inzwischen volljährig gewordene Antragstellerin zu 2 haben kein eigenes Einkommen, sondern sind zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf öffentliche Mittel angewiesen, auch wenn sich zumindest der Antragsteller zu 6, wie die vorgelegten Bescheinigungen der Arbeitsagentur, Bewerbungsschreiben und Bestätigungen über Vorstellungsgespräche zeigen, inzwischen um eine Arbeit bemüht. Der Antragsteller zu 6 hat darüber hinaus gegenüber seiner Mutter und seinen Schwestern Körperverletzungen begangen und die Antragstellerin zu 5 beleidigt und ist deswegen und wegen falscher uneidlicher Aussage zugunsten seines Vaters nach Jugendstrafrecht zur Teilnahme an einem Erziehungskurs und zu 50 Stunden gemeinnütziger Arbeit sowie schließlich zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden.

Andererseits haben jedoch alle drei Antragsteller ihre gesamte Schulzeit in Deutschland verbracht. Die Antragstellerin zu 2 und der Antragsteller zu 6 sind in der Bundesrepublik geboren und haben immer dort gelebt. Die Antragstellerin zu 5 ist zwar im Kosovo geboren, ist aber bereits im Alter von 2 Jahren mit ihren Eltern in die Bundesrepublik gekommen und lebt dort seit über 20 Jahren. An den Kosovo dürfte sie daher so gut wie keine Erinnerung mehr haben. Die Antragstellerin zu 2 und der Antragsteller zu 6 sind nie dort gewesen und kennen nur die Verhältnisse in der Bundesrepublik. Die gesamten sozialen Kontakte der Antragstellerinnen zu 2 und 5 und des Antragstellers zu 6, die sich offenbar nicht auf den Kreis der Familie beschränken, finden in der Bundesrepublik statt. Neben dem inhaftierten Vater lebt eine ältere Schwester in Deutschland, die verwitwet ist, mit einem Deutschen verheiratet war und zwei deutsche Kinder hat. Die Antragstellerin zu 2 hat einen deutschen Freund, den sie möglicherweise heiraten wird. Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerinnen zu 2 und 5 sowie der Antragsteller zu 6 Beziehungen zu Personen im Kosovo haben, sind nicht ersichtlich.

Vor diesem Hintergrund erscheint es aber auch, wenn man unterstellt, dass die Antragsteller zu 2, 5 und 6 der albanischen Sprache zumindest mündlich mächtig sind, unverhältnismäßig, sie zur Rückkehr in den Kosovo zu zwingen, solange sich ihre gesamte Familie in der Bundesrepublik befindet. Denn im Kosovo müssten sie sich ohne jegliche Unterstützung durch dort ansässige Familienangehörige in den ihnen derzeit nicht vertrauten gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen zurechtfinden, um sich eine Lebensgrundlage zu schaffen. Unter diesen Voraussetzungen überwiegen zum jetzigen Zeitpunkt aber auch die persönlichen Interessen der Antragsteller zu 2, 5 und 6 an einem Verbleib in der Bundesrepublik das öffentliche Interesse an einer wirksamen Einwanderungskontrolle. [...]