EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 10.07.2014 - C-138/13, Dogan gg. Deutschland (ASYLMAGAZIN 7-8/2014, S. 263 f.) - asyl.net: M22072
https://www.asyl.net/rsdb/M22072
Leitsatz:

Redaktionelle Vorbemerkung:

Die Familienzusammenführung vom Vorliegen deutscher Sprachkenntnisse abhängig zu machen, widerspricht der Stillhalteklausel des Zusatzprotokolls des Assoziationsratsbeschlusses und ist unverhältnismäßig:

"Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 über den Abschluss des Zusatzprotokolls und des Finanzprotokolls, die am 23. November 1970 unterzeichnet wurden und dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei als Anhänge beigefügt sind, und über die zu deren Inkrafttreten zu treffenden Maßnahmen im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, ist dahin auszulegen, dass die darin enthaltene Stillhalteklausel einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen wollen, vor der Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ehegattennachzug, Familienzusammenführung, Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, Stillhalteklausel, Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, türkische Staatsangehörige, Zwangsehe, Integration, Deutschkenntnisse, deutsche Sprachkenntnisse, Sprachkenntnisse, Sprachtest, Dogan
Normen: AufenthG § 2 Abs. 8, AufenthG § 27 Abs. 1, AufenthG § 30, ZP Art. 41 Abs. 1, RL 2003/86/EG Art. 7 Abs. 2 UAbs. 1,
Auszüge:

[...]

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene Stillhalteklausel einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen wollen, vor der Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel nach ständiger Rechtsprechung allgemein die Einführung neuer Maßnahmen verbietet, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder des freien Dienstleistungsverkehrs durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn galten, als das Zusatzprotokoll in Bezug auf den betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat (Urteil Dereci u. a., C-256/11, EU:C:2011:734, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Es ist auch anerkannt worden, dass diese Bestimmung von dem Zeitpunkt an, zu dem der Rechtsakt, dessen Bestandteil diese Bestimmung ist, im Aufnahmemitgliedstaat in Kraft getreten ist, neuen Beschränkungen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit einschließlich solchen entgegensteht, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats betreffen, die dort von diesen wirtschaftlichen Freiheiten Gebrauch machen wollen (Urteil Oguz, C-186/10, EU:C:2011:509, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Schließlich kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Stillhalteklausel, sei es unter Anknüpfung an die Niederlassungsfreiheit oder den freien Dienstleistungsverkehr, nur im Zusammenhang mit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit die Voraussetzungen für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und ihren dortigen Aufenthalt betreffen (Urteil Demirkan, C-221/11, EU:C:2013:583, Rn. 55).

Im vorliegenden Fall steht fest, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Bestimmung nach dem 1. Januar 1973, dem Tag, an dem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat, eingeführt wurde und dass sie die Voraussetzungen, die vorher für die Aufnahme der Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden Ausländern im Rahmen der Familienzusammenführung galten, verschärft und eine solche Zusammenführung folglich erschwert.

Der Vorlageentscheidung ist außerdem zu entnehmen, dass Frau Dogan nicht in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einreisen will, um dort von dem freien Dienstleistungsverkehr oder der Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, sondern um zu ihrem dort wohnenden Ehemann zu ziehen und mit ihm ein Familienleben zu führen.

Schließlich ergibt sich aus der Vorlageentscheidung auch, dass Herr Dogan ein türkischer Staats - angehöriger ist, der seit 1998 in dem betreffenden Mitgliedstaat wohnt und als Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Mehrheitsgesellschafter er ist, über Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil Asscher, C-107/94, EU:C:1996:251, Rn. 26). Die Situation von Herrn Dogan fällt somit unter die Niederlassungsfreiheit.

Daher ist im Ausgangsverfahren die Frage der Vereinbarkeit der fraglichen nationalen Bestimmung mit der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls im Hinblick auf die Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch Herrn Dogan zu analysieren.

Es ist deshalb zu prüfen, ob im Rahmen der Familienzusammenführung die Einführung einer neuen Regelung, mit der die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten von in einem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen im Vergleich zu denjenigen verschärft werden, die galten, als das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat, eine "neue Beschränkung" der Niederlassungsfreiheit dieser türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls darstellen kann.

Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass die Familienzusammenführung ein unerlässliches Mittel zur Ermöglichung des Familienlebens türkischer Erwerbstätiger ist, die dem Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten angehören, und sowohl zur Verbesserung der Qualität ihres Aufenthalts als auch zu ihrer Integration in diesen Staaten beiträgt (vgl. Urteil Dülger, C-451/11, EU:C:2012:504, Rn. 42).

Auf die Entscheidung eines türkischen Staatsangehörigen, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, um dort dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, kann es sich nämlich negativ auswirken, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Familienzusammenführung erschweren oder unmöglich machen und sich der türkische Staatsangehörige deshalb unter Umständen zu einer Entscheidung zwischen seiner Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat und seinem Familienleben in der Türkei gezwungen sehen kann.

Daher stellt eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als das Zusatzprotokoll in Kraft trat, eine "neue Beschränkung" der Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch diese türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dar.

Schließlich ist festzustellen, dass eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, als sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten, verboten ist, sofern sie nicht durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet ist, die Erreichung des angestrebten legitimen Ziels zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht (vgl. entsprechend Urteil Demir, C-225/12, EU:C:2013:725, Rn. 40).

Auch wenn man davon ausgeht, dass die von der deutschen Regierung angeführten Gründe – die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und die Förderung der Integration – zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen können, geht eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche über das hinaus, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist, da der fehlende Nachweis des Erwerbs hinreichender Sprachkenntnisse automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung führt, ohne dass besondere Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden.

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene Stillhalteklausel einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen wollen, vor der Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben. [...]