VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 29.05.2013 - 17 K 446/12 - asyl.net: M21093
https://www.asyl.net/rsdb/M21093
Leitsatz:

Ein in Deutschland geborenes, im Familienverbund geduldetes minderjähriges Kind (12 ½ Jahre) kann sich unbeschadet des Grundsatzes der familieneinheitlichen Betrachtung ausnahmsweise auf eine schutzwürdige Integration berufen, wenn es mit überdurchschnittlichen Leistungen eine weiterführende Schule besucht und bei einer Übersiedlung in das Land seiner Staatsangehörigkeit (Armenien) wegen des Todes des Vaters erhebliche Integrationsschwierigkeiten zu erwarten wären. § 25 a AufenthG ist in einem solchen Fall gegenüber § 25 Abs. 5 AufenthG nicht lex specialis.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: minderjährig, Duldung, geduldetes minderjähriges Kind, Familieneinheit, familieneinheitliche Betrachtung, Integration, Integrationsleistung, Reintegration, Reintegrationsschwierigkeiten, schulische Leistungen, Schulleistungen, Entwurzelung, Verwurzelung, Armenien, Entwicklungsperspektive, Passpflicht, Rechtsmissbrauch, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer,
Normen: AufenthG § 25a, AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 2 Abs. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

aa. Die Prüfung der sich aus § 25 Abs. 5 AufenthG ergebenden Voraussetzungen für die Bejahung eines Aufenthaltsrechts ist nicht von vornherein aus gesetzessystematischen Gründen ausgeschlossen. Die Vorschrift des § 25a AufenthG steht dem nicht entgegen. Die Kammer teilt die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vertretene Auffassung, letztere sei für Kinder, deren Integration maßgeblich auf dem Schulbesuch beruhe, den Rückgriff auf § 25 Abs. 5 AufenthG ausschließende Lex Specialis, nicht.

Das Verhältnis der genannten Bestimmungen ist, soweit ersichtlich, von der Rechtsprechung bislang noch nicht entschieden worden (ausdrücklich offen gelassen von OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.3.12 – 8 LB 5/11 – juris Rn. 39). Zwar ist nicht zu verkennen, dass § 25a AufenthG gerade gut integrierten Jugendlichen eine aufenthaltsrechtliche Perspektive eröffnet und dabei maßgeblich auch auf den Besuch einer Schule abstellt. Offenkundig lässt das Gesetz einen so begründeten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch erst nach Vollendung des 15. Lebensjahres zu (vgl. § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG). Gleichwohl kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, aus systematischen Gründen verbiete sich bei (Schul-) Kindern unterhalb der genannten Altersgrenze ein Rückgriff auf § 25 Abs. 5 AufenthG. Eine solche Auffassung verkennt, dass es sich bei § 25 Abs. 5 AufenthG um einen offenen Tatbestand handelt. Dessen zentrales Tatbestandsmerkmal, nämlich der unbestimmte Rechtsbegriff der auf Dauer bestehenden rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise, ist, wie ausgeführt, stets unter Einbeziehung von Normen des Verfassungsrechts und des Völkervertragsrechts auszufüllen. Die von der Beklagten vertretene Auffassung würde mithin dazu führen, dem einfachen Gesetzgeber diesbezüglich eine abschließende Definitionskompetenz einzuräumen. Verfassungsrecht und als Auslegungshilfe heranzuziehendes Völkervertragsrecht steht jedoch nicht in diesem Sinne zur Disposition des einfachen Gesetzes bzw. des nationalen Gesetzgebers. Es wäre zudem mit dem anerkannten Grundsatz unvereinbar, dass es bei der Ermittlung im einschlägigen Sinne schutzwürdiger Rechtspositionen stets auf die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls ankommt (vgl. EGMR, Urt. v. 14.6.11 – Osman/Dänemark, Nr. 38058/09- juris Rn. 54 m.w.Nw.), wollte man die Integrationsleistungen von unter sechszehnjährigen Kindern und hieran anknüpfende Unzumutbarkeitserwägungen von vornherein ausklammern.

bb. Das jugendliche Alter der Klägerin schließt die Berücksichtigung einer schutzwürdigen Integration auch nicht aus sonstigen Gründen von vornherein aus.

Die Kammer verkennt bei dieser Bewertung nicht, dass nach gefestigter Rechtsprechung bei Minderjährigen grundsätzlich eine familieneinheitliche Betrachtung geboten ist. Wegen des im Vordergrund stehenden Erziehungsrechtes und des faktischen Einflusses der Eltern teilen Kinder in der familiären Gemeinschaft deshalb grundsätzlich das rechtliche Schicksal der Erziehungsberechtigten (vgl. etwa BVerwG ebenda; VGH München, a.a.O. Rn. 19). Doch gilt dieser Grundsatz nicht uneingeschränkt.

Zum einen wird in der Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass dem Alter von 12 Jahren eine Relevanz als einschlägiger Altersgrenze zukommt. So stellt das Nordrheinwestfälische Oberverwaltungsgericht darauf ab, dass "die rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise (…) jedenfalls für Kinder im Alter von bis zu 12 Jahren (Hervorhebung nicht im Entscheidungstext), die in Haushaltsgemeinschaft mit ihren in Deutschland geduldeten Eltern leben, nicht allein aus ihrem langjährigen Aufenthalt in Deutschland und ihrer Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse abgeleitet werden (kann)" (OVG Münster, Beschl. v. 22.10.09 – 3 B 445/09 – juris Rn. 117). Das bedeutet, dass Kinder im Alter von "über 12 Jahren" diesbezüglich als Rechtsträger in Betracht kommen können.

Der Europäische Gerichtshof hebt mit Blick auf die in der "Familiennachzugsrichtlinie" verankerte Nachzugsaltersgrenze von 12 Jahren hervor, dass diese auf eine Phase im Leben des Kindes abstelle, in der regelmäßig eine solche Verwurzelung in dem bisherigen Lebensumfeld stattgefunden habe, dass "eine Integration in ein anderes Umfeld zu mehr Schwierigkeiten führen kann" (EuGH, Urt. v. 27.6.06 – C-540/03 – juris Rn. 74).

Hieran anknüpfend sieht die Kammer bei Kindern ab 12 Jahren sachliche Gründe dafür, auch eigene Integrationsleistungen des jungen Menschen wertend in den Blick zu nehmen. Das beruht letztlich auf der entwicklungspsychologischen Erkenntnis, dass die Jahre der Kindheit die Persönlichkeit in besonderer Weise prägen (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 15).

Zum anderen erfährt der Grundsatz der familieneinheitlichen Betrachtungsweise im Einzelfall Einschränkungen unter dem Gesichtspunkt zu erwartender besonderer Integrationsschwierigkeiten des Kindes im Land seiner Staatsangehörigkeit. Eine tragende Erwägung dafür, bei Kindern grundsätzlich eine eigenständige Integration nicht als Abschiebungshindernis zu bewerten, liegt in der regelmäßig anzunehmenden Integrationshilfe, die sie bei einer Rückkehr in die Heimat durch ihre Eltern erfahren werden (vgl. VGH München, a.a.O. Rn. 19). Der genannte Grundsatz gilt jedoch nicht, wenn anzunehmen ist, dass die Eltern hierzu nicht imstande sein werden (vgl. VGH München, ebenda). Für eine solche Annahme besteht vorliegend Anlass. Denn eine Übersiedlung der Klägerin zu 2. nach Armenien würde wegen des Todes des Vaters nicht im "kompletten" Familienverband erfolgen. Nicht nur die Klägerin zu 1., sondern besonders auch die beiden Kinder würden des Beistands des Vaters entbehren, was in der in hohem Maße patriarchalisch geprägten armenischen Gesellschaft ein großes Defizit bedeuten würde und damit bei lebensnaher Betrachtung die Integration der Klägerin zu 2. zumindest erheblich gefährden würde.

b. Für die Klägerin zu 2. ist ein rechtlich begründetes Abschiebungshindernis anzunehmen. Sie ist vollen Umfangs in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert (sogleich unter aa.). Eine Abschiebung nach Armenien unter Verweis auf eine dortige Integration ist als unzumutbarer Eingriff in die hieraus erwachsenden schutzwürdigen Belange zu bewerten (bb.).

aa. Die Klägerin zu 2. kann auf eine gelungene Integration verweisen und ist in Deutschland auf eine den Schutz der Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 ERMK genießende Weise verwurzelt. Trotz der vorliegenden eher ungünstigen Ausgangsvoraussetzungen, namentlich der Existenz auf unsicherer rechtlicher und wirtschaftlicher Grundlage, der frühen Prägung durch ein nicht deutschsprachiges Elternhaus sowie der abrupten Trennung vom Vater und seinen Tod, hat die Klägerin zu 2. beachtliche Integrationsleistungen vorzuweisen. Sie beherrscht die deutsche Sprache perfekt. Ihr Wille und ihre Fähigkeit, die sich in der hiesigen Gesellschaft bietenden Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen, bekunden sich in ihren überdurchschnittlichen schulischen Leistungen. Nach der mit hervorragenden Noten absolvierten Grundschule besucht sie ein anspruchsvolles Gymnasium, wo sie wiederum überdurchschnittliche Leistungs- und Verhaltensbewertungen erhält. In der mündlichen Verhandlung konnte sich die Kammer davon überzeugen, dass es sich bei ihr um ein Mädchen handelt, das über sein Lebensalter von 12 ½ Jahren hinaus gereift erscheint. Wenn sich die Klägerin, wie in der Verhandlung eindrucksvoll deutlich wurde, in keiner Hinsicht von einer entwickelten deutschen Mitschülerin mit vergleichbar guten Schulleistungen unterscheidet, ist aus der offenkundigen Überwindung der genannten schlechten Ausgangsbedingungen der Schluss zu ziehen, dass sie mit einer Energie, die deutschen Altersgefährtinnen regelmäßig nicht abverlangt wird, ihren festen Standort in der deutschen Gesellschaft gefunden hat.

Hierbei fällt zur Überzeugung des Gerichts besonders ins Gewicht, dass es sich bei der von der Klägerin mit überdurchschnittlichem Erfolg besuchten Schule um eine weiterführende Schule, d.h. um eine auf die Erlangung der Hochschulreife angelegte Einrichtung handelt. Die unter bildungspolitischen Aspekten oft kritisierte frühe schulische Selektion in Deutschland umfasst bei einem für die "höhere" Schule vorgeschlagenen Kind immerhin die professionelle Einschätzung, dass es nach seinen erkennbaren Fähigkeiten und Anlagen den Schulabschluss der Hochschulreife erreichen werde. Damit hat sich für die Klägerin zu 2. eine konkrete Lebensperspektive eröffnet, die nach kompetenter Prognose in überschaubarer Zeit zur besten schulischen Qualifikation und den damit verbundenen Möglichkeiten für die weitere Entwicklung führen wird. Die Richtigkeit jener Einschätzung hat die Klägerin bislang ausweislich der vorliegenden Leistungsbewertungen und fachlich-pädagogischen Einschätzungen eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Die fehlende wirtschaftliche Integration kann der minderjährigen Klägerin naturgemäß nicht vorgehalten werden. An die Stelle dieses Kriteriums tritt bei ihr der beachtliche schulische Erfolg, der die Grundlage für vielversprechende berufliche Aussichten und eine hiermit verbundene nachhaltige wirtschaftliche Integration bildet (vgl. VG Düsseldorf, a.a.O. Rn. 102f, m.w.Nw.). Nimmt man die bestehenden außerfamiliären Beziehungen hinzu, die bei einem jungen Menschen stetig an Bedeutung gewinnen und nicht selten zu lebenslangen Freundschaften werden, ist der Klägerin zu 2. eine im eingangs genannten Sinne schutzwürdige Verwurzelung in Deutschland zuzuerkennen.

bb. Diese Verwurzelung besteht auch unter dem komplementären Aspekt einer "Entwurzelung" gegenüber den Lebensverhältnissen im Land ihrer Staatsangehörigkeit. Das wird bereits durch die Geburt in Deutschland und den seither ununterbrochenen Aufenthalt indiziert (vgl. VG Düsseldorf, a.a.Rn. 105). Zwar beherrscht die Klägerin, wie sie nicht in Abrede stellt, auch die armenische Sprache. Doch hält die Kammer die Einlassung der Klägerinnen für glaubhaft, dass die deutschen Sprachkenntnisse der Klägerin zu 2. ihre armenischen deutlich übersteigen. Der Klägerin ist ferner eine Integration in Armenien unter Einbeziehung der generell zu erwartenden elterlichen Hilfen nicht zumutbar. Das Fehlen des Vaters würde unter den ihr unbekannten Verhältnissen nahezu zwangsläufig wieder die Qualität eines akuten Verlustes erhalten. Dem käme zusätzliches Gewicht zu, weil in Armenien ausgesprochen patriarchalische Verhältnisse herrschen. So würde die Klägerin zu 1. den fehlenden Vater nicht ersetzen können, vielmehr wäre sie selbst als allein stehende/unverheiratete Mutter vielfältigen Benachteiligungen ausgesetzt, die sie in ihren Möglichkeiten des Einsatzes für die Kinder beeinträchtigen würden.

Die Kammer hält es daher für sehr nahe liegend, dass die Klägerin zu 2. trotz unbestritten vorhandener armenischer Sprachkenntnisse ungemeine Schwierigkeiten haben würde, sich in der für sie weitgehend fremden armenischen Gesellschaft zu orientieren. Das Risiko, dass die hier zu verzeichnende ungewöhnlich positive Entwicklung des Mädchens jäh abbrechen würde, ist nicht von der Hand zu weisen. Zumindest sieht die Kammer die greifbare Gefahr, dass die Klägerin zu 2. die ihren Fähigkeiten entsprechende schulische und berufliche Entwicklung in Armenien nicht nehmen, sondern weit hinter den sich ihr in Deutschland bietenden Möglichkeiten zurückbleiben würde.

Deshalb würde es eine der Klägerin zu 2. nicht zumutbare Beeinträchtigung ihrer den Schutz der genannten Normen genießenden Integration bedeuten und einer Entwurzelung gleichstehen, wollte man sie darauf verweisen, zusammen mit ihrer Mutter und dem kleineren Bruder nach Armenien "zurückzukehren".

Bei einer derart starken Verwurzelung, verbunden mit konkreten sehr positiven Entwicklungsperspektiven und einer auch durch familiäre Hilfe schwerlich zu kompensierenden Entwurzelung bzw. Fremdheit gegenüber den Verhältnissen in Armenien würde sich eine Abschiebung nach Armenien für die Klägerin zu 2. mithin als unverhältnismäßiger Eingriff in ihr durch Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Privatleben darstellen.

c. Die hieraus resultierende rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung besteht auch auf nicht absehbare Zeit und ist von der Klägerin zu 2. unverschuldet. Dies muss nicht weiter ausgeführt werden. Deshalb ist die Beklagte nach Maßgabe der Soll-Vorschrift des § 25 Abs. 5 AufenthG grundsätzlich gehalten, ihr eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

3. Hieraus ist für die Klägerin zu 1. und den Kläger zu 3. ebenfalls ein rechtlich begründetes, auf nicht absehbare Zeit bestehendes und unverschuldetes Ausreisehindernis abzuleiten. Insoweit greift, wie ebenfalls nicht weiter ausgeführt werden muss, der durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährte Schutz. Es wäre offenkundig verfassungswidrig, wollte man die Klägerin zu 2. darauf verweisen, ohne ihre Mutter und den jüngeren Bruder allein in Deutschland zu bleiben. Das gleiche gilt aus der Perspektive der übrigen Kläger.

4. Gleichwohl ist keine Spruchreife im Sinne von § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO gegeben. An der begehrten Verpflichtung der Beklagten sieht sich das Gericht gehindert, weil die in § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 AufenthG genannten allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, die auch bei dem in Rede stehenden humanitären Aufenthaltsrecht erfüllt sein müssen, nicht erfüllt sind. Der Lebensunterhalt der Kläger ist nicht im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert. Ebenso erfüllen die Kläger die Passpflicht nach § 3 AufenthG derzeit nicht. Es steht gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG im Ermessen der Beklagten, von diesen Voraussetzungen abzusehen. Dieser Ermessensspielraum beruht auf der gesetzgeberischen Erwägung, dass bei einer Aufenthaltsgewährung aus humanitären Gründen die Erteilung eines Aufenthaltstitels typischerweise nicht von der Einhaltung sämtlicher in § 5 genannter Voraussetzungen abhängig gemacht werden kann (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 70). Ist bei zielstaatsbezogenen Gesichtspunkten die Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen stets unzumutbar, ist bei inlandsbezogenen Ausreisehindernissen, wie sie hier gegeben sind, eine einzelfallorientierte Beurteilung geboten. In die Ermessensentscheidung ist namentlich die Vertretbarkeit des jeweiligen Ausreisehindernisses durch den Ausländer, die Bedeutung der nicht erfüllten Erteilungsvoraussetzungen für die öffentlichen Interessen sowie die mit § 25 Abs. 5 AufenthG verknüpfte Vermeidung von Kettenduldungen einzustellen. Von Bedeutung ist zudem das jeweilige Gewicht der verfassungsrechtlichen Wertung, welche der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zugrunde liegt (vgl. etwa OVG Magdeburg, Urt. v. 14.4.2011 – 2 L 238/09 – juris Rn. 55). Unter Berücksichtigung dessen, vermag die Kammer eine "Ermessensreduktion auf null" weder zugunsten noch zulasten der Kläger zu erkennen.

Insofern wird die Beklagte zugunsten der Kläger zu berücksichtigen haben, dass bislang für die Klägerin zu 1. noch nicht die rechtliche Möglichkeit bestand, den Lebensunterhalt der Familie durch eigene Erwerbstätigkeit zu sichern. Angesichts der offenkundigen Intelligenz und Tatkraft der Klägerin zu 1. dürfte eine positive Prognose nahe liegen, wobei wegen des Betreuungsbedarfs der Kinder für einen überschaubaren Zeitraum möglicherweise eine ergänzende Gewährung öffentlicher Leistungen hinzunehmen ist. Im Hinblick auf die Kläger zu 2. und 3. dürfte wegen ihrer Minderjährigkeit und des Umstands, dass sie in Deutschland geboren sind, generell ein positiver Ermessensgebrauch geboten sein (BT-Drs. 15/420, S. 80; vgl. OVG Magdeburg, ebenda). Die Beklagte mag zudem den einwanderungspolitischen Gesichtspunkt berücksichtigen, dass am Verbleib von Kindern, denen bereits eine sehr gute Integration und damit die entscheidende Weichenstellung für hohe berufliche Qualifikation gelungen ist, ein erhebliches öffentliches Interesse besteht. Was die Nichterfüllung der Passpflicht betrifft, wird die Beklagte zu berücksichtigen haben, dass die Klägerin zu 1. offenbar einen gültigen Pass vorlegen könnte. Auf der anderen Seite mag in Betracht zu ziehen sein, dass die Klägerin zu 1. keineswegs alle zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, um der Passpflicht für sich und die Kinder zu genügen. Schließlich wird das große Gewicht der für die Gewährung eines Aufenthaltsrechts sprechenden verfassungsrechtlichen Wertungen ins Verhältnis zu dem Umstand zu setzten sein, dass die Klägerin zu 1. ihren eigenen Aufenthalt und damit mittelbar auch den der übrigen Kläger durch rechtsmissbräuchliches Verhalten erreicht hat. [...]