OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.06.2014 - 11 B 13.14 - asyl.net: M22352
https://www.asyl.net/rsdb/M22352
Leitsatz:

Keine Verpflichtung zur Erteilung eines Besuchsvisums, wenn die Rückkehrbereitschaft in der gegebenen Konstellation eines zugleich beabsichtigten Daueraufenthaltes nicht nachgewiesen ist.

Schlagwörter: Visakodex, Schengen-Visum, Besuchsvisum, Rückkehrbereitschaft, Familiennachzug, Glaubhaftmachung, begründete Zweifel,
Normen: VO 810/2009 Art. 23 Abs. 4, VO 810/2009 Art. 21, VO 810/2009 Art. 32 Abs. 1, VO 810/2009 Art. 25,
Auszüge:

[...]

1. Nach Art. 23 Abs. 4 i.V.m. Art. 21 und 32 Abs. 1 VK setzt die Erteilung eines einheitlichen Visum für das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten voraus, dass der Antragsteller in materieller Hinsicht die Einreisevoraussetzungen erfüllt und kein Versagungsgrund vorliegt. Die Auslandsvertretung hat dabei insbesondere zu prüfen, ob beim Antragsteller das Risiko der rechtswidrigen Einwanderung besteht, ob er eine Gefahr für die Mitgliedsstaaten darstellt und ob er beabsichtigt, vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums das Hoheitsgebiet wieder zu verlassen. Gemäß Art. 32 Abs. 1 lit. b) VK ist das Visum zu verweigern, wenn "begründete Zweifel an … der bekundeten Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen".

Wie schon der gesetzliche Wortlaut belegt, ist es dabei für die zuständigen Behörden nicht erforderlich, insoweit "Gewissheit zu erlangen", vielmehr genügen "begründete Zweifel" an der bekundeten fristgerechten Verlassensabsicht (EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2013 – C-84/12, Rs. Koushkaki, juris Rz. 68). Zu diesem Zweck bedarf es einer individuellen Prüfung des Antrags, die die allgemeinen Verhältnisse im Wohnsitzstaat des Antragstellers und seine persönlichen Verhältnisse, insbesondere seine familiäre, soziale und wirtschaftliche Situation, etwaige frühere rechtmäßige oder rechtswidrige Aufenthalte in einem Mitgliedsstaat sowie seine Bindungen im Wohnsitzstaat und in den Mitgliedsstaaten berücksichtigt. Gemäß Art 21 Abs. 1 VK ist dabei insbesondere zu beurteilen, wie hoch das Risiko der rechtswidrigen Einwanderung ist. Dabei obliegt es dem Antragsteller gemäß Art. 14 Abs. 1 lit. d) VK, geeignete Angaben zu machen und deren Glaubhaftigkeit durch sachdienliche und vertrauenswürdige Unterlagen nachzuweisen, um Zweifel an seiner rechtzeitigen Rückkehrabsicht zu entkräften (EuGH, a.a.O., Rz. 69 ff.).

Auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen ist somit unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine umfassende Risikobewertung bzw. einzelfallbezogene Gesamtbetrachtung hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer nicht rechtzeitigen Ausreise oder rechtswidrigen Einwanderung, der Schwere der mit einer illegalen Immigration verbundenen Gefahren und des Schutzes von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCH vorzunehmen (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Juni 2010 - OVG 2 B 16.09 -, juris Rz. 31). Anhaltspunkte, d.h. äußere Umstände, die den Rückkehrwillen als innere Tatsache zu belegen geeignet sind, lassen sich dabei aus Art. 14 Abs. 1 lit. d) i.V.m. Abs. 3 und Anhang II VK entnehmen. Dazu gehören beispielsweise die Buchung eines Rückreisetickets, der Nachweis finanzieller Mittel, eines Arbeitsverhältnisses und von Immobilienbesitz sowie die sonstige Eingliederung in den Wohnsitzstaat einschließlich dortiger familiärer Bindungen.

Auf dieser Grundlage bestehen begründete Zweifel an der rechtzeitigen Rückkehrbereitschaft der Kläger im Falle der Erteilung von Besuchsvisa durch die Beklagte. Denn angesichts der vorliegenden äußeren Umstände ist die Prognose ihres Missbrauchs zum Zweck der Erreichung dauerhaften Zuzugs zu den in Deutschland lebenden Kindern gerechtfertigt.

Hierfür spricht zunächst der Umstand, dass die Kläger vor Beantragung der streitgegenständlichen Besuchsvisa den dauerhaften Familiennachzug zu ihren hier lebenden Kindern beantragt hatten und dieses Begehren durch die Beklagte mangels entsprechenden Anspruchs nicht allzu lang zuvor abgelehnt worden war. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der von den Klägern hierfür benannte Grund des begehrten Familiennachzugs, nämlich deren Darstellung, dass sie aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands in Zukunft dauerhaft auf die Pflege und Betreuung ihrer in Deutschland lebenden Kinder angewiesen seien und in der Türkei niemanden hätten, insbesondere keine Kinder, die sich um sie kümmern könnten. Dass sich an dieser - deren Richtigkeit unterstellt - nachvollziehbaren persönlichen (Zwangs)Situation der Kläger zwischenzeitlich etwas geändert hätte, diese mithin bei Stellung der Anträge auf Erteilung von Besuchsvisa bzw. jedenfalls im heutigen Zeitpunkt wieder entfallen wäre, haben die Kläger schon nicht dargelegt. Dafür gibt es auch keinerlei Anhaltspunkte, handelt es sich bei den geschilderten und durch Atteste belegten gesundheitlichen Beeinträchtigungen der inzwischen 76- bzw. 68-jährigen Kläger doch um solche, die chronisch sind und sich im - noch weiter - fortschreitenden Alter regelmäßig zumindest nicht verbessern.

Ist somit von einem fortdauernden Grund für einen Familiennachzug nach Deutschland auszugehen, ist es unerheblich, dass die Kläger, nachdem sie ihr diesbezügliches Begehren zunächst parallel mit dem hier streitgegenständlichen Besuchsvisumsverfahren im Klagewege fortgeführt und damit zu erkennen gegeben haben, dass sie weiterhin auch den dauerhaften Familiennachzug zu ihren Kindern nach Deutschland begehren, diese Klage später - mit Schriftsatz vom 27. Juni 2012 - zurückgenommen haben. Im Übrigen lässt die hierfür gegebene Begründung, man sei angesichts der Dauer des Verfahrens "müde geworden, sich weiteren Untersuchung zu unterziehen", zumindest nicht zwingend den Schluss zu, das Familiennachzugsbegehren sei tatsächlich aufgegeben worden, war doch noch relativ kurz zuvor durch ihren Verfahrensbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung ein Beweisantrag auf Einholung eines ärztlichen Gutachtens zu ihrer Pflegebedürftigkeit gestellt worden und hatte das Verwaltungsgericht einen entsprechenden Beschluss zur Begutachtung in Istanbul, d.h. an ihrem Wohnort, gefasst und nach Übersetzung sogar schon einen entsprechenden Auftrag gegeben. Insoweit erscheint ein "taktisch" begründeter Verzicht hierauf jedenfalls als nicht fernliegend.

Hatte sich mithin durch das zwischenzeitliche erfolglose Familiennachzugsbegehren der Kläger und insbesondere die hierfür gegebene Begründung, auf die häusliche Betreuung und Pflege durch ihre in Deutschland lebenden Kindern zwingend angewiesen zu sein, da sie in ihrer Heimat allein lebten und entsprechende Hilfe nicht erlangen könnten, die Situation gegenüber früheren Besuchsbegehren und hiesigen Aufenthalten grundlegend verändert, können sich die Kläger nicht mit Erfolg darauf berufen, sie hätten durch ihre rechtzeitigen Ausreisen nach früheren Besuchsaufenthalten hinreichend belegt, dass sie auch nach einer erneuten Einreise mit einem Besuchsvisum wieder fristgerecht in ihre Heimat zurückkehren würden. Denn diese veränderten Umstände geben objektiv hinreichenden Anlass, anders als früher nunmehr an einer Rückkehrabsicht der Kläger zu zweifeln und aus dem Verhalten bei vergangenen Besuchsaufenthalten keine gegenteilige Schlussfolgerung zu ziehen.

Ein widersprüchliches Verhalten der Beklagten im Verfahren auf Erteilung von Besuchsvisa im Vergleich zu dem auf Erteilung von Familiennachzugsvisa vermag der Senat entgegen der Auffassung der Kläger nicht zu erkennen. Das ergibt sich schon daraus, dass die Beklagte die Verweigerung der Besuchsvisa überhaupt nicht auf die wegen des Alters der Kläger zunehmende Gefahr der Betreuungsbedürftigkeit gestützt hat, sondern darauf, dass die vorgelegten Informationen über den Zweck und die Bedingungen des beabsichtigten Aufenthalts nicht glaubhaft seien, und dass die Absicht, vor Ablauf des Visums aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten auszureisen, nicht habe festgestellt werden können. Damit hat es inhaltlich deutlich gemacht, dass es begründete Zweifel an der Rückkehrabsicht der Kläger hatte. Darauf hat sich die Beklagte zudem jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zu Recht berufen.

Im Rahmen der erforderlichen einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung des Missbrauchsrisikos von Besuchsvisa durch die Kläger war hinsichtlich ihrer familiären und sozialen Situation ferner zu berücksichtigen, dass sie schon zur Klagebegründung vorgetragen haben, all ihre Kinder lebten in Deutschland, in der Türkei hätten sie niemand, der sich um sie kümmern könne. Bestehen aber familiäre Bindungen an ihre Heimat nicht, leben ihre Kinder vielmehr durchweg dauerhaft in Deutschland, kann jedenfalls von einer familiären Verwurzelung in ihrer Heimat, die ihren Rückkehrwillen nachvollziehbar machen könnte, nicht ausgegangen werden. Auch ein berufliches Rückkehrinteresse haben die Kläger - nach ihren Angaben im Visumsantrag ist er Rentner und sie Hausfrau - ersichtlich nicht.

Ein wirtschaftliches Rückkehrinteresse der Kläger von maßgeblichem Gewicht ist ebenfalls nicht dargelegt. Seine türkische Rente kann der Kläger zu 1. jedenfalls über einen Bevollmächtigten in der Türkei erhalten. Das in der Türkei vorhandenes Immobilieneigentum (Wohnung und Acker in Istanbul) der Kläger rechtfertigt ebenfalls keine andere Beurteilung. Denn - abgesehen von den bestehenden Möglichkeiten der Eigennutzung jedenfalls der Wohnung durch ihre Kinder und deren Familien bei Besuchsaufenthalten in Istanbul - erscheint die wirtschaftliche Nutzung dieses Vermögens durch Vermietung oder Verpachtung bzw. die Verwertung mittels Veräußerung nicht fernliegend, so dass eine diesbezügliche Verwurzelung leicht lösbar ist. Im Übrigen haben die Kläger bereits durch ihr Familiennachzugsbegehren hinreichend deutlich gemacht, dass sie dem Immobilienbesitz in ihrer Heimat bzw. den dortigen sonstigen wirtschaftlichen Bindungen, wie etwa dem dortigen Rentenbezug, oder den anderweitigen Bindungen an ihr Herkunftsland keine entscheidende Bedeutung für einen Verbleib in der Türkei beimessen.

Gegen einen dauerhaften Verbleib in Deutschland spricht auch nicht der Umstand, dass ihnen in Deutschland keinerlei oder jedenfalls nicht hinreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stünden. Denn die Kläger haben mit Schriftsätzen vom 11. Oktober 2010 und vom 3. Februar 2012 im Rahmen des Familiennachzugsbegehrens ausdrücklich erklärt, ihr Lebensunterhalt wäre im Falle der Übersiedlung nach Deutschland durch Abgabe entsprechender Verpflichtungserklärungen ihrer Kinder gesichert. Ob die erwähnte türkische Rente des Klägers zu 1. sowie eventuelle Einnahmen aus der Nutzung und/oder Verwertung des genannten Immobilienbesitzes hierfür ausreichen würden, kann unter diesen Umständen dahinstehen.

Eine andere Beurteilung ist auch nicht im Hinblick auf das Vorbringen der Kläger in der mündlichen Verhandlung geboten, im Falle des Missbrauchs ihrer Besuchsvisa sei für sie in Deutschland "ein rechtmäßiger Aufenthalt" nicht zu erlangen. Denn das schließt das Missbrauchsrisiko bzw. eine entsprechende Absicht jedenfalls nicht von vornherein aus. Im Übrigen erscheint nicht fernliegend, dass auch im Ergebnis auf diesem Wege hier ein zumindest verlängerter Verbleib erreicht werden kann. Insoweit wird auf die Regelung in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bzw. darauf verwiesen, dass Ausländer nach Einreise mit Besuchsvisa nicht selten über Asylanträge oder über das Geltendmachen von Abschiebungshindernissen, etwa aus gesundheitlichen Gründen, zumindest zeitweise einen weitergehenden Verbleib erreichen.

Soweit das Verwaltungsgericht ausführt, gegen einen Missbrauch der Besuchsvisa spreche ferner, dass die Kläger die in ihrer Heimat gesicherte Existenz nicht für eine aufenthaltsrechtlich ungesicherte Situation in Deutschland aufgeben würden, werden schon keine Anhaltspunkte benannt, woraus das Gericht dies ableitet. Letztlich ist diese Erwägung als bloße Mutmaßung anzusehen, die darüber hinaus aber auch nicht von maßgeblichem Gewicht erscheint.

Zur Glaubhaftmachung ihres Rückkehrwillens in ihre Heimat haben die Kläger auch sonst nichts vorgetragen oder glaubhaft gemacht. Im Übrigen sind sie der mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung unter Fristsetzung erfolgten gerichtlichen Auflage zur Darlegung und zum Nachweis ihres aktuellen Gesundheitszustands bzw. der derzeitigen insbesondere wirtschaftlichen und sozialen Bindungen in ihrer Heimat nicht nachgekommen. Ob ihnen ein getrennter und zeitlich gestaffelter Besuchsaufenthalt möglich und zumutbar wäre, kann unter diesen Umständen dahinstehen.

Der durch Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh gewährte Schutz der Familie gebietet keine andere Risikobewertung, da nicht dargelegt oder ersichtlich ist, dass der Kontakt der Kläger zu ihren Kindern und deren Familien nicht durch Besuche dieser in Istanbul bzw. mittels Telefon, Internet/Skype, Briefe etc. gepflegt werden kann.

Nach alledem kann dahinstehen, ob der Auslandsvertretung der Beklagten, wie im Rahmen der mündlichen Verhandlung nur noch geltend gemacht worden ist, hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzung der "begründeten Zweifel" an der rechtzeitigen Verlassensabsicht eines Antragstellers für ein Schengen-Visum ein gerichtlich nicht in vollem Umfang nachprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht.

2. Die Kläger besitzen auch keinen Anspruch auf ein Visum mit beschränkter Gültigkeit nur für das deutsche Hoheitsgebiet gemäß Art. 25 VK.

Der Erteilung eines derartigen Besuchsvisums, das im Antrag auf Erteilung eines Schengen-Visums als Minus mit enthalten ist (BVerwG, a.a.O., Rz. 28), stehen die Verweigerungsgründe in Art. 32 VK - und damit auch das Vorliegen begründeter Zweifel an der rechtzeitigen Verlassensabsicht nach dessen Absatz 1 lit. b) - , wie dessen Wortlaut "Unbeschadet des Art. 25 Absatz 1 …" belegt, zwar nicht entgegen, wenn es der betreffende Mitgliedsstaat etwa aus humanitären Gründen wegen besonderer familiärer Bindungen für erforderlich hält, vom Vorliegen der Einreisevoraussetzungen, wozu auch die Verhinderung illegaler Einwanderungen zählt, abzuweichen. Das kommt allerdings bei Vorliegen begründeter Zweifel an der Rückkehrwilligkeit des Ausländers nur in Ausnahmefällen im Rahmen einer einzelfallbezogenen Abwägung in Betracht (BVerwG, a.a.O., Rz. 28 ff.).

Ein solcher Ausnahmefall, der die Erteilung eines Besuchsvisums gemäß Art. 25 VK trotz der festgestellten begründeten Zweifel an der Rückkehrabsicht der Kläger zulässt, ist hier weder dargelegt noch ersichtlich. Insbesondere ist die Ablehnung auch vor dem Hintergrund nicht unverhältnismäßig, dass diese nicht zwingend auf einen Besuch ihrer Kinder und deren Familien in Deutschland angewiesen sind, da der Kontakt zu ihnen, wie oben dargelegt (Besuche durch diese in Istanbul, Telefon, Internet/Skype, Briefe etc.), auch auf anderem Wege aufrechterhalten werden kann. [...]