OLG Bamberg

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Zitieren als:
OLG Bamberg, Urteil vom 19.02.2014 - 3 Ss 6/14 - asyl.net: M21635
https://www.asyl.net/rsdb/M21635
Leitsatz:

Die zur Erlangung einer EU-Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU für Familienangehörige von Unionsbürgern vorsätzlich gegenüber der Ausländerbehörde abgegebene falsche Erklärung, mit einem Unionsbürger bestehe eine eheliche Lebensgemeinschaft, erfüllt weder den Tatbestand unrichtiger Angaben zur Beschaffung eines Aufenthaltstitels nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG noch denjenigen der mittelbaren Falschbeurkundung nach § 271 Abs. 1 StGB.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: EU-Aufenthaltskarte, Aufenthaltskarte, Familienangehörige, Unionsbürger, Drittstaatsangehörige, drittstaatsangehöriger Ehegatte, eheliche Lebensgemeinschaft, falsche Erklärung, unrichtige Angaben, mittelbare Falschbeurkundung, Strafbarkeit,
Normen: FreizügG/EU § 5 Abs. 1, AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 2, StGB § 271 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer "unrichtige oder unvollständige Angaben macht oder benutzt, um für sich oder einen anderen einen Aufenthaltstitel oder eine Duldung zu beschaffen oder eine so beschaffte Urkunde wissentlich zur Täuschung im Rechtsverkehr gebraucht".

a) Diese Voraussetzungen liegen hier, wie das Landgericht zutreffend erkannt hat, deshalb nicht vor, weil von der Strafbewehrung des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG entsprechend dem eindeutigen Normwortlaut nur unrichtige Angaben zur Beschaffung eines Aufenthaltstitels im Sinne von § 4 AufenthG oder einer Duldung im Sinne von § 60a AufenthG erfasst sind, nicht aber falsche Angaben zur Ausstellung einer sog. EU-Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU für freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige von Unionsbürgern, die selbst nicht Unionsbürger sind (Winkelmann in Renner/Bergmann/Dienelt Ausländerrecht 10. Aufl. § 95 AufenthG, Rn. 112).

Die EU-Aufenthaltskarte stellt zweifelsfrei keinen Aufenthaltstitel im Sinne dieser Bestimmung dar. Was als Aufenthaltstitel anzusehen ist, hat der Gesetzgeber in § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG geregelt. Das Aufenthaltsgesetz und damit auch diese Vorschrift finden indessen auf EU-Bürger und deren Familienangehörige grundsätzlich, d.h. soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist, keine Anwendung (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG in Verbindung mit § 1 FreizügG/EU), so dass schon deswegen eine Bestrafung nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG im Zusammenhang mit der Beantragung einer EU-Aufenthaltskarte ausscheidet. Unabhängig davon wird dieses Dokument auch nicht von der enumerativen Aufzählung in § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG erfasst.

b) Nichts anderes folgt aus dem Umstand, dass gemäß § 11 Abs. 1 FreizügG/EU die Bestimmung des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt haben, "entsprechende Anwendung" findet. Diese Verweisung erschöpft sich darin, den persönlichen Anwendungsbereich dieser Strafnorm auf Angehörige der EU-Mitgliedstaaten und deren Familienangehörige auszudehnen, nicht aber falsche Angaben im Zusammenhang mit der Beantragung einer EU-Aufenthaltskarte unter Strafe zu stellen. Hierfür sprechen sowohl die grammatikalische Interpretation, Gründe der Gesetzessystematik sowie die Entstehungsgeschichte und die ratio legis.

aa) Schon der Wortlaut des § 11 Abs. 1 FreizügG/EU belegt eindeutig, dass der Gesetzgeber allein den Anwendungsbereich des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG in personeller Hinsicht auf die unter das FreizügG/EU fallenden Personen erweitern, nicht aber auch Falschangaben im Zusammenhang mit der Beantragung von EU-Aufenthaltskarten pönalisieren wollte. Durch § 11 Abs. 1 FreizügG/EU wird die entsprechende Anwendung u.a. des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG explizit "auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen" angeordnet. Damit wird der personale Bezug klar hervorgehoben. Hätte der Gesetzgeber eine Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs dahingehend gewollt, dass zusätzlich zu den in § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG genannten Aufenthaltstiteln bzw. Duldungen auch EU-Aufenthaltskarten erfasst sein sollten, wäre die bloße Bezugnahme auf "Unionsbürger und deren Familienangehörige" nicht plausibel.

bb) Diese am Wortlaut der Norm orientierte Auslegung wird zusätzlich durch die Gesetzessystematik gestützt. Während - wie bereits dargelegt - in § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU die Verweisung auf Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich der Person des Ausländers erfolgt, hat der Gesetzgeber in § 11 Abs. 1 Sätze 3 bis 7 FreizügG/EU die entsprechende Anwendung von Normen des Aufenthaltsgesetzes in Bezug auf Aufenthaltskarten angeordnet. Diese Differenzierung zwischen personaler und sachlicher Verweisung auf einzelne Bestimmungen des Aufenthaltsrechts unterstreicht die Richtigkeit der vorgenommenen Wortlautinterpretation.

cc) Ferner wird dieses Ergebnis auch durch die Entstehungsgeschichte und den hieraus abzuleitenden Normzweck belegt. Wie bereits ausgeführt, findet das Aufenthaltsgesetz auf EU-Bürger und deren Familienangehörige gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG in Verbindung mit § 1 FreizügG/EU grundsätzlich keine Anwendung, solange das Gesetz nichts anderes bestimmt. Mit der Verweisung durch § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU auf § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG war dem Gesetzgeber daran gelegen, die Ungleichheit zu beseitigen, die ohne eine entsprechende Regelung darin bestanden hätte, dass sich zwar Deutsche und Angehörige von Drittstaaten, nicht aber EU-Bürger und deren Familienangehörige im Zusammenhang mit der Beantragung von Aufenthaltstiteln bzw. Duldungen strafbar machen könnten. In der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 23.04.2007 heißt es insoweit (vgl. BT Drucks. 16/5065 S. 212):

"Die in § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (u.a. unrichtige Angaben zur Titelbeschaffung sowie - durch dieses Gesetz neu eingeführt - unrichtige Angaben zur Beschaffung einer Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung) unter Strafe gestellte Handlung ist auch für Deutsche strafbar. Die Strafbarkeit wird mit dem Verweis in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU auf Unionsbürger ausgedehnt."

c) Gegen diese durch Wortlaut, Gesetzessystematik, Entstehungsgeschichte und Normzweck belegte Auslegung des § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU lässt sich entgegen der Auffassung rechtsmittelführenden Staatsanwaltschaft auch nicht einwenden, dass damit "kein Anwendungsbereich bestünde", die Verweisung mithin leerliefe. Wie bereits dargelegt, kann sich auch ein Inländer durch Falschangaben bei der Titelbeschaffung für einen Ausländer nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG strafbar machen. Genauso verhält es sich letztlich aufgrund der Verweisung mit EU-Bürgern und deren Familienangehörigen, wenn und soweit sie etwa bei der Titelbeschaffung für Dritte tätig würden. Ungeachtet dessen könnte sich u.U. der Angehörige eines EU-Bürgers auch bei der Beantragung eines Aufenthaltstitels für sich selbst nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG strafbar machen. Nach § 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU bedürfen nämlich Familienangehörige, die ihrerseits nicht Unionsbürger sind, für die Einreise eines Visums nach den Bestimmungen für Ausländer, für die das Aufenthaltsgesetz gilt. Hiervon sind sie gemäß § 2 Abs. 4 Satz 3 FreizügG/EU nur entbunden, wenn sie eine gültige Aufenthaltskarte besitzen.

2. Einen Rechtsfehler zeigt das angegriffene Urteil auch nicht deshalb auf, weil der Angeklagte, wie die Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht meint, aufgrund der tatrichterlichen Feststellungen zumindest wegen mittelbarer Falschbeurkundung gemäß § 271 Abs. 1 StGB hätte verurteilt werden müssen.

a) Nach § 271 StGB wird bestraft, wer die Beurkundung eines unwahren Sachverhalts in einer öffentlichen Urkunde gleichsam als mittelbarer Täter herbeiführt. Allerdings kann nicht jede in einer öffentlichen Urkunde enthaltene Angabe, die ein Außenstehender durch Täuschung des (gutgläubigen) Amtsträgers bewirkt, Gegenstand einer mittelbaren Falschbeurkundung sein. Denn "beurkundet" in diesem Sinne sind nur diejenigen Erklärungen, Verhandlungen oder Tatsachen, auf die sich der öffentliche Glaube, d.h. die volle Beweiswirkung für und gegen jedermann, erstreckt. Entscheidend ist, ob gerade auch die inhaltlich falsch aufgezeichneten Umstände nach der Verkehrsanschauung unter Berücksichtigung des der Beurkundung zugrunde liegenden Gesetzes von der erhöhten Beweiswirkung erfasst sind. Dies setzt voraus, dass die fragliche Tatsache mit der Urkunde gegenüber jedermann bewiesen werden kann. Welche Angaben dies im einzelnen Fall sind, kann sich, wenn es an einer ausdrücklichen Vorschrift fehlt, mittelbar aus den gesetzlichen Bestimmungen ergeben, die für Errichtung und Zweck der Urkunde maßgeblich sind. Dabei ist auch die Anschauung des Rechtsverkehrs zu beachten. Bei der Prüfung, ob es hiernach gerechtfertigt ist, die erhöhte Beweiskraft der öffentlichen Urkunde auf eine darin angeführte Tatsache zu beziehen, muss ein strenger Maßstab angelegt werden. Eine Beweiswirkung für und gegen jedermann kann nur dann angenommen werden, wenn kein Zweifel besteht, dass dies unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung dem Sinn und Zweck des Gesetzes entspricht (BGHSt 42, 131 ff. = NJW 1996, 2170 f.; OLG Brandenburg NStZ- RR 2010, 12 f. = OLGSt StGB § 271 Nr. 1; StV 2009, 135; OLG Naumburg StV 2007, 134 f.).

b) Eine Verwirklichung des objektiven Tatbestandes des § 271 Abs. 1 StGB scheidet hier schon deshalb aus, weil der Angeklagte bereits nicht die Beurkundung eines unwahren Sachverhalts in einer öffentlichen Urkunde bewirkt hat.

aa) Die nach dem bundeseinheitlich vorgegebenen Vordruck (vgl. § 58 Satz 1 Nr. 13 i.V. m. Anlage D15 zur AufenthV) angefertigte 'Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers oder eines Staatsangehörigen eines EWR-Staates' enthält, bezogen auf die hier relevante Tatzeit in ihrer bis zum 31.08.2011 vorgegebenen Papierform auf Seite 2 Angaben zu Namen, Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort und Staatsangehörigkeit des Familienangehörigen, gefolgt von der Unterschrift des Karteninhabers. Auf Seite 3 befindet sich unterhalb des Lichtbildes des Inhabers der vorgedruckte Passus: "Die Inhaberin bzw. der Inhaber dieses Dokuments hat ihre bzw. seine Identität und Staatsangehörigkeit mit folgendem Identitätsdokument dargelegt", gefolgt von den hierauf bezogenen näheren Angaben zur Art des Identitätsdokuments mit Nummer, Ausstellungsdatum und Ausstellungsbehörde. Seite 4 der Aufenthaltskarte enthält Angaben zur zeitlichen Gültigkeit der Aufenthaltskarte (als unbefristet oder zu einem bestimmten Zeitpunkt endend), gefolgt von der Bezeichnung der ausstellenden Behörde. Die Seite schließt mit Datum und Unterschrift des für die ausstellende Behörde handelnden Sachbearbeiters. Die Seiten 5 und 6 enthalten lediglich noch Felder für Gültigkeitsverlängerungen.

bb) Zu all diesen auf der Aufenthaltskarte festgehalten Daten hat der Angeklagte gerade keine falschen Angaben gemacht, insbesondere nicht über seine Identität getäuscht. Soweit er anlässlich seiner Vorsprache beim Ausländeramt der Stadt D. am 18.03.2011 vorsätzlich jedenfalls die falsche Angabe gemacht hat, dass mit der bulgarischen Staatsangehörigen ... eine eheliche Lebensgemeinschaft bestehe, findet dies keinen Niederschlag in der ihm erteilten Aufenthaltskarte. Es kann deshalb dahin stehen, ob die falschen Angaben des Angeklagten zum Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft überhaupt zu denjenigen Umständen zu rechnen wären, denen aufgrund der erhöhten Beweiswirkung öffentlicher Urkunden öffentlicher Glaube zuzuerkennen wäre. [...]