OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 20.09.2013 - 1 B 143/13 (= ASYLMAGAZIN 12/2013, S. 428 f.) - asyl.net: M21185
https://www.asyl.net/rsdb/M21185
Leitsatz:

1. Kommt die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels (§ 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 Abs. 1 EMRK) ernsthaft in Betracht, kann ein Anspruch auf Duldung bestehen, bis über den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abschließend entschieden ist (Festhaltung an OVG Bremen, Beschluss vom 17.09.2010 - 1 B 174/10).

2. Die Beziehung zwischen dem Ehegatten eines Elternteils und dem Stiefkind kann dem Schutz des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK unterfallen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, humanitärer Aufenthaltstitel, Duldung, Anspruch auf Duldung, Achtung des Familienlebens, Schutz von Ehe und Familie, Stiefkind, sozial-familiäre Beziehung, Visumsverfahren, Familiennachzug, Familienzusammenführung, Kindeswohl, Wohl des Kindes,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

2. Die Antragstellerin hat einen das weitere Verwaltungsverfahren sichernden Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG glaubhaft gemacht, weil ihre Abschiebung derzeit aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist. Dies folgt aus der Überlegung, dass die Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK ernsthaft in Betracht zu ziehen ist (vgl. Beschluss des Senats vom 17.09.2010 – 1 B 174/10 – juris und NVwZ-RR 2011, 175 – Leitsatz –).

Es spricht einiges dafür, dass das Verhältnis zwischen der Antragstellerin und ihrer Stieftochter ... entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts jedenfalls durch Art. 8 EMRK geschützt ist. Zwar ist es zutreffend, dass ... die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen Kindes der Ehegatten erst durch die beabsichtigte (Stiefkind-)Adoption erhält. Das ändert aber nichts daran, dass Art. 8 EMRK und wohl auch Art. 6 GG nicht an die rechtliche Stellung des Kindes, sondern an eine sozial-familiäre Beziehung anknüpfen.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist der von Art. 8 Abs. 1 EMRK gebrauchte Begriff des Familienlebens weit zu verstehen. Im Kern handelt es sich um eine Tatsachenfrage, die vom tatsächlichen Vorliegen enger persönlicher Beziehungen abhängt. Ob das Kind und die elterliche Verantwortung übernehmende Betreuungsperson miteinander verwandt sind, ist dabei nicht entscheidend (EGMR - Große Kammer – Urteil vom 12.07.2001 – 25702/94, K. und T./Finnland, NJW 2003, S. 809, 810 Tz. 149 ff.; Urt. v. 17.01.2012 – 1598/06 – FamRZ 2012, S. 429; Urt. v. 27.10.1994 – 18535/91, Kroon/Niederlande; zusammenfassend Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 49). Dies dürfte sich im Grundsatz mit der Reichweite des nationalen Verfassungsrechts decken, auch wenn es das Bundesverfassungsgericht bei sog. "faktischen" Stiefkindern, also den Kindern des Partners in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, hat dahinstehen lassen, ob das Kind mit dem Partner des leiblichen Elternteils aufgrund der sozial-familiären Beziehung eine Familie im Sinne des Grundgesetzes bildet (Nichtannahmebeschluss vom 10.12.2004 – 1 BvR 2320/98, NJW 2005, S. 1417 juris Rn. 19 u. a. unter Verweis aber auf § 1685 Abs. 2 BGB, der ein Umgangsrecht der sozial-familiären Bezugsperson begründet). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Beziehung zwischen der Antragstellerin und ... durch das rechtliche Band zwischen den Eheleuten von vornherein im Vergleich zu Kindern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften weiter verfestigt ist, was die Rechtsordnung an verschiedener Stelle – etwa im Steuer- oder im Sozialrecht (vgl. z.B. § 32 Abs. 6 Satz 10 EStG oder § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB V) – anerkennt.

Ob zwischen der Antragstellerin und ... ein geschütztes Familienleben jedenfalls im Sinne der Rechtsprechung des EGMR besteht, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Es spricht nach den tatsächlichen Feststellungen, die das Verwaltungsgericht nach persönlicher Anhörung der Antragstellerin getroffen hat, einiges dafür. Danach ist die Antragstellerin derzeit die wichtigste Bezugsperson für .... Dies deckt sich mit einer im Beschwerdeverfahren vorgelegten ärztlichen Bescheinigung des Arztes für Kinder- und Jugendmedizin Herrn .... vom 08.07.2013. Dort heißt es, ... habe durch den Verlust ihrer Mutter eine schwere frühkindliche Belastungssituation erlebt. Diese Belastung habe durch die Antragstellerin aufgefangen werden können, die von ... als "zweite Mutter" angenommen worden sei. Sollte diese Beziehung abbrechen, sei bei dem Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit eine psychische Auswirkung mit Verlustängsten und Bindungsstörungen zu erwarten.

Soweit die Antragsgegnerin die fachliche Qualifikation des Arztes in Zweifel zieht, bleibt es ihr bzw. der Widerspruchsbehörde unbenommen, im weiteren Verfahren kinderpsychologischen Sachverstand heranzuziehen. Dies könnte auch deswegen notwendig sein, weil die Bescheinigung vom behandelnden Kinderarzt stammt. Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinen Patienten bzw. deren Angehörigen könnte einer objektiven Beurteilung entgegenstehen. Dabei kann es auch sinnvoll sein, das Jugendamt zu beteiligen, das ausweislich der Ausländerakte des Ehemannes bereits in der Vergangenheit mit der Familie befasst war. Der weiteren Sachaufklärung dient gerade die Duldung, zu deren Erteilung die Antragsgegnerin verpflichtet wird.

Sollte sich im weiteren Verwaltungsverfahren bestätigen, dass zwischen der Antragstellerin und ... ein tatsächliches Familienleben besteht und die geplante Abschiebung deshalb in Art. 8 EMRK eingreift, kommt auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ernsthaft in Betracht. Es spricht einiges dafür, dass der Eingriff nicht nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt wäre. Zwar handelt es sich bei der mit dem Visumsverfahren bezweckten Einwanderungskontrolle um ein berechtigtes Ziel, das einer Verletzung der Konvention grundsätzlich entgegenstehen kann. Gleiches gilt für den Schutz der nationalen Sozialleistungssysteme als mit der Lebensunterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bezwecktes Ziel. Bei der Frage, ob der Eingriff in "einer demokratischen Gesellschaft notwendig" ist, bedarf es aber einer umfassenden Prüfung, ob die zur Rechtfertigung der Maßnahme vorgetragenen Gründe im Lichte aller Umstände des Falls stichhaltig und ausreichend waren, wobei die Prüfung dessen, was dem Kindeswohl am Besten dient, von entscheidender Bedeutung ist (EGMR - Große Kammer – Urteil vom 12.07.2001 – 25702/94, K. und T./Finnland, NJW 2003, S. 809, 810 Tz. 154). Dabei ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass das Kindeswohl die Schutzwirkung, auf die die Antragstellerin sich beruft, nicht nur begründet, sondern auch begrenzt. Art. 8 Abs. 1 EMRK schützt – ebenso wie Art. 6 Abs. 1 GG (BVerfG Beschluss vom 09.04.2003 – 1 BvR 1493/96, 1 BvR 1724/01, BVerfGE 108, S. 82 juris Rn. 97) – die familiäre Beziehung, nicht das einzelne Familienmitglied für sich allein. Der Schutz der familiären Beziehung reicht aber nur so weit, wie es dem Wohl des Kindes dient.

Bei der eventuell erforderlich werdenden Abwägung wird Folgendes zu beachten sein: Ob die Antragstellerin unter Berücksichtigung des Einkommens ihres Ehemannes ihren Lebensunterhalt sichern kann, steht zurzeit noch nicht fest. Die Antragsgegnerin hat die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bislang vor allem damit begründet, die Antragstellerin habe das Visumsverfahren umgangen. Dieser Vorwurf wiegt schwer und ist nach dem Akteninhalt nicht von der Hand zu weisen. Es bestehen aber Zweifel, ob er sich bei einer Abwägung gegenüber dem Kindeswohl durchsetzen kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Sachverhalt von besonderen Umständen gekennzeichnet ist. Für das Handeln der Antragstellerin und ihres Ehemannes war mit der Erkrankung der Kindsmutter ein Umstand bestimmend, auf den sie selber keinen Einfluss hatten. Als die Antragstellerin in die Bundesrepublik einreiste, war die Kindsmutter schwer erkrankt, lebte aber noch. Ihr Tod im Februar änderte die Sachlage, ohne dass dies sowie die sich hieraus ergebenden sozial-familiären Folgen in einem vorhergehenden Visumsverfahren hätten berücksichtigt werden können. Es bestehen deshalb erhebliche Bedenken, ob die Annahme der Antragsgegnerin, das Schicksal des Kindes werde zum Anlass genommen, um einen Aufenthalt für die Antragstellerin zu erwirken, zutreffend ist. Ohne weitere Feststellungen ist sie jedenfalls nicht ausreichend belastbar, um bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Abschiebungsschutz abzulehnen. [...]