KG Berlin

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Zitieren als:
KG Berlin, Beschluss vom 07.05.2013 - (4) 161 Ss 68/13 (69/13) - asyl.net: M20992
https://www.asyl.net/rsdb/M20992
Leitsatz:

Die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) berührt die Passpflicht nicht. Auch ein geduldeter Ausländer kann daher wegen passlosen Aufenthalts strafbar sein.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aussetzung der Abschiebung, Duldung, Passpflicht, Strafbarkeit,
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

2. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts ist auch nicht die Annahme gerechtfertigt, der Angeklagte habe nicht rechtswidrig oder nicht schuldhaft gehandelt.

a) Der Umstand, dass der Angeklagte über eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) verfügte, beseitigt die durch die Erfüllung des objektiven Tatbestands indizierte Rechtswidrigkeit nicht. Die Duldung führte insbesondere nicht dazu, dass die beständige Verletzung der Passpflicht folgenlos bliebe.

aa) Dies ergibt sich schon aus der Systematik des § 95 Abs. 1 AufenthG. Der Gesetzgeber hat den "passlosen Aufenthalt" (vgl. BVerfG NVwZ 2006, 80 f. = NJW 2006, 681 [Ls.]) als strafwürdiges Verhalten definiert und unter Strafe gestellt. Auch wenn sich die verschiedenen Formen strafbaren Handelns vielfach überschneiden, so handelt es sich doch um selbständige Strafnormen (vgl. BVerfG aaO zu den § 95 Abs.1 Nr. 1 und 2 AufenthG im Wesentlichen entsprechenden Formulierungen in § 92 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG a. F.). Stünde § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG unter dem Vorbehalt einer zugleich gegebenen Strafbarkeit wegen (unerlaubten) Aufenthalts ohne Aufenthaltstitel oder Duldung (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), bliebe die Vorschrift ohne selbständigen Anwendungsbereich (vgl. BVerfG aaO). Dies stünde im Widerspruch zu der Enumerationssystematik des § 95 AufenthG. Hätte der Gesetzgeber beabsichtigt, der Duldung in Bezug auf die Strafbarkeit wegen passlosen Aufenthalts eine Sperr- oder Ausschlusswirkung zukommen zu lassen, wäre es geboten gewesen, dies in § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG durch ein einschränkendes Tatbestandsmerkmal ("sofern die Abschiebung nicht ausgesetzt ist" o. ä.) klarzustellen. § 95 Abs. 1 Nr. 2 c AufenthG enthält eben diese Einschränkung, und es ist nicht ersichtlich, weshalb der Gesetzgeber sie dort kodifiziert, im Fall des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG aber als nur ungeschriebenes begrenzendes Tatbestandsmerkmal vorausgesetzt haben soll.

bb) Die dem Angeklagten erteilte Duldung kann seinen passlosen Aufenthalt auch deshalb nicht rechtfertigen, weil § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Aufenthalt ohne Aufenthaltstitel oder Duldung) einen von der Strafbewehrung des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abweichenden Schutzzweck verfolgt. § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sichert die Beachtung der in § 3 AufenthG als selbständige Verpflichtung ausgestalteten Passpflicht einschließlich der innerstaatlich zu erfüllenden Ausweispflicht, nämlich der Verpflichtung, sich während des Aufenthalts im Bundesgebiet in angemessener Frist ausweisen zu können (vgl. BVerfG aaO). Die – auch völkerrechtlich legitimierte – Passpflicht dient eigenständigen, über die Frage des Aufenthaltsrechts hinausgehenden Zielen, nämlich der Feststellung von Identität, Nationalität und Rückkehrberechtigung des Ausländers in einen anderen Staat (vgl. BVerfG aaO mwN). Insbesondere sichert sie die Möglichkeit der Identitätskontrolle. Dementsprechend erstreckt sich die Pass- und Ausweispflicht auch auf Ausländer, die über einen Aufenthaltstitel oder -anspruch verfügen (vgl. BVerfG aaO mwN).

b) Die Feststellungen des Amtsgerichts lassen auch nicht den Schluss zu, dass schuldhaftes Handeln des Angeklagten ausgeschlossen wäre. Zwar ist § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG als echtes Unterlassungsdelikt ausgestaltet, so dass die Strafbarkeit unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens steht (vgl. BVerfG aaO; OLG München, Beschluss vom 21. November 2012 – 4 StRR 133/12 – bei juris mwN). Aufrichtige Bemühungen um einen Pass, Passersatz oder Ausweisersatz waren dem Angeklagten aber jederzeit zuzumuten.

aa) Allerdings kann ein Ausländer einen Pass dann nicht in zumutbarer Weise erlangen, wenn ihm von seinen Heimatbehörden ein Pass verweigert wird oder wenn er ihn nicht in angemessener Zeit oder nur unter schwierigen Umständen erhalten kann (vgl. OLG München a.a.O.). Ein Ausländer hat jedoch dann nicht in zumutbarer Weise auf die Ausstellung eines Passes seines Heimatlandes hingewirkt, wenn er zu seiner Person falsche oder unvollständige Angaben gemacht, mithin über seine Identität getäuscht hat (OLG München aaO; OLG Frankfurt, Beschluss vom 22. August 2012 – 1 Ss 210/12 – bei juris mwN). Nach dieser Maßgabe hat der Angeklagte auf die Beschaffung eines Passes, Passersatzes oder Ausweisersatzes nicht in zumutbarer Weise hingewirkt. Denn ausweislich der amtsgerichtlichen Feststellungen hat er bei der Beantragung eines Passersatzes ein falsches Geburtsdatum und einen falschen Geburtsort angegeben. Diese unzutreffenden Angaben waren sodann der Grund für die Erfolglosigkeit des behördlichen Versuchs, für den Angeklagten einen Pass auszustellen.

bb) Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens ergibt sich auch nicht daraus, dass das den Duldungsanspruch begründende tatsächliche Abschiebungshindernis auf dem Fehlen von Identitätspapieren beruhte und die Ausstellung eines Passes gerade die Abschiebung des Angeklagten ermöglicht hätte. Stehen der Ausreise nämlich Hindernisse entgegen, die der Ausreisepflichtige selbst zu vertreten hat, wird ihm durch die Auferlegung (und strafrechtliche Durchsetzung) der Pass- und Ausweispflicht regelmäßig nichts Unzumutbares abverlangt (vgl. BVerfG aaO).

cc) Dass sich der Angeklagte in einem Verbotsirrtum (§ 17 StGB) befunden haben könnte, hat das Amtsgericht nicht nachvollziehbar dargelegt. Für die erforderliche Unrechtseinsicht genügt das Bewusstsein, gegen die rechtliche Ordnung zu verstoßen. Der Kenntnis einer bestimmten verletzten Norm bedarf es nicht. Es genügt, dass der Täter wusste oder hätte erkennen können, Unrecht zu tun, wobei sich das Unrechtsbewusstsein auf die spezifische Rechtsgutverletzung des in Betracht kommenden Tatbestandes beziehen muss (vgl. BGH NStZ 1996, 236 mwN.; NStZ 1996, 338; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 17 Rdn. 4; Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, StGB 28. Aufl., § 17 Rdn. 5). Der Angeklagte wusste, dass er über keinen Pass verfügte, und er selbst hatte dessen Erlangung durch falsche Angaben über sein Geburtsdatum und seinen Geburtsort verhindert. Dass er dem auf diesem Weg strafbar (§ 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG) erlangten Abschiebungshindernis die Rechtsfolge zumaß, sich ohne Pass im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, liegt fern. [...]