VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 20.03.2013 - 7a K 4890/11.A - asyl.net: M20772
https://www.asyl.net/rsdb/M20772
Leitsatz:

In Luanda/Angola ist eine psychiatrische Klinik vorhanden, in der grundsätzlich alle psychischen Krankheiten behandelt werden können. Die Möglichkeit, tatsächlich in der Psychiatrischen Klinik Luanda ärztliche Hilfe zu erlangen, wird überwiegend als gering angesehen. Es fehlt an ausreichend ausgebildetem Personal sowie an entsprechender Ausstattung. Unabhängig davon ist die Medikamentenversorgung in Angola nicht lückenlos und auch nicht kostenfrei erreichbar, wie dies bei chronischen, lebensbedrohlichen Erkrankungen erforderlich ist.

Schlagwörter: Abschiebungshindernis, Abschiebungsverbot, Angola, medizinische Versorgung, psychiatrische Versorgung, psychische Erkrankung, Medikamente, chronische Erkrankung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

In tatsächlicher Hinsicht legt die Kammer Folgendes zugrunde: Die Klägerin leidet ausweislich aller eingeholten fachärztlichen Gutachten und der vorgelegten psychiatrischen Atteste seit mindestens Juli 2010 unter einer inzwischen rezidivierenden depressiven Störung mit psychotischer Symptomatik, die mehrfach zu hypertensiven Entgleisungen und stationärer Krankenhausbehandlung geführt hat. Ferner leidet die Klägerin seit mindestens 2002 an arterieller Hypertonie. In der Zeit von Juli bis Dezember 2010 waren drei stationäre Krankenhausaufenthalte in den LWL-Kliniken E. erforderlich. Ausweislich der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen der genannten Klinik haben Versuche, die Medikamente abzusetzen, stets zur Dekompensation geführt. Die gesundheitlichen Störungen werden von allen Ärzten als durchgehend psychiatrisch behandlungsbedürftig angesehen. Ebenso kontinuierlich behandlungsbedürftig ist die Einstellung des Blutdrucks. Aufgrund der - lebensbedrohlichen - hypertensiven Entgleisungen im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung der Klägerin war dabei in der Vergangenheit eine bloße medikamentöse Behandlung nicht ausreichend, sondern die Klägerin ist bis in die jüngste Zeit mehrfach stationär aufgenommen und behandelt worden, zuletzt im Februar 2013. Der letzte Medikamentenplan vom 14. Februar 2013 umfasst drei verschiedene atypische Neuroleptika, deren Anwendungsgebiete z.B. bei schweren depressiven Störungen, Schizophrenie, manischen Störungen liegen. Ferner nimmt sie täglich drei verschiedene Medikamente zur Blutdruckregulierung (ACE-Hemmer, Betablocker sowie ein Präparat aus der Gruppe der Angiotensin-II-Rezeptor- Antagonisten). Die Kammer geht davon aus, dass die Klägerin dieser umfassenden Behandlung bis auf Weiteres dauerhaft bedarf und dass sich andernfalls ihr Zustand erheblich, bis hin zur Lebensgefahr, verschlechtern wird.

Die Behandlungsbedürftigkeit auch in psychiatrischer Sicht wird im Bescheid des Bundesamtes vom 7. November 2011 nicht durchgreifend in Frage gestellt.

Die Kammer folgt den Gründen des Bescheides allerdings nicht in der Einschätzung, dass die psychiatrische Erkrankung der Klägerin in ihrer Heimat kostenlos und für sie erreichbar behandelt werden kann und sie im Übrigen aufgrund der Lebenssituation der Familie auch in der Lage sein wird, die ununterbrochene Versorgung mit blutdrucksenkenden Mitteln sicherzustellen, soweit hierfür Zahlungen anfallen. Die Auskunftslage stellt sich vielmehr in bezug auf eine psychiatrische Versorgung folgendermaßen dar:

Zwar gibt es insbesondere in Luanda eine psychiatrische Klinik, in der grundsätzlich alle psychischen Erkrankungen behandelt werden können (vgl. z.B. IOM Länderinformation Angola vom 14. Januar 2010, zu 1).

Allerdings wird die Möglichkeit, tatsächlich in der Psychiatrischen Klinik Luanda ärztliche Hilfe zu erlangen, überwiegend in den - wenigen - Erkenntnisquellen als gering angesehen. Dies beruht auch darauf, dass das offizielle Programm der Regierung bezüglich der Gesundheitsversorgung die psychiatrische Versorgung weder als Grundversorgung mit umfasst noch hierfür Mittel vorgesehen werden. Dementsprechend fehlt es an ausreichend ausgebildetem Personal sowie auch entsprechender Ausstattung (vgl. WHO, Angola, General Information, 2011 mit statistischen Angaben zur psychiatrischen Versorgung; WHO Länderprofil Angola 2001 Architect Africa News Network vom 10. Oktober 2012, "Psychiatric hospitals need more physicians"; vgl. auch CMI Report, Health Service in Angola, 9-2011(Studie mit zahlreichen statistischen Angaben zu Luanda und Uige), in der weder psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten noch entsprechende Medikamente (außer Sedativa) erwähnt werden).

Unabhängig davon ist die Medikamentenversorgung allgemein in Angola nicht lückenlos, wie dies bei chronischen, lebensbedrohlichen Krankheiten erforderlich ist, gewährleistet und auch nicht kostenfrei erreichbar. Zwar wird im letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes nur angedeutet, dass es "in der Praxis an staatlichen Krankenhäusern vorkommen" könne, "dass Krankenhausbedienstete - sogar Ärzte - Bestechungsgelder für die Behandlung verlangen" und "Engpässe bei der Medikamentenversorgung bestehen" können (vgl. Lagebericht vom 26. Juni 2007, zu IV., 1.2). In der - zeitlich danach liegenden - amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22. September 2009 (Auskunft an das VG Wiesbaden) heißt es demgegenüber ausdrücklich, dass die freie Heilfürsorge faktisch nicht bestehe, sondern jeder Arztbesuch sowie die Medikamente vorab bezahlt werden müssen. Diese Situation spiegelt sich auch in den anderen Länderberichten wider (vgl. IOM Länderinformation, a.a.O., zu 1. Health Care: Nur 20% der Bevölkerung hat Zugang zu essentiellen Medikamenten; vgl. auch die umfassende Studie von USAID, Angola Health System Assessment 2010, insbes. S. 79 ff (81): "chronic shortage of essential medicines and supplies … the chronic stock-outs in the public sector ..."; UNICEF, 22. Juni 2010, Angola rebuilds its health-system; CMI-Report 9-2011: a.a.O., insbesondere S. VII, 6).

Die Kammer legt dies zugrunde und geht daher davon aus, dass die notwendige kontinuierliche Versorgung der Klägerin weder mit Psychopharmaka noch mit blutdrucksenkenden Mitteln in Angola tatsächlich gewährleistet werden kann. Das gilt auch, soweit die Klägerin nach Luanda zurückkehrt, wo sie vor ihrer Ausreise zuletzt wohnhaft war. Unabhängig davon ist die Chance für die Klägerin, die Möglichkeit einer begleitenden psychiatrischen Betreuung zur Stabilisierung im Notfall zu erlangen, angesichts der bestehenden Engpässe in diesem Bereich und der Konzentration auf bestimmte geistige Erkrankungen als ganz gering einzustufen (vgl. vorstehende Erkenntnisquellen, insbesondere WHO Länderbericht 2011, a.a.O. und Africa Network, a.a.O.).

Die Klägerin wird voraussichtlich nicht in der Lage sein, mit eigenen Mitteln dazu beizutragen, sich die erforderlichen Medikamente entweder in öffentlichen Kliniken oder - etwa bei Engpässen - in Privatkliniken zu beschaffen. Sie ist seit mehr als zehn Jahren in Deutschland und war hier nicht berufstätig. Ihr Ehemann ist ebenfalls derzeit nicht mehr berufstätig. Aufgrund der langen Abwesenheit der Familie von ihrer Heimat ist nicht zu erwarten, dass der notwendige Lebensunterhalt in Angola durch Berufstätigkeit sichergestellt werden könnte. Vielmehr sind die Voraussetzungen für Rückkehrer, ohne familiären Rückhalt in Angola wieder Fuß zu fassen, nach derart langer Abwesenheit äußerst schwierig, wenn nicht sogar ausgeschlossen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22. September 2009 an das VG Wiesbaden).

Die Kammer geht auch davon aus, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr wegen der nicht sichergestellten medikamentösen und auch ärztlichen Versorgung überwiegend wahrscheinlich erheblich und lebensbedrohlich verschlechtern wird. Das schließt die Kammer vor allem aus dem diagnostizierten vorhandenen Bluthochdruck und den schweren Dekompensationen (u.a. mit hypertensiven Entgleisungen), die die Klägerin bei Absetzen der psychiatrischen Medikamente jeweils erlitten hat und die mehrfache stationäre Behandlungen erforderlich gemacht haben. Diese Gefahr wird in den vorgelegten Attesten - bis in die jüngste Zeit - bestätigt. Es besteht die Gefahr, dass sich ihr Gesundheitszustand schon unter der erheblichen Belastung, in ihre Heimat zwangsweise zurückgeführt zu werden, deutlich verschlechtern wird. Dies umso mehr als die beiden hier lebenden Kinder der Klägerin (geb. 1996 und 1988) inzwischen asylverfahrensunabhängige Aufenthaltsrechte haben und - nach Volljährigkeit - selbst entscheiden könnten, nicht nach Angola zurückzukehren. [...]