LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.02.2015 - L 20 AY 69/14 B - asyl.net: M22679
https://www.asyl.net/rsdb/M22679
Leitsatz:

Besteht bei einer Unterbleiben der Therapie einer chronischen Erkrankung die Gefahr einer lebensbedrohlichen Folgeerkrankung, so besteht ein Anspruch auf Behandlung gem. § 6 Abs. 1 AsylbLG.

Schlagwörter: ärztliche Behandlung, medizinische Behandlung, medizinische Versorgung, Asylbewerberleistungsgesetz, chronische Erkrankung, Folgeerkrankung, akute Erkrankung, Krankheit, sonstige Leistungen, Sicherung der Gesundheit, Hepatitis C, Hepatitis,
Normen: AsylbLG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylbLG § 6 Abs. 1,
Auszüge:

[…]

a) Nach § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG sind zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände u.a. die erforderliche ärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewähren.

Unter einer akuten Erkrankung versteht man einen unvermutet auftretenden, schnell und heftig verlaufenden, regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, der aus medizinischen Gründen der ärztlichen Behandlung bedarf. Es bedarf deshalb einer Abgrenzung ggf. leistungsauslösender akuter gegenüber nicht akuten und damit chronischen Erkrankungen; Letztere werden nicht von § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG erfasst. Diese Abgrenzung hat nach medizinischen Kriterien und ggf. unter Zuhilfenahme medizinischen Sachverstandes stattzufinden. Unter einem Schmerzzustand versteht man einen mit einer aktuellen oder potentiellen Gewebeschädigung verknüpften, unangenehmen Sinnes- und Gefühlszustand, der aus medizinischen Gründen der ärztlichen Behandlung bedarf (siehe zum Vorstehenden das Urteil des Senats vom 06.05.2013 - L 20 AY 145/11 m.w.N.). Vieles spricht dafür, dass ein Anspruch auf Leistungen für die Behandlung von Schmerzzuständen nach § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG (anders als bei Erkrankungen) auch dann besteht, wenn es sich um einen chronischen Zustand handelt (so etwa Hohm, GK-AsylbLG, § 4 Rn. 30 f.); im Übrigen sind Leistungen auch bei (akuten) Schmerzzustände zu erbringen, die auf chronische Erkrankungen zurückgehen (so Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Auflage 2014, § 4 AsylbLG Rn. 14).

Insofern bedarf es bei summarischer Prüfung genauerer medizinischer Ermittlungen des Sozialgerichts, ob akute Schmerzzustände des Klägers aufgrund seiner Hepatitis-C-Erkrankung - sofern solche Schmerzzustände medizinisch nachvollziehbar erscheinen - zu ihrer Behandlung zugleich zwingend einer Behandlung der chronischen Grunderkrankung bedürfen. In diesem Fall könnte die Behandlung der Schmerzen mit der Behandlung der Hepatits C zusammenfallen, so dass ein Anspruch auf Leistungen nach § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG möglich erschiene.

b) Sollte dies - wofür einiges sprechen mag - nicht der Fall sein, könnte sich ein Anspruch des Klägers auf Behandlung der Hepatitis C zwar nicht aus § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG, jedoch aus § 6 Abs. 1 AsylbLG ergeben.

Danach können sonstige Leistungen (also Leistungen neben den §§ 3 bis 5 AsylbLG) insbesondere u.a. dann gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind. Die Vorschrift bildet eine leistungsrechtliche Auffangvorschrift im Sinne einer Öffnungsklausel mit dem Ziel, den unterschiedlichen Lebenssachverhalten und der nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20. Abs. 1 GG gebotenen Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Einzelfall gerecht zu werden. Zur Unerlässlichkeit der in Rede stehenden Maßnahme kommt es darauf an, ob der geltend gemachte Bedarf nach medizinischen Maßstäben unverzüglich und noch während des voraussichtlichen Aufenthalts des Ausländers in Deutschland zu decken ist (Frerichs in jurisPK-AsylbLG, § 6 Rn. 57 ff.). Vor dem Hintergrund der von § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG erfassten Fallgestaltungen können dabei nicht nur Maßnahmen zur Beseitigung akuter Krankheitszustände in Betracht kommen, sondern auch und gerade solche, die unabhängig von der aktuellen Situation den Gesundheitszustand erhalten bzw. eine Verschlechterung verhindern sollen (Urteil des Senats a.a.O. m.w.N.).

Der Kläger macht insoweit geltend, dass bei unterbleibender Therapie seiner Hepatitis C lebensbedrohliche Folgeerkrankungen (Leberzirrhose, Leberkrebs) drohen. Sollte dies - was das Sozialgericht bei Zweifeln durch weitere Ermittlungen ggf. zu klären hätte – zutreffen, erschiene es keineswegs ausgeschlossen, dass dem Kläger ein Anspruch auf Behandlung seiner Erkrankung nach § 6 Abs. 1 AsylbLG zusteht; zumindest bedürfte dies einer grundsätzlichen rechtlichen Klärung (vgl. zum Aspekt einer eventuellen gefährlichen Folgeerkrankung auch das Urteil des Senats a.a.O. Rn. 67). Zwar eröffnet § 6 Abs. 1 S. 1 AsylbLG auf Rechtsfolgenseite einen Ermessensspielraum des Leistungsträgers. Offen bleiben kann, ob es sich dabei von vornherein nur um ein Auswahl- oder auch um ein Entschließungsermessen handelt (vgl. dazu einerseits Wahrendorf a.a.O., § 6 AsylbLG Rn. 8, und andererseits Frerichs a.a.O., Rn. 38 - beide m.w.N.). Unbeschadet dessen, dass von der Beklagten (die § 6 AsylbLG nicht ihre Überlegungen einbezogen hat) von vornherein kein Ermessen ausgeübt wurde, könnte sowohl ein (etwaiges) Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen bei einer nicht unwahrscheinlichen lebensbedrohlichen Folgeerkrankung auf Null reduziert sein; das Sozialgericht wird dies ggf. zu prüfen haben. [...]