VGH Bayern

Merkliste
Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 18.03.2014 - 10 ZB 11.3006 - asyl.net: M22014
https://www.asyl.net/rsdb/M22014
Leitsatz:

Für welchen Aufenthaltszweck und für welche Aufenthaltsdauer eine Verpflichtungserklärung nach § 68 Abs. 1 Satz 1 und § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gelten soll, ist im Wege der Auslegung anhand objektiver Umstände in entsprechender Anwendung von § 133 und § 157 BGB konkret zu bestimmen. Die aus einer Verpflichtungserklärung resultierende Kostentragungspflicht bei der Familienzusammenführung endet mit der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, auch wenn diese nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt wurde.

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Familiennachzug, Aufenthaltszweck, Aufenthaltsdauer, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, familiäre Lebensgemeinschaft, Niederlassungserlaubnis, unabhängiges Aufenthaltsrecht, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Lebensunterhalt, Wechsel des Aufenthaltszwecks, Kindernachzug, Kostentragungspflicht,
Normen: AufenthG § 68 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 68 Ab. 2 S. 1, AufenthG § 35 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...] Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils leitet die Beklagte zunächst daraus ab, dass das Verwaltungsgericht bei der Auslegung der Verpflichtungserklärung zwar deren Zweck, die öffentlichen Kassen von Belastungen freizuhalten, richtig erkannt habe, diesen Zweck aber mit der Erteilung der Niederlassungserlaubnis als entfallen ansehe. Dies beruhe auf der unzutreffenden Annahme des Verwaltungsgerichts, mit der Erteilung der Niederlassungserlaubnis ende der ursprüngliche Aufenthaltszweck der Familienzusammenführung. § 35 AufenthG solle Antragsteller, denen als Minderjährigen eine Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft erteilt worden sei, bei der Verfestigung ihres Aufenthalts begünstigen. Die Vorschrift beruhe auf der Erwägung, dass bei ausländischen Kindern mit langjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet regelmäßig davon ausgegangen werden könne, dass diese sich dauerhaft in die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Ordnung der Bundesrepublik eingefügt hätten. Mit dieser dauerhaften Integration gehe jedoch weder eine Beendigung der familiären Bande einher, noch bestehe der ursprüngliche Zweck der Familienzusammenführung nicht mehr. Das Verwaltungsgericht argumentiere zu Unrecht mit der Systematik der gesetzlichen Bestimmungen. § 35 AufenthG befinde sich im Abschnitt 6 "Aufenthalt aus familiären Gründen" (§§ 27 bis 36 AufenthG) und gewähre damit zwar Kindern ein eigenständiges, unbefristetes Aufenthaltsrecht. Dies geschehe aber ausweislich der Abschnittsüberschrift aus familiären Gründen. Ohne die unzutreffende Annahme eines Wechsels des Aufenthaltszwecks wäre das Verwaltungsgericht aber nicht zu seiner der Klage stattgebenden Entscheidung gelangt. Das Urteil sei auch nicht aus einem anderen Grund richtig. Der Zweck des Familiennachzugs sei ungeachtet der familiären Auseinandersetzungen nicht entfallen. Die familiären Bande der Stieftochter zu ihrer Mutter bestünden trotz der auswärtigen Unterbringung der Stieftochter und der familiengerichtlichen Entscheidung fort, mit der der allein sorgeberechtigten Mutter das Recht der Aufenthaltsbestimmung, der Gesundheitsfürsorge und der Beantragung von Sozialleistungen entzogen worden sei.

Mit diesen Ausführungen stellt die Beklagte jedoch keinen tragenden Rechtssatz des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage.

Für welchen Aufenthaltszweck und für welche Aufenthaltsdauer eine Verpflichtungserklärung nach § 68 Abs. 1 Satz 1 und § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gelten soll, ist im Wege der Auslegung anhand objektiver Umstände in entsprechender Anwendung von § 133 und § 157 BGB konkret zu bestimmen (vgl. BVerwG, U.v. 24.11.1998 – 1 C 33.97 – juris Rn. 29 und 34 zu Verpflichtungserklärungen nach der gleichlautenden Regelung des § 84 AuslG). Auf die Geltungsdauer der Aufenthaltsgenehmigung kommt es dabei zwar grundsätzlich ebenso wenig an wie auf die rechtliche Grundlage und nähere Ausgestaltung des Aufenthalts. Die Unterhaltsverpflichtung erstreckt sich grundsätzlich auch auf Zeiträume illegalen Aufenthalts einschließlich der Dauer einer etwaigen Abschiebung. Sie endet aber, wenn sie nicht ausdrücklich befristet ist, nach Maßgabe der Auslegung im Einzelfall mit dem Ende des vorgesehenen Aufenthalts oder dann, wenn der ursprüngliche Aufenthaltszweck durch einen anderen ersetzt und dies aufenthaltsrechtlich anerkannt worden ist (BVerwG a.a.O. Rn. 34).

Nach diesen Maßstäben ist das Verwaltungsgericht aber zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Verpflichtungserklärung des Klägers Kosten nicht erfasst, die nach Erteilung der am 9. April 2009 ausgehändigten Niederlassungserlaubnis ab 13. September 2010 im Rahmen der Jugendhilfemaßnahme zugunsten seiner Stieftochter für deren Lebensunterhalt angefallen sind.

a) Die Verpflichtungserklärung des Klägers erstreckt sich auf die gesamte Dauer, während der sich die Stieftochter zum Zweck des Familiennachzugs im Bundesgebiet aufhält. Denn die Verpflichtungserklärung musste von ihrem Empfänger nach den für ihn erkennbaren Umständen so verstanden werden, dass der Kläger sich verpflichten wollte, den Lebensunterhalt seiner Stieftochter während der Dauer eines solchen Aufenthalts zu tragen. Dies ergibt sich bereits aus der Formblatterklärung des Klägers vom 19. September 2001, in der er sich für die "Einreise zum Zweck der Eheschließung bzw. Familiennachzug" verpflichtet, die Kosten des Lebensunterhalts nach § 84 AuslG zu tragen. Denn danach soll die Erklärung nicht nur den Lebensunterhalt für die Zeit bis zur Heirat zwischen dem Kläger und der Mutter seiner Stieftochter, sondern auch den Lebensunterhalt während des anschließenden Aufenthalts zum Familiennachzug umfassen. Dies bestätigt das Schreiben des Klägers vom 18. September 2001, dessen Betreff "Einladung zwecks Heirat und Daueraufenthalt in der BRD" lautet und in dem der Kläger erklärt, dass die Einreise seiner künftigen Ehefrau und ihrer Kinder Anfang 2002 auf Dauer erfolgen solle und er die Haftung für die Kosten des Lebensunterhalts gemäß § 84 AuslG übernehme. Denn auch danach war es erkennbar Zweck der Verpflichtungserklärung des Klägers, nicht nur seiner Verlobten die Einreise zur Eheschließung, sondern ihr und ihren Kindern auch das dauerhafte familiäre Zusammenleben mit dem Kläger in der Bundesrepublik zu ermöglichen.

b) Das Verwaltungsgericht ist darüber hinaus entgegen der Auffassung der Beklagten zutreffend davon ausgegangen,das die durch die Verpflichtungserklärung des Klägers begründete Kostentragungspflicht mit der Erteilung der Niederlassungserlaubnis an seine Stieftochter im April 2009 geendet hat. Denn dadurch ist der ursprüngliche Aufenthaltszweck durch einen anderen ersetzt und dies gleichzeitig rechtlich anerkannt worden.

aa) Ursprünglicher Zweck des Aufenthalts der Stieftochter des Klägers war es, die familiäre Lebensgemeinschaft mit ihrer Mutter zu wahren, die sich ihrerseits zur Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit dem Kläger in Deutschland aufhielt. An die Stelle dieses Zwecks ist aber mit der Erteilung der Niederlassungserlaubnis an die Stieftochter des Klägers nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein anderer Aufenthaltszweck getreten. Denn nach § 34 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 Satz 1 AufenthG entsteht mit der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an ein Kind, das sich zum Zweck des Familiennachzugs in Deutschland aufhält, ein eigenständiges, vom Familiennachzug unabhängiges Aufenthaltsrecht. Dieses Aufenthaltsrecht dient damit aber unabhängig davon, ob die familiäre Lebensgemeinschaft fortbesteht, nicht mehr dem ursprünglichen Zweck der Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft, sondern dem Zweck eines eigenständigen Daueraufenthalts (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2005 – 24 B 04.2951 – juris Rn. 31), der vom Zweck der Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft unabhängig ist und andere Aufenthaltszwecke mitumfasst (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: September 2013, § 34 AufenthG Rn. 14 und 16).

Dem steht auch nicht entgegen, dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Abschnitt 6 "Aufenthalt aus familiären Gründen" geregelt ist. Denn dies erklärt sich daraus, dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach dieser Vorschrift an einen minderjährigen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt und im Zeitpunkt der Vollendung seines 16. Lebensjahres seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis ist, an den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen anknüpft. Aus der Aufnahme von § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in den Abschnitt "Aufenthalt aus familiären Gründen" kann vor diesem Hintergrund aber entgegen der Ansicht der Beklagten nicht geschlossen werden, dass es sich bei der nach dieser Regelung erteilten Niederlassungserlaubnis um einen an den Zweck der Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft gebundenen Aufenthaltstitel handelt. Denn der Gesetzgeber stellt in § 34 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ausdrücklich klar, dass es sich bei dem mit der Niederlassungserlaubnis verliehenen Aufenthaltsrecht um ein vom Familiennachzug unabhängiges eigenständiges Aufenthaltsrecht handelt.

bb) Damit ist aber durch die Erteilung der Niederlassungserlaubnis an die Stieftochter des Klägers nicht nur der ursprüngliche Aufenthaltszweck des Familiennachzugs durch den davon unabhängigen Zweck eines eigenständigen Aufenthalts ersetzt worden. Vielmehr hat der Wechsel des Aufenthaltszwecks durch die Erteilung der Niederlassungserlaubnis auch die erforderliche aufenthaltsrechtliche Anerkennung gefunden. [...]