BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 15.04.2013 - 1 B 22.12 - asyl.net: M20846
https://www.asyl.net/rsdb/M20846
Leitsatz:

1. Die abweichende Würdigung, ob eine bestimmte Rechtsfrage vom EuGH geklärt worden ist oder nicht, begründet keine Rechtssatzdivergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.

2. Bei dem Inhaber einer Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 kommt es für die Erfüllung der Ausweisungsvoraussetzungen nicht darauf an, ob er Anspruch auf die Durchführung einer Drogentherapie hatte, diese aber nicht bewilligt und durchgeführt wurde.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Assoziationsrecht, assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Ausweisung, Ausweisungsschutz, besonderer Ausweisungsschutz, Befristung, Diskriminierungsverbot, Divergenz, Drogenabhängigkeit, Drogentherapie, Drogenhandel, Drogendelikt, Einreiseverbot, Rechtssatz, Stand-Still, Stand-Still-Klausel, Vier-Augen-Prinzip, Widerspruchsverfahren, Stillhalteklausel,
Normen: AufenthG § 11, ARB 1/80 Art. 6, ARB 1/80 Art. 7, ARB 1/80 Art. 10, ARB 1/80 Art. 13, ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1, ARB 3/80 Art. 3, RL 64/221/EWG Art. 8, RL 64/221/EWG Art. 9, RL 2003/109/EG Art. 12, RL 2004/38/EG Art. 31 Abs. 1, 2004/38/EG Art. 31 Abs. 2, ZP Art. 37, ZP Art. 41 Abs. 1, ZP Art. 59,
Auszüge:

[...]

Einer Klärung durch den EuGH bedarf es insoweit nicht. Es ist im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig ("acte clair"), dass zur Rechtfertigung einer verfahrensrechtlichen Besserstellung von Berechtigten nach dem ARB 1/80 nicht auf den weitergehenden materiellrechtlichen Ausweisungsschutz von Unionsbürgern nach der Richtlinie 2004/38/EG abgestellt werden kann. Denn dieser erhöhte Schutz beruht auf der besonderen Rechtsstellung der Unionsbürger, mit der die Berechtigten nach dem ARB 1/80 keine Gleichstellung verlangen können (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08, Ziebell - NVwZ 2012, 422 Rn. 68 - 74). Das von der Beschwerde (Beschwerdebegründung S. 12 f.) herangezogene Urteil des Gerichtshofs vom 18. Juli 2007 in der Sache Derin (Rs. C-325/05 - Slg. 2007, I-6495 Rn. 68 f.) trifft für den Vergleich mit der Rechtsstellung von Unionsbürgern keine Aussage, da es zur Auslegung von Art. 59 ZP lediglich die Vor- und Nachteile der Rechtsstellung von Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft mit der von Berechtigten nach ARB 1/80 vergleicht, ohne auf die besondere Rechtsstellung von Unionsbürgern einzugehen. Jedenfalls in dem Umfang, in dem sich die Vertragsparteien EWG und Türkei in Art. 59 ZP völkerrechtlich zur Beachtung des Besserstellungsverbots verpflichtet haben, durfte die Union den Wegfall einer Regelung zum außergerichtlichen Rechtsschutz, der für die Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten geschaffen worden war, auch mit Wirkung für die Berechtigten nach dem ARB 1/80 entfallen lassen.

Der Rechtsauffassung der Kommission in ihrer Stellungnahme vom 15. Dezember 2006 in der Rechtssache Polat (Rs. C-349/06), auf die sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 24. Oktober 2011 (a.a.O. S. 429) bezogen hat, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und die auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss habe, ist der Gerichtshof nicht gefolgt. Vielmehr hat er für Regelungen zum Ausweisungsschutz, bei denen die für Unionsbürger geltenden Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG im Hinblick auf ihren Gegenstand und Zweck nicht auf Berechtigte nach dem Assoziationsrecht EWG - Türkei übertragbar sind, Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG als neuen unionsrechtlichen Bezugsrahmen bestimmt, nicht aber die außer Kraft getretenen Bestimmungen der Richtlinie 64/221/EWG zugunsten der assoziationsrechtlich Begünstigten für weiterhin anwendbar angesehen (vgl. Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 74 - 79). [...]

Im Übrigen bedürfte es aber auch im Fall der Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Frage nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens, da sie schon aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung beantwortet werden kann und zu verneinen ist.

Dabei kann offenbleiben, ob ein Berechtigter nach dem Assoziationsabkommen EWG - Türkei, dem Zusatzprotokoll zum Assoziationsabkommen, dem ARB 1/80 oder ARB 3/80 in der Situation des Klägers ein Anspruch auf Durchführung einer Entwöhnungstherapie hinsichtlich seiner Drogenabhängigkeit hat, wie das die Beschwerde behauptet. Denn selbst wenn ihm ein solcher Anspruch aus einer der von der Beschwerde angeführten Vorschriften zustünde, lässt sich aus diesem kein Ausweisungshindernis ableiten, wie es in der aufgeworfenen Grundsatzfrage formuliert ist. Alle angeführten Vorschriften des Assoziationsrechts haben Diskriminierungsverbote zum Inhalt. Diese verbieten allgemein oder für ihren spezifischen Regelungsbereich eine Diskriminierung assoziationsrechtlich begünstigter türkischer Staatsangehöriger gegenüber den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaates oder anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Auch soweit sich nach der Rechtsprechung des EuGH aus einzelnen Diskriminierungsverboten aufenthaltsrechtliche Ansprüche ergeben können, beschränken diese nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten, den Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zu beenden (vgl. EuGH, Urteile vom 2. März 1999 - Rs. C-416/96, EI-Yassini - Slg. 1999, I-1209 Rn. 45 und vom 14. Dezember 2006 - Rs. C-97/05, Gattoussi - Slg. 2006, I-11917 Rn. 40 f. zu Diskriminierungsverboten in Abkommen der Union mit Marokko und Tunesien; zur Übertragbarkeit auf das Diskriminierungsverbot nach Art. 10 ARB 1/80 vgl. Urteil vom 26. Oktober 2006 - Rs. C-4/05, Güzeli - Slg. 2006, I-10279 Rn. 52 f.). Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung ist insoweit allein daran zu messen, ob die Voraussetzungen des Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sind, wobei als Bezugsrahmen mangels günstigerer Vorschriften im Assoziationsrecht EWG -Türkei Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG heranzuziehen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 75 ff.). Danach kann ein nach dem Assoziationsrecht Berechtigter nur ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt. Außerdem darf die Ausweisungsverfügung nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen. Schließlich haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Hingegen kommt es für die Erfüllung der Ausweisungsvoraussetzungen nicht darauf an, ob der Betroffene Anspruch auf die Durchführung einer Drogentherapie hatte, diese aber nicht bewilligt und durchgeführt wurde. Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union bedarf es nicht, da die Rechtslage und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Voraussetzungen einer Ausweisung assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger insoweit offenkundig ist ("acte clair"). [...]