VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 13.02.2015 - 2 K 3657/14 (= ASYLMAGAZIN 4/2015, S. 131 f.) - asyl.net: M22693
https://www.asyl.net/rsdb/M22693
Leitsatz:

Bei Untätigkeit der Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in einem Asylfolgeverfahren ist das Verwaltungsgericht nicht gehindert durchzuentscheiden. § 75 VwGO gilt uneingeschränkt auch bei asylrechtlichen Klagen.

Einer Person, die der jesidischen Glaubensgemeinschaft zugehört, ist im Falle ihrer Rückkehr nach Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung wegen seiner Religionszugehörigkeit ausgesetzt.

Schlagwörter: Untätigkeitsklage, Streitigkeit nach dem Asylverfahrensrecht, Irak, Yeziden, nichtstaatliche Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, ISIS, IS, Islamischer Staat, Nordirak, Asylfolgeantrag, Durchentscheiden, Änderung der Sachlage, Spruchreife,
Normen: VwGO § 75, AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

A. Die Klage ist als Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO zulässig. Danach ist eine Klage nach Ablauf von drei Monaten seit dem Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts zulässig, wenn von der Behörde ohne einen zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Über den Asylfolgeantrag des Klägers vom 20.6.2014 hat die Beklagte ohne zureichenden Grund bis zum Ende der mündlichen Verhandlung nicht entschieden. Der bloße Verweis der Beklagten auf die derzeitige Arbeitsbelastung des Bundesamtes reicht nicht als zureichender Grund aus. Denn bei einer permanenten Überlastung bestimmter Behörden ist ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung eines Antrags im Sinne von § 75 Satz 3 VwGO grundsätzlich nicht anzunehmen, da es in einem solchen Fall Aufgabe des zuständigen Bundesministeriums bzw. der Behördenleitung ist für hinreichenden Ersatz zu sorgen oder entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 30.10.2014 - 24 K 992/14.A -, juris). Das Bundesamt hat sich zudem nicht zum Vorliegen eines ein Abweichen von diesem Grundsatz rechtfertigenden Grundes für die verzögerte Bearbeitung und Entscheidung geäußert.

Die Klage ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt (teilweise) unzulässig, dass der Kläger mit seinem Antrag nicht nur die Verpflichtung der Behörde, seinen Folgeantrag endlich zu verbescheiden, geltend macht, sondern eine Durchentscheidung im Hinblick auf sein materielles Begehren (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) anstrebt. Das Gericht sieht sich auch angesichts der Besonderheiten des Asylverfahrens nicht gehindert, in der Sache durchzuentscheiden. Im Einklang mit der von der Beklagten in ihrer Klageerwiderung selbst vertretenen Rechtsauffassung fehlt einer Klage nach § 75 VwGO auf Verbescheidung das Rechtsschutzbedürfnis, wenn sie auf eine gebundene Entscheidung gerichtet ist, der kein Ermessens-, Beurteilungs- oder Bewertungsspielraum innewohnt. Im Asylverfahren sind überwiegend gebundene Entscheidungen zu treffen. Das gilt insbesondere auch im Hinblick auf das Folgeantragsverfahren des Klägers.

Soweit in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten wird, die Besonderheiten des Asylverfahrens führten dazu, dass bei einer Untätigkeit des Bundesamtes im Folgeantragsverfahren keine Spruchreife durch das Gericht herbeizuführen sei (vgl. etwa VG Ansbach, Urt. v. 28.1.2014 - AN 1 K 13.31136 -, juris), folgt die Kammer dem nicht. Denn § 75 VwGO gilt uneingeschränkt auch bei aslyrechtlichen Klagen. Hätte der Asylgesetzgeber eine andere Handhabung wegen der Besonderheiten des Asylverwaltungsverfahrens gewollt, hätte er dies durch entsprechende Regelungen zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren berücksichtigen können.

B. Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling mit dem Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG.

I.

Zunächst ist der Folgeantrag des Klägers gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG zulässig. Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen. Dies ist vorliegend der Fall. Die Sachlage im Heimatland des Klägers hat sich nach Abschluss seines letzten Asylverfahrens durch das Aufkommen des Islamischen Staates und der Übergriffe seiner Milizen in den Jesidengebieten im Nordirak zugunsten des Klägers i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG maßgeblich verändert.

II.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegen vor. Ein Ausländer ist Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 AsylVfG).

Auf Grund des vom Kläger geschilderten und aus den Medien generell bekannten Sachverhaltes ist davon auszugehen, dass die Furcht des Antragstellers begründet ist. Ihm droht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) und auf absehbare Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rückkehr in den Irak eine Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Jesiden durch nicht-staatliche Akteure. Gemäß § 3 c Nr. 1 AsylVfG kann eine Verfolgung, die die Flüchtlingsanerkennung rechtfertigt, auch von einem nichtstaatlichen Akteur, hier dem ISIS, ausgehen, wenn der Staat oder staatsähnliche Strukturen oder internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder Willens sind, Schutz vor Verfolgung zu gewährleisten.

Wie dem Gericht allein schon aus den Medien allgemein bekannt ist, hat die radikalislamische Terrorgruppe ISIS beachtliche Teile des Stammesgebietes der Jesiden im Nordirak besetzt und mit ihrer Terrorherrschaft überzogen, insbesondere Mosul und weite Teile der Provinz Ninive. Hierbei unterliegen einer Verfolgung durch den ISIS vor allem Andersgläubige und Andersdenkende, insbesondere auch Jesiden. Soweit zuletzt durch kurdische Peschmerga Teile des vom ISIS besetzten Gebietes zurückerkämpft wurden, hat dies nicht zu einer Sicherheitslage der Jesiden im Nordirak geführt. Es ist nicht absehbar, wann eine Lageänderung in der Heimat des Klägers eintreten kann, in der Jesiden dort wieder ohne Gefahr einer Verfolgung leben können. Ob es den kurdische Truppen letztlich gelingt, das gesamte vom ISIS beherrschte Gebiet zurückerobern, ist mehr als ungewiss (vgl. auch VG Frankfurt/Main, Urt. v. 3.7.2014 - 4 K 2317/13.F.A. -, VG Köln, Urt. v. 15.8.2014 - 18 K 386/14.A -, VG Hannover, Urt. v. 15.8.2014 - 6 A 9853/14 - sowie VG Gelsenkirchen, Urt. v. 2.9.2014 - 18a K 223/14.A -, alle juris). [...]