OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.08.2013 - 7 S 64.13 - asyl.net: M21113
https://www.asyl.net/rsdb/M21113
Leitsatz:

Die Rechtsprechung des EuGH verlangt nach "Geist und Regelungszweck" des Art 7 S 1 ARB 1/80 grundsätzlich einen ununterbrochenen Wohnsitz bei - bzw. ein Zusammenleben mit - einem türkischen (Wander)Arbeitnehmer während der ersten drei Jahre nach dem Zuzug. Das schließt es aus, Zeiten einer früheren Arbeitnehmertätigkeit des Stammberechtigten im Rahmen des Art 7 S 1 ARB 1/80 zu berücksichtigen, wenn es auf die Zeit und die Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt als Arbeitnehmer gerade "nach dem Zuzug" ankommt.

Schlagwörter: häusliche Gemeinschaft, familiäre Lebensgemeinschaft, eheliche Lebensgemeinschaft, Sicherung des Lebensunterhalts, Türkischer Arbeitnehmer, türkische Staatsangehörige, Regelungszweck, frühere Arbeitnehmertätigkeit, Stammberechtigter, Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt, tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt, Familiennachzug, selbständige Erwerbstätigkeit,
Normen: ARB 1/80 Art. 6, ARB 1/80 Art. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Antragstellerin macht zunächst geltend, ihr stehe ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ungeachtet dessen zu, dass ihr Ehemann im Zeitpunkt ihres Zuzugs im Jahre 1995 selbständig tätig gewesen sei, da er früher einmal mindestens drei Jahre als Arbeitnehmer beschäftigt gewesen sei und deshalb die Arbeitnehmereigenschaft "subsidiär" behalten habe. Insoweit beruft sie sich auf die Auffassung von Gutmann (GK-AufenthG, IX-1 Art. 7 Rz. 37 i.V.m. Art. 6 Rz. 238 f.). Dort wird die Frage, ob dies auch gelte, wenn der Stammberechtigte sich als Selbständiger niedergelassen habe, allerdings lediglich als "bislang offen" bezeichnet. Sodann wird ausgeführt, es spreche mehr dafür, dass der Stammberechtigte durch die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit seinen Zugang zum Arbeitsmarkt nicht verliere und die Arbeitnehmereigenschaft subsidiär behalte. Das wiederum spreche dafür, dass dann das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht des Familienangehörigen durch ein wenigstens dreijähriges Zusammenleben entstehe.

Ob die Annahme zutreffend ist, dass ein als Selbständiger tätiger türkischer Staatsangehöriger subsidiär seine früher als Arbeitnehmer erlangte Rechtsstellung aus Art. 6 ARB 1/80 behalte, mag vorliegend dahinstehen. Denn jedenfalls lässt sich hieraus kein Anspruch der Antragstellerin aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ableiten. Dagegen spricht nicht nur, wie die Beschwerde zutreffend erkennt, der Wortlaut des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, der einen Zuzug des Familienangehörigen zu einem "dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmer" voraussetzt. Dagegen spricht insbesondere auch Sinn und Zweck der genannten Regelung. Dieser besteht darin (so Gutmann selbst: GK-AufenthG, IX – Art. 7 Rz.33), die Beschäftigung und den Aufenthalt eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, dadurch zu fördern, dass ihm in diesem Staat die Aufrechterhaltung seiner familiären Bande garantiert wird, woraus folge, "dass für die festgelegte Zeit (von 3 Jahren) eine häusliche Gemeinschaft von türkischem Arbeitnehmer und Familienangehörigen bestehen muss". Dementsprechend verlangt die Rechtsprechung des EuGH nach "Geist und Regelungszweck" des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 grundsätzlich einen ununterbrochenen Wohnsitz bei - bzw. ein Zusammenleben mit - einem türkischen (Wander)Arbeitnehmer während der ersten drei Jahre nach dem Zuzug (EuGH, Urteil vom 17. April 1997 - Rs. C-351/95 [Kadiman], juris Rz. 46 f., und Urteil vom 16. Juni 2011 - Rs. C- 484/07 [Pehlivan], juris Rz. 44 f.; vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Februar 2012 - 11 S 75.11 -, juris Rz. 12). Das schließt es aus, Zeiten einer früheren Arbeitnehmertätigkeit des Stammberechtigten im Rahmen des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu berücksichtigen, wenn es auf die Zeit und die Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt als Arbeitnehmer gerade "nach dem Zuzug" ankommt. Eine andere Auffassung widerspräche auch dem Konzept von Art. 6 und 7 ARB 1/80, die allein auf die Begünstigung von Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen gerichtet sind, während die Rechte selbständig Tätiger in Art. 41 ff. Zusatzprotokoll vom 12. September 1963 geregelt werden.

Soweit die Antragstellerin mit der Beschwerde unter Zitierung einer wörtlichen Passage aus dem Beschluss des Verwaltungsgerichts geltend macht, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts sei falsch, da die "in der 1. Instanz zitierte Literatur und Rechtsprechung … anwendbar" ist, fehlt schon die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO erforderliche substantiierte Auseinandersetzung mit der Entscheidung. Diese verlangt eine Darlegung der im Einzelnen gegen deren Richtigkeit sprechenden Erwägungen, so dass ein Verweis auf den - nicht einmal inhaltlich dargestellten - erstinstanzlichen Vortrag nicht genügt.

Fehl geht nach den obigen Ausführungen zu Sinn und Zweck von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 sowie dem allein auf den Arbeitnehmerstatus abstellenden Regelungskonzept von Art. 6 und 7 ARB 1/80 auch die weitere Rüge der Antragstellerin, der verwaltungsgerichtliche Beschluss habe sich nicht mit der Argumentation auseinandergesetzt, eine selbständige Tätigkeit stelle eine Privilegierung dar, woraus sich ableite, auch diese Tätigkeit könne entgegen dem Wortlaut Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 "verleihen".

Schließlich rechtfertigt auch das Vorbringen der Antragstellerin, die Prognose voraussichtlich langfristiger fehlender Lebensunterhaltssicherung ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel sei dadurch widerlegt, dass ihr Ehemann seit kurzem eine selbständige Tätigkeit aufgenommen und die Firma schon Aufträge erhalten habe, keine von der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung abweichende Auffassung. Denn die überzeugenden Darlegungen in dem angefochtenen Beschluss (amtlicher Abdruck S. 5 letzter Absatz und S. 6 erster Absatz) werden durch die erst zum 1. Juli 2013 erfolgte Gewerbeanmeldung des Ehemannes für die Tätigkeit "Fugenabdichtungen" und einen vorgelegten Auftrag, der weder dessen Umfang noch Größenordnung benennt und auch die voraussichtlichen monatlichen sowie langfristigen Einkünfte nicht darstellt, nicht einmal im Ansatz in Frage gestellt. [...]