VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 10.10.2013 - M 23 K 11.30474 - asyl.net: M21636
https://www.asyl.net/rsdb/M21636
Leitsatz:

Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG aufgrund glaubhaft gemachter Vorverfolgung durch Zwangsrekrutierung durch die Taliban in Afghanistan.

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, nichtstaatliche Verfolgung, Taliban, Kandahar, Zwangsrekrutierung, Bacha Bazi, minderjährig, interne Fluchtalternative, staatlicher Schutz,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Das Gericht ist auf der Grundlage des klägerischen Vortrags davon überzeugt, dass der Kläger in seinem Herkunftsland konkret von einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (Taliban) bedroht war. Das Gericht kann keine stichhaltigen Gründe für eine Widerlegung der gesetzlichen Vermutung erkennen. [...]

Entgegen der Auffassung des Bundesamtes waren die Einlassungen des Klägers keineswegs vage, sondern detailreich und ohne weiteres nachvollziehbar. Dass der damals 15-jahrige Kläger und sein 13-jähriger Bruder in einer Religionsschule der Stadt Kandahar nicht nur Koranunterricht erhielten, sondern auch als Selbstmordattentäter ausgebildet werden sollten, ist glaubhaft. Die Angaben des Klägers werden auch durch die aktuelle Auskunftslage gestützt. [...]

Für die Glaubwürdigkeit des Klägers spricht auch seine Einlassung, sein Bruder sei von dem Mullah gezwungen worden, für die "Gruppe des Lehrers, dort zu tanzen". Als sich sein Bruder einmal geweigert habe, sei dieser geschlagen worden. Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass der Bruder des Klägers mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für sogenannte Knabenspiele ("Bacha Bazi") missbraucht wurde. Die Zeit, als "Bachi" hinterlässt bei vielen schwere seelische Schäden. Das Stigma, einmal ein "Tanzknabe" gewesen zu sein, ist eine lebenslange Bürde. Es verwundert daher nicht, dass der Bruder des Klägers einen Selbstmordversuch unternahm und - wie der Bericht der Klinik für Kinderchirurgie vom 17. Februar 2011 belegt - er offenkundig einer Psychotherapie bedarf. [...]

Die Islamische Republik Afghanistan ist erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung der nichtstaatlichen Akteure zu bieten. Dies wäre dann der Fall, wenn der Staat geeignete Schritte eingeleitet hätte, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Kläger Zugang zu diesem Schutz hätte (vgl. Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG). [...]

Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass dem Kläger in einem anderen Landesteil kein ernsthafter Schaden drohen würde, könnte ihm nicht zugemutet werden, dass er sich dort - losgelöst von einem Familienverband und ohne reale Möglichkeit einer ausreichenden Existenzsicherung - niederlässt. Die Verweisung auf eine andere als die Herkunftsgegend oder die Heimat ist grundsätzlich nur dann zumutbar, wenn dorthin familiäre oder stammesbezogene Verbindungen bestehen (vgl. u. a. VG Ansbach, Urt. v. 3.3.2011 - AN 11 K 10.30475 - juris; VG Augsburg, Urt. v. 7.4.2011 - Au 6 K 10.30336 - juris). [...]