OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.08.2013 - 7 B 4.13 - asyl.net: M21115
https://www.asyl.net/rsdb/M21115
Leitsatz:

Ist ein türkischer Arbeitnehmer dauernd arbeitsunfähig krank und zeichnet sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung nicht ab, dass er erneut eine Arbeit wieder aufnehmen kann, gehört er dem regulären Arbeitsmarkt im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht mehr an und kann aus einer früher etwa erworbenen Stellung nach dieser Vorschrift kein Aufenthaltsrecht herleiten.

Zeiten langer Arbeitslosigkeit eines Hilfsarbeiters - hier 3 ½ Jahre - indizieren seine mangelnde Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt. Das Indiz kann jedoch durch den Nachweis fortwährender ernsthafter Bemühungen um eine neue Arbeitsstelle widerlegt werden; entsprechende Bemühungen sind für die Zeit, die über eine Dauer von sechs Monaten nach Eintritt der Arbeitslosigkeit hinausgeht, durch geeignete Unterlagen (Bewerbungen, Negativbescheinigungen von Arbeitgebern u.ä.) nachzuweisen (Fortführung der Rechtsprechung,Urteil vom 4. Mai 2006 - OVG 7 B 10.05 -).

Alters- und krankheitsbedingte Beeinträchtigungen der Erwerbsbiografie begründen allein keine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung; im Zusammenwirken mit weiteren Umständen kann jedoch ein atypischer Sachverhalt vorliegen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Türkischer Arbeitnehmer, arbeitsunfähig, Krankheit, Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt, tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt, Aufenthaltsrecht, Arbeitsmarkt, Bemühungen um einen Arbeitsplatz, Bewerbungen, Negativbescheinigungen von Arbeitgebern, Erwerbsbiografie, Regelerteilungsvoraussetzung, atypischer Ausnahmefall, Alter, ältere Person, Schwerbehinderung, Arbeitslosigkeit, Erwerbstätigkeit,
Normen: ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

1. Dem Kläger steht kein Aufenthaltsrecht aus der assoziationsrechtlichen Stellung als türkischer Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - zu, aufgrund dessen er gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 AufenthG die Ausstellung eines Aufenthaltstitels verlangen könnte.

Hierfür bedarf es keiner abschließenden Entscheidung, ob der Kläger – wie das Verwaltungsgericht meint – aufgrund der Beschäftigungszeiten zwischen März 2000 und Januar 2004 bzw. September 2005 ein umfassendes Zugangsrecht zum hiesigen Arbeitsmarkt nach dem dritten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erlangt und nicht wieder verloren hat. Bedenken gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts könnten sich insbesondere aus dem Umstand ergeben, dass es sich jeweils um geringfügige Beschäftigungsverhältnisse handelte, hinsichtlich der die Arbeitnehmereigenschaft des Klägers nicht weiter geprüft worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 2012, a.a.O., Rn. 17; EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010 - Rs. C-14/09, Genc - Slg. 2010, S. I-00931); zudem war der Kläger nach Aktenlage ab Februar 2005 nicht mehr als Reinigungskraft, sondern als Fleischerhelfer beschäftigt. Problematisch erscheint auch die Dauer der sich ab Oktober 2005 anschließenden Arbeitslosigkeit, die nach der Rechtsprechung des Senats zum Verlust einer etwa erworbenen Rechtsstellung nach Art 6 Abs. 1 ARB 1/80 geführt haben dürfte.

Der Senat hat zur Erlöschensproblematik im Urteil vom 4. Mai 2006 (OVG 7 B 10.05) ausgeführt, dass das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht als Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt unter bestimmten Voraussetzungen Einschränkungen unterliegt. Danach führt zwar nicht jede vorübergehende Abwesenheit des türkischen Arbeitnehmers vom Arbeitsmarkt zum Verlust der nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworbenen Rechte. Die praktische Wirksamkeit der - wie vorliegend - durch den dritten Spiegelstrich eingeräumten Rechte auf Zugang zu jeder frei gewählten Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis und auf Aufenthalt umfasst vielmehr auch das Recht auf vorübergehende Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses. Eine derartige Unterbrechung ist für die Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt jedoch nur dann unschädlich, wenn der Betroffene tatsächlich eine neue Arbeit sucht und der Arbeitsverwaltung unter Beachtung der jeweiligen nationalen Vorschriften zur Verfügung steht, um innerhalb eines angemessenen Zeitraums eine andere Beschäftigung zu finden. Ist dieser mangels einer ausdrücklichen nationalen Festlegung nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles unter Berücksichtigung der Zielsetzung des Assoziationsabkommens zu bestimmende angemessene Zeitraum für eine effektive Beschäftigungssuche überschritten, gehen zuvor erworbene Rechte aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verloren (vgl. zu Vorstehendem: EuGH, Urteil vom 7. Juli 2005 - Rs. C-383/03 – Dogan, DVBl. 2005, 1258; Urteil vom 10. Februar 2000 - Rs. C-340/97 – Nazli, NVwZ 2000, 1029; Urteil vom 23. Januar 1997 - Rs. C-171/95 – Tetik, InfAuslR 1997, 146).

Unter Hinweis auf die insoweit als Leitlinien heranzuziehenden Regelungen für freizügigkeitsberechtigte Gemeinschaftsangehörige ist dabei in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein Zeitraum von sechs Monaten zur Stellensuche grundsätzlich als ausreichend angesehen worden (vgl. Urteil vom 26. Februar 1991 - Rs. C-292/89 - Antonissen, InfAuslR 1991, 151; in Bezug genommen im Urteil vom 23. Januar 1997, a.a.O.). Etwas anderes gelte allerdings in den Fällen, in denen der Betroffene nach Ablauf dieses Zeitraums den Nachweis erbringe, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg eine neue Beschäftigung suche. Hieran anknüpfend dürfte die vorliegend in Rede stehende Arbeitslosigkeit des Klägers von rund 3 ½ Jahren den angemessenen Zeitraum für die Stellensuche überschritten haben. Nachhaltige und hinreichend aussichtsreiche Bemühungen, ein neues Beschäftigungsverhältnis zu finden, sind mit der von ihm erstinstanzlich eingereichten Liste von Arbeitgebern, bei denen er selbst oder durch Dritte vorgesprochen haben will, nicht belegt. Von Seiten der Agentur für Arbeit sind ihm offensichtlich keine Arbeitsangebote unterbreitet worden. Vielmehr ist er zur Teilnahme an einem Integrationskurs aufgefordert worden, was dafür spricht, dass eine Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt vor Abschluss des Kurses nicht bestand.

Letztlich muss den vorstehend angesprochenen Fragen jedoch nicht weiter nachgegangen werden. Denn der Kläger gehört jedenfalls zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt an und kann sich damit nicht mehr auf eine assoziationsrechtliche Rechtsstellung berufen. Nach seinen eigenen Angaben ist er infolge gesundheitlicher Einschränkungen, die zur Feststellung eines Grades der Behinderung von 70 v.H. geführt haben, seit Mitte Mai 2010 dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt. Er ist nach dem Bezug von Krankengeld weder arbeitslos gemeldet noch sind ernsthafte Bemühungen zur Beschäftigungssuche vorgetragen. Das rechtfertigt die Annahme, dass der Kläger den Arbeitsmarkt endgültig verlassen hat, so dass eine etwaige durch frühere Beschäftigungszeiten erworbene Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verloren gegangen ist mit der Folge, dass er daraus auch kein Aufenthaltsrecht herleiten kann.

Auch auf einen Anspruch aus Art. 10 ARB 1/80 wegen der ihm am 18. August 1994 erteilten unbefristeten Arbeitserlaubnis kann der Kläger sich nicht berufen. Denn auch das setzt voraus, dass er tatsächlich einer Beschäftigung nachgeht (BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2009 – 1 C 14.08 -, juris Rn. 18).

2. Der Kläger hat auch nicht durch die Eheschließung im Jahre 2011 eine Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erlangt. Dies erforderte zum einen, dass seine Ehefrau hier dem regulären Arbeitsmarkt angehört und zum anderen, dass der Kläger nach der Eheschließung bereits seit drei Jahren seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz bei ihr gehabt hätte. Dem steht nicht nur entgegen, dass der erforderliche Zeitraum im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht erreicht ist, sondern auch, dass der Kläger seit Ablauf der Geltungsdauer seiner Aufenthaltserlaubnis im Jahre 2008 über keinen gesicherten Aufenthaltsstatus mehr verfügt, so dass nicht von einem ordnungsgemäßen Wohnsitz ausgegangen werden kann.

3. Die Verlängerung der bisher erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG kann der Kläger nicht beanspruchen. Dem steht die Regelerteilungsvoraussetzung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG entgegen, wonach der Lebensunterhalt gesichert sein muss. Das ist gegenwärtig und absehbar nicht der Fall.

a) Der Lebensunterhalt ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert, wenn der Ausländer ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Dabei bleiben die in § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufgeführten öffentlichen Mittel außer Betracht. Erforderlich ist mithin die positive Prognose, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist. Dies erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den nachhaltig zur Verfügung stehenden Mitteln. Dabei richten sich sowohl die Ermittlung des zur Verfügung stehenden Einkommens als auch der Unterhaltsbedarf bei erwerbsfähigen Ausländern und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, grundsätzlich nach den entsprechenden Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs (SGB) Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II (BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 -, BVerwGE 131, 370 Rn. 19 ff.). Bei nicht (mehr) erwerbsfähigen Ausländern bemessen sich Einkommen und Unterhaltsbedarf grundsätzlich nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs (SGB) Zwölftes Buch - Sozialhilfe - SGB XII (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 -10 C 10.12 -, juris Rn.13). Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die die mit § 7a SGB II korrespondierende Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII erreicht haben, Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Für Ausländer gelten insoweit keine anderen Regelungen (§ 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). Unerheblich ist, ob Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden; nach dem gesetzlichen Regelungsmodell kommt es nur auf das Bestehen eines entsprechenden Anspruchs an (BVerwG, Urteil vom 26. August 2008, a.a.O., Rn. 21).

b) Der Kläger erzielt derzeit kein Einkommen und hat auch kein Vermögen, das er zur Sicherung seines Unterhalts einsetzen könnte. Seine Erwerbsunfähigkeit ist allerdings bisher nicht festgestellt. Die maßgebliche Altersgrenze nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und § 7a SGB II hat er noch nicht überschritten. Er bildet daher mit seiner Ehefrau eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 1 bzw. Nr. 3 SGB II.

c) Der Regelbedarf des Klägers und seiner Ehefrau gemäß § 20 Abs. 1 und 4 SGB II beträgt für zwei Partner der Bedarfsgemeinschaft, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, für jede dieser Personen monatlich 345 Euro (vgl. Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Abs. 5 SGB II vom 18. Oktober 2012, BGBl. I 2175), insgesamt also 690 Euro. Hinzuzurechnen ist der Bedarf für Unterkunft und Heizung, der in Höhe der tatsächlichen Kosten anerkannt wird, soweit er angemessen ist (§ 22 Abs. 1 SGB II). Gegen die Angemessenheit sind von keiner Seite Bedenken erhoben worden. Entsprechend der Belegung der Wohnung gemeinsam mit der jetzt 32jährigen Tochter, die altersmäßig nicht mehr zur Bedarfsgemeinschaft gehört, sind die tatsächlichen Unterkunftskosten (721,07 Euro) nach Kopfteilen aufzuteilen und der Bedarfsgemeinschaft nach den auf ihre Mitglieder entfallenden Kopfteilen hinzuzurechnen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013, a.a.O., Rn. 24). Danach entfällt auf den Kläger und seine Frau ein Bedarf von jeweils 240,36 Euro, mithin Unterkunftskosten von insgesamt 480,72 Euro.

d) Dem sich daraus ergebenden monatlichen Gesamtbedarf in Höhe von 1.170,72 Euro steht nur das regelmäßige Einkommen der Ehefrau des Klägers in Höhe von 1.100 Euro brutto gegenüber. Da der Anwendungsbereich der sog. Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003; ABl. L 251, S. 12) vorliegend nicht eröffnet ist, sind von dem Bruttoeinkommen der Ehefrau neben Steuern und Sozialversicherungsabgaben (ausweislich des letzten Vergütungsnachweises für Mai 2013: 224,68 Euro) auch der Werbungskostenfreibetrag nach § 11b Abs. 2 SGB II in Höhe von 100 Euro sowie der Freibetrag nach § 11b Abs. 2 S. 1 Nr. 6, Abs. 3 in Höhe von 190 Euro abzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 – 1 C 20/09 – BVerwGE 138, 135, juris Rn. 33 f.). Es verbleibt ein anrechnungsfähiges Einkommen in Höhe von 585,32 Euro. Dieses Einkommen reicht, abgesehen davon, dass auch die Ehefrau des Klägers derzeit arbeitsunfähig erkrankt ist und Krankengeld bezieht, nicht aus, um den Gesamtbedarf zu decken.

e) Die Sicherung des Unterhalts der Bedarfsgemeinschaft kann auch nicht durch eine Verpflichtungserklärung der im Haushalt lebenden Tochter gemäß § 68 AufenthG erfolgen. Die Abgabe einer solchen Verpflichtungserklärung ist zwar auch bei einem dauernden Aufenthalt des Ausländers nicht ausgeschlossen, um dessen Lebensunterhalt dauerhaft zu sichern (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013, a.a.O., Rn. 29 ff. m.w.N.). Die Bonität der Tochter des Klägers genügt aber den Anforderungen der Vorschrift an eine umfassende Sicherung des Lebensunterhalts der aus ihren Eltern bestehenden Bedarfsgemeinschaft nicht. Von dem Nettoeinkommen der Tochter in Höhe von 1.503,04 Euro (Vergütungsnachweis für Juni 2013) sind nach § 850 c Abs. 1 ZPO nur 318,47 Euro pfändbar. Berücksichtigt man, dass die Ehefrau des Klägers eigenes Einkommen bezieht, das nahezu ihren eigenen Bedarf deckt, könnte erwogen werden, eine Vollstreckung auch in unpfändbare Teile des Einkommens gemäß § 850c Abs. 4 ZPO zuzulassen, etwa in Höhe der von der Tochter ohnehin gezahlten Unterkunftskosten der Bedarfsgemeinschaft. Auch dann verbliebe jedoch eine Deckungslücke des pfändbaren Einkommens zum Gesamtbedarf in Höhe von mehr 370 Euro (1.170,72 Euro – 799,19 Euro). Überdies hatte eine Arbeitslosigkeit der Tochter bereits in der Vergangenheit (Mai 2005) wegen des Ausbleibens der von ihr schon damals faktisch erbrachten Unterhaltsleistungen zur Notwendigkeit der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel durch den Kläger geführt.

f) Für eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung ist nichts Hinreichendes vorgetragen oder sonst ersichtlich.

aa) Eine Ausnahme vom Regelfall können sowohl verfassungs-, unions- oder völkerrechtliche Gewährleistungen als auch atypische Umstände des Einzelfalls, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, rechtfertigen. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt keinem Einschätzungsspielraum der Behörde, sondern ist gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 – 10 C 16.12 –, juris Rn. 16; Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 C 6.11 - BVerwGE 143, 150 juris Rn. 11 m.w.N., Urteil vom 26. August 2008, a.a.O., Rn. 27).

bb) Dass bei dem Kläger eine schwere coronare Herzerkrankung vorliegt und er infolge dieser und weiteren Erkrankungen und Einschränkungen als schwerbehindert (GdB 70 v.H., Merkzeichen "G") anerkannt ist, begründet noch keine atypischen Umstände, selbst wenn krankheitsbedingte Einschränkungen schon in der Vergangenheit einem intensiveren Erwerbsleben entgegengestanden haben sollten. Kann ein Ausländer wegen seines Alters oder dauerhafter Erkrankung keine den Lebensunterhalt sichernde Beschäftigung finden, rechtfertigt dies als solches nicht die Annahme eines Ausnahmefalles. Es liegt vielmehr stets im Bereich des Möglichen, dass sich im Laufe des Erwerbslebens gesundheits- oder altersbedingte Einschränkungen ergeben, die dazu führen, dass der Lebensunterhalt nicht mehr durch eigene Erwerbstätigkeit bestritten werden kann. Davon ausgehend entspricht es dem mit der Regelerteilungsvoraussetzung verfolgten Zweck, die Aufenthaltserlaubnis abzulehnen, um die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern; ob der Ausländer die fehlende Unterhaltssicherung zu vertreten hat, ist dabei grundsätzlich unerheblich (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 21. Mai 2012 – OVG 2 B 8.11 –, juris Rn. 24, und vom 25. Februar 2009 – OVG 2 B 20.08 –). Dadurch bedingten Härten bei Ausländern mit langem Aufenthalt, die die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis im Übrigen erfüllen, trägt das Gesetz mit der Möglichkeit Rechnung, nach § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG von der Voraussetzung des gesicherten Lebensunterhalts (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) abzusehen, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann (vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Dezember 2011 – 12 B 10.11 – juris Rn. 17). Auch in dem hier einschlägigen Anwendungsbereich des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist es allerdings nicht ausgeschlossen, dass durch das Hinzutreten weiterer Umstände bei Fallgestaltungen, in denen Krankheit oder Behinderungen einer vollständigen Sicherung des Lebensunterhalts aus eigener Kraft entgegenstehen, ein Ausnahmefall vorliegen kann. Im Fall des Klägers ist dafür jedoch nichts ersichtlich.

cc) Der Schutz von Ehe und Familie im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK gebieten ebenfalls keine Ausnahme von dem Regelerfordernis. Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst zwar namentlich die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - BVerfGE 76, 1, 42). Jedoch gewährt Art. 6 GG grundsätzlich keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm verpflichtet allerdings Behörden und Gerichte, die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, zu berücksichtigen und zur Geltung zu bringen. Für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist die Frage, ob es dem in Deutschland lebenden Ehegatten zumutbar ist, die eheliche Lebensgemeinschaft im Ausland zu führen, von erheblicher Bedeutung. Denn wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81, 95; BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 – 1 C 3.08 –, juris Rn. 18). Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen fern, wenn die Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, a.a.O.). Auch für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs nach Art. 8 EMRK kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Frage erhebliche Bedeutung zu, ob das Familienleben ohne Hindernisse auch im Herkunftsland möglich ist (vgl. EGMR, Urteil vom 19. Februar 1996 - 53/1995/559/645 - InfAuslR 1996, 245, Gül; Urteil vom 28. November 1996 - 73/1995/579/665 - InfAuslR 1997, 141, Ahmut) oder ob der Verbleib das einzige adäquate Mittel darstellt, in familiärer Gemeinschaft zu leben.

dd) Die eheliche Lebensgemeinschaft des Klägers und seiner Ehefrau kann auch zumutbar im Herkunftsland geführt werden. Der Kläger hat nichts dazu vorgetragen, dass er oder seine Ehefrau nicht in die Türkei zurückkehren könnten. Insbesondere ist aktuell eine Pflegebedürftigkeit, die in der Türkei nicht adäquat abgedeckt wäre, nicht geltend gemacht worden. Die Kinder des Klägers sind sämtlich älter als dreißig Jahre und der Kernfamilie entwachsen. Dies gilt auch für die jüngste Tochter, mit der der Kläger in häuslicher Gemeinschaft lebt. Sie ist geschieden und berufstätig; sie lebt ihr "eigenes" Leben. Die Trennung von den hier lebenden Kindern und Kindeskindern lässt die Zumutbarkeit der Führung der Ehe im Heimatland nicht entfallen, denn der familiäre Kontakt kann durch Besuche und über Telemedien aufrechterhalten werden. Im Übrigen haben der Kläger und seine Ehefrau vor ihrem Zuzug in das Bundesgebiet über vierzig Jahre in der Türkei gelebt. Ihre Fähigkeit zur Reintegration in die dortigen Verhältnisse begegnet gegenwärtig – auch unter Berücksichtigung ihrer gesundheitlichen Einschränkungen - keinen durchgreifenden Bedenken. In die hiesigen Verhältnisse – wie ihre wirtschaftliche Lage und die mangelnden Sprachkenntnisse beider zeigen – sind sie trotz der Dauer ihres bisherigen Aufenthalts nicht solchermaßen eingegliedert, dass sie die Anwendung der Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in ihrer Persönlichkeit und ihrem Privatleben unzumutbar treffen könnte. [...]