OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.08.2013 - 7 B 24.13 - asyl.net: M21116
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Leitsatz:

Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens für nach dem 30. April 2006 verfügte Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger im Land Berlin verstößt nicht gegen sog. die Stand-Still-Klausel in Art. 13 ARB 1/80. Eine Fortgeltung der außer Kraft getretenen verfahrensrechtlichen Regelung des Art. 9 Abs. 1 RiL 64/221/EWG würde zu einer nach Art. 59 ZP unzulässigen Besserstellung gegenüber Unionsbürgern führen (Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts) Die Ausländerbehörde hat nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung über die Befristung der Wirkungen einer Ausweisung auch dann förmlich zu entscheiden, wenn sich die Notwendigkeit hierzu erst im Verlaufe des Klageverfahrens ergibt. Darauf, dass diese Entscheidung vollumfänglich der gerichtlichen Überprüfung unterliegt, kommt es nicht an.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Widerspruchsverfahren, Widerspruch, Ausweisung, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, türkische Staatsangehörige, Stand-Still-Klausel, Stillhalteklausel, Befristung, gerichtliche Überprüfung, Unionsbürger, Besserstellung, unzulässige Besserstellung, Besserstellungsverbot, unzulässige Besserstellung gegenüber Unionsbürgern,
Normen: RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 13, ZP Art. 59,
Auszüge:

[...]

d) Entgegen der umfangreich dargelegten und den Schwerpunkt der Berufungsbegründung darstellenden Auffassung des Klägers ist seine Ausweisung auch verfahrensfehlerfrei durchgeführt worden:

Insbesondere verstößt seine Ausweisung nicht gegen das in Art. 9 Abs. 1 RiL 64/221/EWG enthaltene sog. Vier-Augen-Prinzip, das nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. September 2005 (1 C 7.04 -, BVerwGE 214, 217, 221, im Anschluss an das Urteil des EuGH vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03 [Dörr und Ünal], InfAuslR 2005, 289) auch auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige zu übertragen war und ihnen außer in dringenden Fällen einen Anspruch auf Überprüfung ihrer Ausweisung durch eine zweite unabhängige Stelle noch im Verwaltungsverfahren - z.B. im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens - gab. Denn die Richtlinie 64/221/EWG ist zum 30. April 2006 durch Art. 38 Abs. 2 RiL 2004/38/EG aufgehoben worden. Daher kann sie für zeitlich später verfügte Ausweisungen - der vorliegend angegriffene Bescheid datiert vom 26. Februar 2008 - keine Geltung mehr beanspruchen.

Gegen die abweichende Auffassung des Klägers spricht schon der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof in seinem die Anwendbarkeit der Verfahrensgarantien der Art. 8 und 9 RiL 64/221/EWG für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige feststellenden Urteil vom 2. Juni 2005 ausgeführt hat, diese Verfahrensgarantien seien "untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen". Sind jedoch - wie vorliegend - die materiellen Rechte der genannten Richtlinie infolge Außerkraftsetzung der gesamten Richtlinie durch Art. 38 Abs. 2 RiL 2004/38/EG erloschen, können die auf sie Bezug nehmenden Verfahrensrechte nicht gleichwohl hiervon getrennt fortgelten.

Jedenfalls folgt der Senat den überzeugenden Ausführungen in der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 -, juris Rz. 22 ff., vom 13. Dezember 2012 - 1 C 20.11 -, juris Rz. 32 ff., vom 15. Januar 2013 - 1 C 10.12 -, juris Rz. 23 ff. und vom 14. Mai 2013 - 1 C 13.12 -, juris Rz. 17 ff. sowie Beschluss vom 15. April 2013 - 1 B 22.12 -, juris Rz. 4 ff.), wonach es einer weiteren Überprüfung von Ausweisungsentscheidungen durch eine unabhängige Stelle im Verwaltungsverfahren auch für nach dem Assoziationsrecht Begünstigte nicht bedarf. Das Bundesverwaltungsgericht hat insoweit im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

Unionsrechtlicher Bezugsrahmen für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige ist nach Aufhebung der RiL 64/221/EWG, wie der EuGH in seinem Urteil vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08 [Ziebell] entschieden hat, nunmehr Art. 12 der RiL 2003/109/EG betreffend die langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, der in Abs. 4 bezüglich der Überprüfung von Ausweisungen nur auf den Rechtsweg im betreffenden Mitgliedstaat verweist, während die Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Ausweisungsverfahren zur Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme nicht vorgeschrieben ist (vgl. z.B. Urteil vom 10. Juli 2012, a.a.O., Rz. 22 am Ende).

Selbst wenn aber der für Unionsbürger geltenden Art. 31 der RiL 2004/38/EG anwendbar wäre oder entsprechend angewendet werden könnte - so das Urteil des Bundesverwaltungsgericht vom 13. Dezember 2012, a.a.O., Rz. 29 f. - ergäbe sich auch daraus keine Verpflichtung zur "Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Ausweisungsverfahren zur Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme", da dies auch dort nicht vorgeschrieben sei. Dass in Art. 31 Abs. 1 RiL 2004/38/EG die Einlegung eines Rechtsbehelfs "bei einem Gericht oder gegebenenfalls bei einer Behörde eines Mitgliedsstaats" und nach dessen Absatz 3 die Überprüfung nicht nur für Tatsachen, sondern auch für "Umstände" vorgesehen sei, rechtfertige keine andere Beurteilung. Denn die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einer Behörde in Absatz 1 beziehe sich - auch unter Berücksichtigung des englischen Wortlauts - erkennbar darauf, dass nationales Recht eine solche Prüfung, etwa durch ein vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren, vorsehe. Eine unionsrechtliche Verpflichtung zur Schaffung einer solchen Regelung durch die Mitgliedstaaten ergebe sich daraus jedoch nicht. Auch aus der Verwendung des Begriffs "Umstände" in Art. 31 Abs. 3 Satz 1 RiL 2004/38/EG lasse sich die Notwendigkeit einer Zweckmäßigkeitsprüfung nicht ableiten. Vielmehr stehe dieser Begriff im Zusammenhang mit dem dortigen Satz 2, der eine Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Entscheidung im Hinblick auf Art. 28 vorschreibe, wo alle zu berücksichtigenden "Umstände" genannt seien. Im Übrigen - so das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 15. April 2013, a.a.O., Rz. 7 bis 9 - belege auch die Entstehungsgeschichte des Art. 31 RiL 2004/38/EG, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet bleiben sollten, vor einer Ausweisung eine unabhängige Stelle einzuschalten, sondern diese Entscheidung dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten bleiben sollte, und dass dessen Absatz 3 nur eine Verhältnismäßigkeits-, nicht aber auch eine Zweckmäßigkeitsprüfung sicherstellen sollte.

Das Erfordernis der Einschaltung einer unabhängigen Stelle bei Ausweisungen, wie es früher in Art. 9 RiL 64/221/EWG geregelt gewesen sei, gelte - so das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 15. April 2013, a.a.O., Rz. 11 - auch nicht als allgemeiner Grundsatz des Europarechts für Unionsbürger oder nach dem ARB 1/80 Berechtigte fort. Vielmehr sei der Richtliniengeber insoweit zu einer Neuregelung berechtigt gewesen, im Rahmen derer er den Wegfall durch einen erhöhten Rechtsschutz im gerichtlichen Verfahren ausgeglichen habe, indem er den Gerichten nicht nur eine Rechtskontrolle, sondern auch eine Überprüfung der Tatsachengrundlage aufgegeben habe. Eine derartige vollständige gerichtliche Kontrolle habe es in vielen europäischen Staaten zuvor nicht gegeben.

Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht aus dem Urteil des EuGH vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03 [Dörr und Ünal], da dort nur über die Geltung der Rechtsschutzgarantien der EU-Bürger auch für den Personenkreis der nach ARB 1/80 Berechtigten entschieden worden sei und sich hieraus nichts für eine Übertragbarkeit und Aufrechterhaltung der alten, außer Kraft gesetzten Vorschriften, d.h. vorliegend der RiL 64/221/EWG, ergebe.

Diesen rechtlichen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts tritt der Kläger nicht substantiiert entgegen. An seinem ursprünglich angekündigten Antrag, das Verfahren auszusetzen und dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV die Frage vorzulegen, ob die Regelung in Art. 31 Abs. 1 RiL 2004/38/EG dahingehend auszulegen sei, dass auch assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen ein Anspruch auf ein verwaltungsbehördliches Rechtsbehelfsverfahren zustehe, hat er in der mündlichen Verhandlung nicht festgehalten.

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass unabhängig von der für Unionsbürger gültigen Aufhebung des Art. 9 RiL 64/221/EWG für ihn als Begünstigten nach Art. 7 ARB 1/80 das Vier-Augen-Prinzip wegen der Stand-Still-Klausel in Art. 13 ARB 1/80 fortgelten müsse. Der Senat folgt auch insoweit der in den genannten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts seit dem 10.Juli 2012 durchgehend vertretenen Auffassung, die Stand-Still-Regelung in Art. 13 ARB 1/80 lasse eine Fortgeltung des Vier-Augen-Prinzips nur für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nicht zu, weil dies mit dem Besserstellungsverbot des Art. 59 ZP nicht vereinbar sei.

Soweit der Kläger darauf verweist, die EU-Kommission habe in den Stellungnahmen vom 15. Dezember 2006 - Rs. C-349/06 [Polat] und vom 2. Dezember 2008 - Rs. C-371/08 [Ziebell] deutlich gemacht, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und die auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 15. April 2013 zutreffend darauf verwiesen, dass schon der Europäische Gerichtshof selbst ausweislich seines Urteil vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08 [Ziebell] dieser Auffassung nicht gefolgt ist. Vielmehr habe er - so das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (a.a.O. Rz. 15) - "für Regelungen zum Ausweisungsschutz, bei denen die für Unionsbürger geltenden Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG im Hinblick auf ihren Gegenstand und Zweck nicht auf Berechtigte nach dem Assoziationsrecht EWG – Türkei übertragbar sind, Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG als neuen unionsrechtlichen Bezugsrahmen bestimmt, nicht aber die außer Kraft getretenen Bestimmungen der Richtlinie 64/221/EWG zugunsten der assoziationsrechtlich Begünstigten für weiterhin anwendbar angesehen (vgl. Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 74 - 79)".

Eine andere Auffassung rechtfertigt auch nicht der Hinweis des Klägers, dass es bei der Frage des Vorliegens eines Verstoßes gegen das Besserstellungsverbot nicht auf den Vergleich der Details der Rechtsstellung von Unionsbürgern und Assoziationsberechtigten ankomme, sondern auf eine Gesamtbetrachtung der Rechtsstellung beider Gruppen. Das ergebe sich aus dem Urteil des EuGH vom 19. Juli 2012 - Rs C-451/11 [Dülger] und werde zudem von Gutmann im GK-AufenthG (Stand Mai 2012, Art 14 ARB 1/80 Rz. 125 f.) vertreten, der sich insoweit auf das Urteil des EuGH vom 18. Juli 2007 - Rs. C-235/05 [Derin], juris Rz. 61 ff. berufe. Auch insoweit kann auf die überzeugenden Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 14. Mai 2013 (a.a.O., Rz. 20) Bezug genommen werden. Dort wird dem Argument des dortigen Klägers, ein Verstoß gegen das Besserstellungsverbot liege nicht vor, weil freizügigkeitsberechtigte EU-Staatsangehörige gegenüber assoziationsrechtlich Begünstigten "einen höheren materiellen Ausweisungsschutz besäßen", Folgendes entgegengehalten:

"Denn soweit Unionsbürger nach der Richtlinie 2004/38/EG gegenüber Berechtigten nach dem Assoziationsrecht EWG-Türkei einen erhöhten materiellen Ausweisungsschutz genießen, beruht dieser nicht auf dem wirtschaftlich begründeten Freizügigkeitsrecht von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten, sondern auf der besonderen Rechtsstellung der Unionsbürger, mit der die assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen keine Gleichstellung verlangen können (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 – Rs. C-371/08, Ziebell - NVwZ 2013, 422 Rn. 68 - 74). Dem stehen auch die durch das Assoziationsrecht getroffenen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Union zum Stillstandsgebot nicht entgegen. Jedenfalls in dem Umfang, in dem sich die Vertragsparteien EWG und Türkei in Art. 59 ZP völkerrechtlich zur Beachtung des Besserstellungsverbots verpflichtet haben, durfte die Union den Wegfall einer Regelung zum außergerichtlichen Rechtsschutz, der für die Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten geschaffen worden war, auch mit Wirkung für die Berechtigten nach dem ARB 1/80 entfallen lassen (so schon Beschluss vom 15. April 2013 – BVerwG 1 B 22.12 – Rn. 14)."

Da eine Fortgeltung des Vier-Augen-Prinzips ausschließlich für assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige somit bereits gegen das Besserstellungsverbot aus Art. 59 ZP verstößt, kann im Ergebnis dahinstehen, ob dem auch die vom Bundesverwaltungsgericht in den genannten Entscheidungen darüber hinaus geltend gemachten, letztlich aber offen gelassenen Bedenken (Art. 13 ARB 1/80 hindert nach seinem Wortlaut nur die Mitgliedsstaaten an der Einführung neuer Beschränkungen, nicht aber die Europäische Union selbst; Anwendbarkeit dieser Regelung auch für Verfahrensrechte; Vorliegen einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition) entgegenstehen oder ob diese angesichts der diesbezüglichen klägerischen Ausführungen nicht durchgreifend erscheinen.

Auch ein - vorliegend nicht gerügter- nationaler Verstoß gegen die Stand-Still-Klausel in Art. 13 ARB 1/80 durch das Entfallen des Widerspruchsverfahrens nach §§ 68 ff. VwGO im Land Berlin durch § 4 Abs. 2 AGVwGO im Jahre 2001 liegt nicht vor. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 13. Dezember 2012 (a.a.O., Rz. 34) - bezogen auf den Wegfall des Widerspruchverfahrens in Baden-Württemberg - überzeugend zum einen damit begründet, das Widerspruchsverfahren sei keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Ausweisung, sondern lediglich Prozessvoraussetzung für die Erhebung der Anfechtungsklage gewesen, zum anderen damit, dass dessen Wegfall türkische Assoziationsberechtigte und Unionsbürger in gleicher Weise treffe, so dass die Aufrechterhaltung nur für türkische Staatsangehörige nicht mit dem Besserstellungsverbot in Art. 59 ZP vereinbar wäre. [...]

5. Dem Kläger steht jedoch auf seinen weiteren Hilfsantrag ein Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung für die Dauer von drei Jahren gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG zu. Soweit er in der mündlichen Verhandlung weitergehend die Befristung auf zwei Jahre verlangt hat, hat sein Begehren keinen Erfolg.

Im Hinblick auf die Weigerung des Beklagten, über das bereits im Berufungsbegründungsschriftsatz vom 7. Oktober 2012 geltend gemachte Begehren auf hilfsweise Befristung der Wirkungen der Ausweisung zumindest in der mündlichen Verhandlung förmlich zu entscheiden, besteht Veranlassung darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung über die Befristung grundsätzlich - auch in der vorliegenden Konstellation - der Ausländerbehörde obliegt. Dass die Entscheidung über die Befristung zwingend und gerichtlich in vollem Umfang nachprüfbar ist, verlagert den Gesetzesvollzug ebenso wenig wie in anderen Fällen in den Bereich der Judikative. Das ist vorliegend auch nicht etwa deshalb anders zu beurteilen, weil die Notwendigkeit zu einer entsprechenden Befristung bei Erlass des Ausweisungsbescheids noch nicht bestand, sich vielmehr erst im Verlaufe des Klageverfahrens durch den Erlass des - mit Wirkung vom 26. November 2011 ohne Übergangsvorschrift in Kraft getretenen - Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 22. November 2011 ergeben hat. Soweit das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 10. Juli 2012 (a.a.O., Rz. 40) ausgeführt hat, dass im Falle des Fehlens einer behördlichen Befristungsentscheidung über die konkrete Dauer einer angemessenen Frist das Gericht selbst hierüber zu befinden habe, kann dies schon angesichts des Grundsatzes der Gewaltenteilung nicht dahin verstanden werden, dass es einer behördlichen Entscheidung von vornherein nicht bedürfe. Dies gilt umso mehr, als der Senat bereits vor der mündlichen Verhandlung ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer Befristungsentscheidung hingewiesen und der Beklagte im Schriftsatz vom 8. August 2013 umfangreich dargelegt hat, warum er aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles einen Befristungszeitraum von drei Jahren nach Ausreise als verhältnismäßig ansieht.

Der Senat hält im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2013, a.a.O., Rz. 29) eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung des Klägers auf drei Jahre aus folgenden Gründen für erforderlich und angemessen:

Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ist die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Eine zu spezialpräventiven Zwecken verfügte Ausweisung, wie vorliegend, verlangt dabei die prognostische Einschätzung, für welchen - maximal zehn Jahre umfassenden - Zeithorizont das Verhalten des Ausländers das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Sodann ist diese Frist in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK, zu messen bzw. zu relativieren, um die Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Ausländers sowie die seiner ggf. engeren Familienangehörigen zu begrenzen. An dieser Stelle sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange zu beachten und ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine einzelfallbezogene - gerichtlicher-seits vollumfänglich nachprüfbare - Entscheidung zu treffen (BVerwG, Urteile vom 14. Mai 2013, a.a.O., Rz. 32 f., und vom 13. Dezember 2012 - 1 C 14.12 -, juris Rz. 14 f.).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist zunächst davon auszugehen, dass die Fristgrenze von fünf Jahren in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorliegend ohne Bedeutung ist, da der Kläger - wie oben dargelegt - aufgrund rechtskräftiger strafrechtlicher Verurteilungen ausgewiesen wurde und von ihm darüber hinaus auch aktuell eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Zu Recht hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 8. August 2013 und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat darauf hingewiesen, dass der Kläger über mehrere Jahre zahlreiche Straftaten begangen hat, die sich durch grobe Rücksichtslosigkeit gegenüber hochwertigen Rechtsgütern wie körperliche Integrität und Eigentum Dritter auszeichneten (Raub, Erpressung, gefährliche Körperverletzung etc.). Ungeachtet der mehrfachen Verbüßung nicht nur kurzzeitiger Freiheitsstrafen hat er weiterhin, wenn auch nicht mehr mit denselben schwerwiegenden Delikten und in vergleichbarem Umfang, erhebliche Straftaten begangen, die vor dem Hintergrund unveränderter Lebensumstände sowie fehlender Einsicht, Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit seinen Straftaten für eine hohe Wiederholungsgefahr sprechen. Diese Prognose kann angesichts des oben festgestellten, fortbestehend hohen Aggressionspotentials des Klägers bzw. seiner oftmals anlasslosen Aggressivität, die - bislang jedenfalls - als persönlichkeitsimmanent einzuschätzen ist und voraussichtlich auch künftig zwangsläufig zu erheblichen Konflikten und Gesetzesverstößen führen wird, nicht anders vorgenommen werden. Mit Blick auf die den Ausweisungsanlass bildenden strafrechtlichen Verurteilungen ist danach allein zu Gunsten des Klägers in Rechnung zu stellen, dass es sich überwiegend um Verurteilungen nach Jugendstrafrecht handelte. Zudem sprechen die Feststellungen des Landgerichts im Urteil vom 4. Oktober 2012 dafür, dass beim Kläger eine Reifeverzögerung vorliegt, die unter entwicklungspsychologischen Aspekten nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben kann.

Dem sich hieraus ergebenden Zweck der Ausweisung, d.h. der Verhinderung von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, stehen auf der zweiten Stufe durchaus gewichtige private und familiäre Interessen auf Klägerseite gegenüber. Dazu zählt zunächst und vor allem der Umstand, dass der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist sowie bisher ausschließlich hier gelebt hat und die Übersiedlung in die Türkei deshalb - wie bereits im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ausgeführt - angesichts fehlender Beziehungen dorthin und auch nur begrenzter Kenntnisse der dortigen Sprache und Kultur für ihn durchaus erhebliche Schwierigkeiten und Belastungen mit sich bringen dürfte. Dass ihm andererseits ein dortiger, nicht nur ganz kurzzeitiger Aufenthalt gänzlich unzumutbar wäre, ist angesichts seines Lebensalters und eingeräumter, nicht gänzlicher Fremdheit der türkischen Sprache und Kultur nicht ersichtlich. Zu berücksichtigen ist ferner die sich bei der Übersiedlung für den unverheirateten und kinderlosen Kläger ergebende Trennung von der elterlichen Familie, bei der er - abgesehen von seinen Inhaftierungszeiten - nach eigenen Angaben weiterhin lebt. Hierbei kann jedoch nicht außer Acht bleiben, dass er bereits 24 Jahre alt und damit schon längere Zeit volljährig ist. Ferner zählt zu den schutzwürdigen Belangen, dass er nach seinen Angaben im Schriftsatz vom 7. Oktober 2012 seinen nach einem schweren Schlaganfall pflegebedürftigen Vater (Pflegestufe 1) betreue. Insoweit ist allerdings zum einen darauf hinzuweisen, dass zum aktuellen Gesundheitszustand des Vaters und seiner Pflegedürftigkeit klägerischerseits in der Folgezeit und auch in der mündlichen Verhandlung keinerlei Angaben mehr gemacht worden sind. Zum anderen ist auch der Vortrag des Beklagten, die Pflege könne auch sein im Haushalt lebender jüngerer Bruder übernehmen und ihm selbst sei eine solche schon wegen der erneuten Strafhaft längere Zeit nicht möglich, ohne Reaktion des Klägers geblieben. Zudem wird nicht dargelegt, wieso die Ehefrau seines Vaters hierfür nicht zur Verfügung steht und welches sein Anteil an der Pflege des Vaters in der Vergangenheit überhaupt konkret gewesen ist.

Anderweitige in die Abwägung einzustellende erhebliche Bindungen des Klägers an die Bundesrepublik Deutschland sind nicht ersichtlich. Von einer sozialen und wirtschaftlichen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse kann nicht ausgegangen werden. Der Kläger verfügt weder über einen Schul- oder Berufsabschluss noch hat er ansonsten Interesse an einer beruflichen Weiterentwicklung gezeigt oder auch nur jemals eine längerfristige Erwerbstätigkeit aufgenommen, um seinen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können.

Unter Berücksichtigung all dessen ist in Übereinstimmung mit den Erwägungen des Beklagten die Festsetzung einer Sperrfrist für die Ausweisung von drei Jahren erforderlich und angemessen. Eine weitergehende Verkürzung auf zwei Jahre würde demgegenüber dem spezialpräventiven Zweck der Ausweisung auch unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Klägers und der Folgen für seine Familienangehörigen nicht gerecht. Dass sich eine Befristung auf zwei Jahre, wie der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, daraus ergeben soll, dass sein Mandant in der Türkei den dortigen (neunmonatigen) Grundwehrdienst zu absolvieren hat, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. [...]